Ruth hatte mittlerweile einen Artikel über unsere Reise geschrieben, der im Catholic Herald publiziert wurde. Am Ende des Artikels gab die Redaktion unsere Adresse an, und wir bekamen viele Briefe, in denen wir um weitere Informationen gebeten wurden. Über tausend Briefe trudelten in den nächsten Wochen bei uns ein, und während wir zurück an die Universität und zur Schule gingen, verfassten Mum und Dad auf jeden Brief handschriftlich eine Antwort. Ein Brief kam von einer Frau namens Gay Russell in Malawi. Sie schrieb, sie sei eine Pilotin, die mit einem kleinen Flugzeug in Südafrika unterwegs sei, und bat um weitere Informationen. Mum schrieb ihr einen Brief. Von all den Briefen war das derjenige, an den wir uns am deutlichsten erinnerten, obwohl wir dann nicht wieder von ihr hörten. Das Bild von einer Frau, die kreuz und quer durch Südafrika fliegt und jedem von Medjugorje erzählt, wurde zu einem Familienwitz. Wir konnten damals nicht wissen, dass wir zwanzig Jahre später unter ganz anderen Umständen Gay tatsächlich in ihrer afrikanischen Heimat treffen würden, und dass sich aufgrund dieses Treffens etwas ganz Außerordentliches ereignen sollte.
Zwei Monate später, nachdem alle Antworten geschrieben waren, besuchten auch Mum und Dad Medjugorje. Sie machten dort ähnliche Erfahrungen wie wir. Als sie zurückkehrten, waren sie ebenfalls davon überzeugt, dass Maria, die Mutter Jesu, tatsächlich in unserer Gegenwart auf der Erde erschien, mit einer Botschaft für die Menschen. Sie spürten, dass Gott sie bat, unser Haus und das Gästehaus in ein „Gebetshaus“ umzuwandeln, einen Ort, wohin Menschen sich zurückziehen und Zeit mit Gott verbringen konnten. Sie fingen an, gewisse Zeiten für normale zahlende Gäste zu blockieren (die meisten waren bisher gekommen, um zu fischen und zu jagen) und Einkehrtage zu organisieren. Unser größter Raum wurde bald zur Kapelle, der Billardtisch wurde durch einen Altar ersetzt und wenige Monate später war aus dem Gästehaus Craig Lodge das Familien-Gebetshaus Craig Lodge geworden. Viele Besucher kamen für einen oder zwei Tage, andere blieben länger. Bald war eine kleine Gemeinschaft entstanden, die Krizevac-Gemeinschaft, benannt nach dem Kreuzberg in Medjugorje. Sie bestand aus jungen Leuten, die kamen, um mit uns zu leben, die eine gewisse Zeit dafür verwenden wollten, um ihr geistiges Leben zu vertiefen und herauszufinden, wozu sie berufen waren, oder die vielleicht auch einfach nur einen Zufluchtsort brauchten, um sich von dem zu erholen, was ihnen das Leben bislang zugemutet hatte.
Nun verwandelte sich also unser idyllisches Landhaus in einen wahren Bienenstock. Seit ich denken kann, habe ich in einem Gästehaus, in einem Hotel gelebt, und ich war daran gewöhnt, dass daheim immer auch fremde Menschen waren. Es war auch nicht das erste Mal, dass Mum und Dad eine Entscheidung fällten, die das Leben der Familie grundlegend veränderte. Zwei Jahre davor hatten wir Mark in die Familie aufgenommen, einen siebenjährigen Jungen mit einer fürchterlichen Hautkrankheit, der in einem Krankenhaus in Glasgow ausgesetzt worden war. Ich war damals zwölf, und es war neu und unangenehm für mich, nicht mehr länger das „Nesthäkchen“ zu sein. Plötzlich hatten wir einen kleinen Jungen mit gravierenden Verhaltensproblemen in unserer Mitte, der zu ungeheuerlichen Wutanfällen neigte. Wir lernten von diesem Stadtkind schnell eine ganze Bandbreite von Flüchen und diverse Methoden, Leute zu beleidigen. Aber bald wurde Mark unser heiß geliebter kleiner Bruder, und es dauerte nicht lang, bis wir ihn adoptierten. Er wurde nicht nur zu einem ständigen Mitglied unserer Familie, sondern auch für uns alle zu einem unglaublichen Segen.
