Um meinen Laptop herum liegen jede Menge Briefe und Notizbücher, darunter auch der freundliche Brief des Präsidenten von Malawi (wo wir mittlerweile 25 Prozent der Schulkinder ernähren), in dem er mir für unser letztes Treffen und für unsere Arbeit dankt. Ein anderer Brief stammt von jemandem in Haiti, der uns bittet, mit den Mahlzeiten von Mary’s Meals an einigen Schulen dort, die es bitter nötig hätten, zu starten. Und dann dieser anonyme Brief, bei dem ich weinen musste, als ich ihn zum ersten Mal las:
Liebe Mitarbeiter von Mary’s Meals, beiliegend erhalten Sie einen Scheck über 55 Dollar als Beitrag zur Ernährung eines weiteren Kindes. Das Geld stammt von einem Mann in einem Pflegeheim: Er ist an den Rollstuhl gefesselt, rechtsseitig gelähmt und kann nicht sprechen. Er erhält finanzielle Unterstützung von Medicare und Medicaid. Die 55 Dollar sind alles, was er gespart hat. Er hat das Geld aus zwei verschiedenen Verstecken geholt, als er von Mary’s Meals erfuhr. Ich bin sicher, es wird für einen guten Zweck eingesetzt. Gott segne Sie.
Ich hatte nie die Absicht, diese Art von Arbeit zu tun, und sicher war ich nie erpicht darauf, eine Organisation zu gründen. Als Leiter einer solchen Mission bin ich denkbar ungeeignet. Alles ist ohne mein willentliches Zutun geschehen, durch eine Reihe unerwarteter Ereignisse und Begegnungen und durch freundliche Aufforderungen, auf die Menschen überall mit außerordentlicher Liebe und Ergebenheit reagierten. Die Begegnung mit Edward war entscheidend dafür, dass wir uns ganz auf die Arbeit konzentrierten, die wir heute tun. Andererseits aber war sie lediglich ein Ereignis in einer Kette von Ereignissen, die zu dem Zeitpunkt, als er jene Worte zu mir sprach, bereits zwanzig Jahre zurückreichte. Sie begann sich zu bilden, als ich erst 15 Jahre alt war, in einem entlegenen Dorf mitten in den jugoslawischen Bergen, wo ich einer anderen liebenden Mutter begegnete, die sich um ihre Kinder sorgt.
I.
Fahrstunden in einem Kriegsgebiet
Sei demütig, denn du bist aus Dung gemacht. Sei edel, denn du bist aus Sternen gemacht.
(Serbisches Sprichwort)
Wir wussten, dass die Männer, die von den Bergspitzen über der Stadt den Tod über die Menschen brachten, normalerweise morgens ihren Kater ausschliefen. Deshalb brachen wir früh auf – dann würden wir es schaffen, nach Mostar hinein und auch wieder heraus zu kommen, bevor die schweren Waffen ihr erbarmungsloses Werk wieder aufnehmen und die Häuser, Kirchen, Moscheen, Fahrzeuge und Menschen der Stadt in Stücke reißen würden. Auf den Beifahrersitzen neben mir quetschten sich während dieses letzten Abschnitts unserer Viertagereise von Schottland Pater Eddie, ein untersetzter Priester mittleren Alters, und Julie, eine große, schöne junge Krankenschwester. In den letzten Tagen waren wir drei gute Freunde geworden. Vor zwei Nächten hatten wir auf unserem Parkplatz neben einer Tankstelle in Slowenien bis weit in die Nacht hinein geredet. Pater Eddie überraschte und verstörte uns auch ein wenig, als er erklärte, er habe, bevor er von Schottland aufbrach, das Gefühl gehabt, er werde womöglich nicht zurückkehren, weshalb er praktisch seinen gesamten weltlichen Besitz an die Angehörigen seiner Gemeinde verschenkt hatte. Später berichtete Julie, sie sei wenige Monate zuvor mitten in der Nacht mit dem deutlichen Gefühl aufgewacht, Gott verlange von ihr, ihren Job aufzugeben, um den Menschen in Bosnien-Herzegowina zu helfen. Ihre Geschichte bewegte mich – es kam darin Julies tiefer Glaube zum Ausdruck, außerdem ähnelte das, was sie erzählte, in manchem meiner eigenen Geschichte. Ich schämte mich jetzt ein bisschen, denn als sie mich das erste Mal angerufen und wegen einer Mitfahrgelegenheit nach Bosnien-Herzegowina gefragt hatte, war ich von der Vorstellung überhaupt nicht begeistert gewesen. Mittlerweile jedoch war ich sehr froh, dass sie es geschafft hatte, mich umzustimmen.
