Eine Schale Getreide verändert die Welt. Magnus MacFarlane-Barrow. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Magnus MacFarlane-Barrow
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783702236076
Скачать книгу
die sich in den Wäldern versteckt hatten, aufforderten, sich zu ergeben und zur Straße zu kommen. Keinem werde etwas angetan. Sie kamen dann massenhaft heraus, schwenkten behelfsmäßige weiße Fahnen und sammelten sich an der Straße. Granaten gingen auf ihnen nieder und töteten und verstümmelten Hunderte. Als der Beschuss vorüber war, stellten die serbischen Soldaten die Überlebenden in einer Reihe auf und holten sämtliche Männer in kampffähigem Alter heraus. Viele, die als Anführer oder wichtige Mitglieder ihrer Gemeinde identifizierbar waren, wurden erschossen, oder man schnitt ihnen am Rand der Straße die Kehle durch. Einige der Frauen, die diese Geschichten erzählten, hatten gesehen, wie ihre Männer, Väter und Söhne auf diese Weise umgebracht worden waren. Alle übrigen Männer wurden in neu errichtete Konzentrationslager verschleppt.

      Die Frauen, die in ihren überfüllten Hütten kauerten, erzählten uns ihre Geschichten, weil sie davon überzeugt waren, dass keiner draußen in der Welt wusste oder verstand, was hier eigentlich passierte. Und sie bestanden darauf, etwas von den Lebensmitteln, die wir ihnen mitgebracht hatten, mit uns zu teilen, und fragten außerdem, ob es in Ordnung wäre, wenn sie ein Viertel der Geschenke zur Seite legten: Sie wollten sie zu den Flüchtlingen schmuggeln, die sich noch im Norden von Bosnien-Herzegowina versteckten und sicher noch hungriger waren als sie selbst.

      Ich kam von solchen Begegnungen immer mit sehr gemischten Gefühlen zurück. Jede dieser Schreckensgeschichten ließ meine Empörung, meine Wut auf „diese barbarischen Tschetniks“ wachsen. Es fiel mir sehr schwer, in diesem Krieg, in dem ich ja eigentlich zu keiner Partei gehörte, unparteiisch zu bleiben oder nicht aus dem Blick zu verlieren, dass ich nur eine Seite dieser tragischen Geschichte zu hören bekam. Ich war auch immer wieder zutiefst bewegt von der Freundlichkeit und der geistigen Stärke derer, die mir diese Geschichten erzählten. Und das Problem der Vergebung wurde mir in einer Schärfe bewusst, wie ich sie noch nie zuvor in meinem Leben empfunden hatte. Wenn ich schon anfing, Wut und Vorurteile gegen die Serben zu entwickeln, die solche Verbrechen verübten, wie konnte ich als Christ erwarten, dass diejenigen zu Vergebung fähig und bereit waren, die so viel Bosheit selbst hatten erdulden müssen? Wie war das möglich? Wie konnte hier je wieder echter Friede entstehen?

      Manchmal fuhren wir auf nicht beschilderten Wegen (die alte Autobahn war zerstört) in die Stadt Slavonski Brod. Sie lag am Ufer der Sava, dem Fluss, der Kroatien und Bosnien-Herzegowina voneinander trennt. Von der anderen Seite des träge dahinfließenden Gewässers wurde die Stadt ständig unter Beschuss genommen. Die Brücke lag zertrümmert im Fluss, und in sämtlichen Gebäuden in unmittelbarer Nähe des Ufers waren Fenster und Türen mit Brettern verbarrikadiert. Wir entluden unsere Lebensmittel, indem wir sie an die Menschen austeilten, die in einer langen Warteschlange standen; wir hatten sie aufgefordert, sich mit einer leeren Plastiktüte anzustellen (eine praktische Regel, die wir uns zur Rationierung der Portionen ausgedacht hatten). Als alles verteilt war, wurde uns Unterkunft in einem kleinen Haus auf einem Hügel oberhalb der Stadt angeboten. Es wurde damals von einem älteren Ehepaar bewohnt, Flüchtlingen aus dem Norden von Bosnien-Herzegowina.

      Beim Abendessen herrschte verlegenes Schweigen, weil alle Versuche, sich zu verständigen, gescheitert waren (ihr Englisch war noch schlechter als unser Serbokroatisch). Später saßen dann unser Gastgeber Mladen und ich draußen und tranken Sliwowitz, und nach einigen Gläsern stellten wir fest, dass die Verständigung zunehmend besser klappte. Mladen erklärte mir, sein Haus liege auf der Ebene, die wir auf der anderen Seite des Flusses sehen konnten. Jetzt war das Gebiet von Serben besetzt. Er hatte ein kleines Grundstück und ein paar Pflaumenbäume besessen; der Sliwowitz, den wir tranken, war noch aus eigenen Pflaumen hergestellt. Bevor er und seine Frau flohen – alle Habseligkeiten, die sie mitnehmen konnten (auch der Sliwowitz), waren schon gepackt –, nahm Mladen seine Axt und fällte seine geliebten Pflaumenbäume. Jetzt lebten vielleicht Serben in seinem Haus, aber an seine Pflaumen kamen sie nicht mehr dran. Und er lachte laut und bitter auf, als er das sagte – er wollte mich und vielleicht ja auch sich selbst davon überzeugen, dass das eine Geschichte zum Lachen war und nicht eine, die nur so glühte vor Hass.