Während wir durch die karge bosnische Landschaft mit ihren schartigen Felsen und dem Dornengebüsch fuhren, beteten wir einen Rosenkranz zusammen; dem schloss sich eine nervöse Unterhaltung an, während ich mich auf die enge, gewundene Straße konzentrierte. Bald kamen wir an den Überresten menschlicher Behausungen vorbei. Einige waren nur noch Schutthaufen, andere, die noch standen, hatten sich in ausgebrannte, mit Einschüssen übersäte Ruinen verwandelt. Wir sprachen jetzt nicht mehr. Die Straße begann, sich den Berg hinunterzuwinden, und vor uns tauchte Mostar auf. Die Stadt erstreckt sich entlang der Neretva, dem berühmten Fluss, von dem es häufig heißt, er bilde die Trennlinie zwischen der östlichen und der westlichen Kultur, und der nun die Grenze zwischen den serbischen Streitkräften und dem kroatischen und muslimischen Territorium markierte, durch das wir fuhren. Man konnte jetzt die Minarette der Moscheen im alten osmanischen Viertel sehen, und ich musste kurz an meinen ersten Besuch in dieser Stadt zurückdenken, vor vielen Jahren, als wir durch die kleinen Straßenstände am Flussufer geschlendert waren und jungen Männern zugeschaut hatten, die ihre Tapferkeit bewiesen, indem sie von der berühmten Stari-Most-Brücke herunter ihre tollkühnen Sprünge in die tosenden grünen Fluten vollführten.
Bei der Fahrt in die Stadt hinunter wurden wir an einem Kontrollpunkt angehalten, der mit einigen HVO-Soldaten (Männern der bosnisch-kroatischen Armee) besetzt war. Ein dünner Mann mit einem Maschinengewehr über der Schulter und einer Zigarette im Mund kam zu meinem offenen Fenster und starrte uns mürrisch an. Sein nach Brandy riechender Atem wehte in die Fahrerkabine. Ohne auch nur den Hauch eines Lächelns streckte er seine Hand aus, und wir gaben ihm unsere Pässe und die Zollpapiere für das medizinische Gerät hinten in unserem Lastwagen. Die Ablieferung dieser Gerätschaften war der Grund für unsere Reise, und jetzt, in ungefähr einem Kilometer Entfernung, konnten wir an den Hängen der Stadt unter uns auch schon Mostars Kreiskrankenhaus sehen, unser eigentliches Ziel. Man konnte es unschwer erkennen, und wir staunten über das moderne, glänzende Gebäude, das sich turmhoch über den benachbarten Häusern erhob. Selbst auf diese Entfernung erkannten wir, dass eine Granate ein riesiges, hässliches Loch in eine Seite gerissen hatte.
Der Soldat winkte uns durch, und wir fuhren vorsichtig durch Straßen voller verbogenem Metall, Glasscherben, Trümmerhaufen, ausgebrannten Autos, aufgerissenem Asphalt und hasserfüllten Graffiti. Schließlich erreichten wir das Klinikgelände. Vor dem Krankenhaus waren mehrere Kühllaster mit laufenden Motoren geparkt – Behelfs-Leichenhallen in einer Stadt, die schon lange nicht mehr genug Platz für ihre Toten hatte.
Unter dem Vordach des Haupteingangs hatten drei Leute vom Klinikpersonal in weißen Overalls unsere Ankunft bemerkt und winkten. Jetzt verließ mich meine Angst und machte einem euphorischen Gefühl Platz. Ich setzte dazu an, mir innerlich zu einer Aufgabe zu gratulieren, die ich gut bewältigt hatte, und stellte fest, dass ich mich fragte, ob Julie wohl beeindruckt war. Doch da merkte ich – einen Tick zu spät –, dass das Winken der Leute, die uns begrüßten, sich in dringliche Stopp-Signale verwandelt hatte und ihr Lächeln in Schreckensmienen. Mein Herz klopfte wie verrückt, als ich auf die Bremse stieg – und ein knirschendes Geräusch über meinem Kopf hörte. Das Willkommenskomitee vor uns krümmte sich jetzt vor Lachen, und nun erst kapierte ich, was passiert war: Gerade hatte ihr Krankenhaus einen weiteren Volltreffer abbekommen, diesmal von einem kleinen, verbeulten Lastwagen aus Schottland, dessen dilettantischer Fahrer die Höhe des Vordachs über dem Eingang falsch eingeschätzt hatte, und statt dass er darunter parkte, war er direkt hineingerauscht! Eine schnelle Untersuchung ergab, dass ich in die obere Ecke der Verladebox ein Loch gerissen hatte, wohingegen der Schaden am Vordach des Krankenhauses praktisch neben dem, was dem Rest des