      Allmählich begannen mir die Begriffe „Flüchtlinge“ oder „Vertriebene“ unheimlich zu werden. Natürlich sind es schlicht notwendige, nützliche Mittel, um präzise die Menschen zu beschreiben, die aus ihrer Heimat und ihren Häusern hatten fliehen müssen. Allerdings merkte ich, dass diese Wörter, bevor ich die Menschen wirklich traf und kennenlernte, die mit ihnen bezeichnet wurden, in meinem Kopf ungenaue, um nicht zu sagen falsche Stereotype hatten entstehen lassen.

      In einem anderen Lager in Zagreb erfuhr ich im Lauf einer Unterhaltung mit einem liebenswürdigen, eloquenten Mann mittleren Alters, dass er früher Chef einer Frachtgesellschaft mit einem stattlichen LKW-Fuhrpark gewesen war. Dass zum damaligen Zeitpunkt zufällig ich derjenige war, der einen Lastwagen fuhr und ihm half, obwohl ich weniger gut ausgebildet war, wesentlich weniger Lebenserfahrung hatte und sehr viel weniger Wissen, wie man den Transport von Gütern mit LKWs organisiert – dieser Umstand lieferte mir ganz sicher nicht den geringsten Grund, mich ihm auch nur im Geringsten überlegen zu fühlen. Zwar war es nicht ganz leicht, mir das einzugestehen, aber ich hatte mich dabei ertappt, wie ich in diesen Kategorien dachte: Ich der Geber; dieser Fremde der Empfänger. Ich habe Macht; er hat keine. Allmählich dämmerte mir, dass diese Art von Arbeit sehr gefährlich war.

      In der Zwischenzeit hatte Marijo sich eine neue Methode ausgedacht, wie man unsere Kleiderspenden an bedürftige Menschen weitergeben konnte. Ihm war klar geworden, dass für viele das größte Problem in ihrer Situation darin bestand, dass sie plötzlich von Unterstützung abhängig waren. Um ihre Würde zu respektieren, mietete er eine große Halle und legte die Kleidungsstücke auf langen Tischen aus. Dann veröffentlichte er einen Aufruf, dass die Leute kommen und auswählen sollten, was sie wollten, „um notleidenden Bekannten helfen zu können“. Auf diese Art konnte er die Leute dazu bewegen, zu kommen und die Kleider auszuwählen, die sie brauchten, ohne dass sie sich öffentlich gedemütigt fühlen mussten.

      Und so ging es dann weiter – eine LKW-Ladung nach der anderen, angefüllt mit einer noch immer wachsenden Flut von Gaben aus Schottland. Julie hatte zu meiner großen Freude beschlossen, mir tatsächlich auch weiterhin zu helfen. Sie war jetzt auf den meisten Fahrten meine Beifahrerin. Als der Umfang an Hilfsgütern weiter anstieg, wurde uns klar, dass der Einsatz eines kleinen Lastwagens für den Transport großer Mengen an Waren über lange Strecken nicht die kostengünstigste Lösung war. Wir brauchten etwas Größeres. Um richtig große LKWs zu fahren, mussten wir den Führerschein für Schwerlastwagen machen, weshalb wir im November 1993 bei Julies Familie in Inverness unterkamen (die schon bevor ich Julie kennengelernt hatte zu den engagiertesten Unterstützern unserer Arbeit gehört hatten) und anfingen, den nötigen Fahrunterricht zu nehmen.

      Es machte mir schwer zu schaffen, dass sich nach einigen gemeinsamen Fahrstunden ziemlich deutlich abzeichnete, dass Julie sehr viel besser im Umgang mit Sattelschleppern war als ich. Schon nach der ersten „Lektion“ mit Julie am Steuer hatte der Fahrlehrer sie in ungläubigem Ton gefragt: „Sie nehmen mich doch auf den Arm, oder? Sie sind doch keine Anfängerin, Sie haben früher schon solche Dinger gefahren, stimmt’s?“ Mir versetzte das einen ziemlichen Stich, und ich kletterte auf den Fahrersitz, denn jetzt war ich dran.

      „Sie werden wohl etwas mehr Training brauchen“, bemerkte unser Lehrer am Ende meiner Fahrt taktvoll, „vor allem im Kreisverkehr.“

      Das war sehr nett von ihm, vor allem im Hinblick auf die drastischen Maßnahmen, die mindestens ein Autofahrer ergreifen musste, um von meinem Anhänger nicht plattgemacht zu werden. Davor war mir nicht bewusst gewesen, woran man alles denken muss, wenn man ein 16 Meter langes Fahrzeug steuert, das sich krümmt, wenn man eine Kurve fährt. Bei dem freundlichen Kommentar des Fahrlehrers bildete sich in meinem Magen ein kleiner Knoten, der sich in den nächsten Wochen zunehmend in Richtung Panik entwickelte. Meine Angst rührte gar nicht einmal so sehr daher, dass ich mir vorstellte, wie ich einen Kreisverkehrs-Mitbenutzer zermalmte oder eine Tankstelle mit einem ungeschickten Ausscheren meines enormen Hinterteils demolierte. Es war eher die Perspektive, meinen Freunden in Dalmally berichten zu müssen, dass Julie die Prüfung bestanden hatte und ich nicht. Das würde sie auf Jahre hinaus mit Material für Witze auf meine Kosten versorgen.

      Und so kam es dann auch: Julie bestand die Prüfung mit Glanz und Gloria,