Mums und Dads aktuelle Entscheidung, ihre Türen zu öffnen, hatte nun allerdings eine neue Art von Invasion in unseren Familienkreis zur Folge; eine angenehme, freundliche Invasion, die ich trotzdem nicht immer leicht fand. Unaufhörlich strömten Besucher ins Haus, und die Grenzen um den privaten Familienraum herum wurden manchmal ziemlich undeutlich. Mein soziales Leben spielte sich hauptsächlich mit Freunden ab, mit denen ich im Dorf Dalmally aufgewachsen war. Als Teenager verbrachte ich die meiste Zeit außerhalb von Craig Lodge, entweder beim Sport oder im Dorf-Pub. In dieser Gesellschaft sprach ich praktisch nie von meinem Glauben, vom Einkehrhaus oder von meinen Erfahrungen in Medjugorje. Es fühlte sich fast so an, als würde ich beginnen, zwei voneinander getrennte Leben zu führen. Ich verlor nie meinen Glauben und betete immer noch jeden Tag, aber außer meiner Familie gab es niemanden, mit dem ich darüber reden konnte.
Mein engster Gefährte war mein Bruder Fergus. Wir gehörten beide zu einer eng verbundenen Gruppe von Freunden, die zusammen im Dorf aufgewachsen waren. Bereits in frühester Jugend waren wir alle fanatische Shinty-Spieler (Shinty ist ein für die schottischen Highlands typischer Sport, der eigentlich zu Unrecht den Ruf hat, brutal zu sein), und die meisten Samstage waren wir für unser Dorf-Team Glenorchy unterwegs. Shinty ist eng verwandt mit dem irischen Spiel Hurling und wird von denen, die es zum ersten Mal miterleben, gern als Feldhockey ohne Regeln bezeichnet. Aber Shinty war meine absolute Leidenschaft. Ich liebte sowohl das Spiel selbst als auch die Tatsache, dass fast alle meine Mannschaftskameraden Jungen waren, mit denen ich aufgewachsen war. Wir hatten in der Grundschule einmal den Scottish Cup gewonnen und waren seither eine eingeschworene Gemeinschaft. Unser früher Ruhm hatte uns glauben lassen, dass wir eines Tages Landesmeister werden könnten, was unser Dorf bislang noch nie geschafft hatte. Doch als die Jahre vergingen, ließ unser Erfolg nach. Wahrscheinlich lag das vor allem daran, dass wir mehr Zeit im Pub verbrachten als beim Training auf dem Shinty-Feld.
Nach dem Spiel saßen wir die meisten Samstagabende in unserem Dorf-Pub, oder wir fuhren in eine der umliegenden Ortschaften zu einem Ceilidh (einer Veranstaltung, bei der schottische Tänze getanzt werden) oder einer Party. Sonntagmorgens schafften es Fergus und ich häufig nicht, rechtzeitig zum Gottesdienst bei uns im Dorf aufzustehen, sodass wir die Sonntagnachmittage häufig im Auto unterwegs waren, um eine Abendmesse zu finden, da es in unserer Nähe keine gab. Verpasst haben wir den Sonntagsgottesdienst nie, aber meistens nahmen wir mit Kopfweh und trockener Kehle daran teil. Oft redeten wir miteinander über unseren Glauben und beteten zusammen – wir hatten das schon seit meiner frühesten Kindheit getan, als wir noch ein gemeinsames Kinderzimmer hatten –, aber mit unseren anderen Freunden sprachen wir über diesen Teil unseres Lebens nie, obwohl sie uns so nahestanden.
Es wurde immer schwieriger, dieses Doppelleben zu führen, und mich machte das immer unglücklicher. Dabei habe ich meinen Glauben oder meinen tiefen Respekt vor meinen Eltern und ihren Entscheidungen nie verloren. Ich konnte sehen, dass das, was sie taten, etwas sehr Schönes war, etwas, das das Leben vieler Menschen veränderte. Unter weltlichen oder wirtschaftlichen Gesichtspunkten waren ihre Entscheidungen sinnlos; wer zu uns kam, war eingeladen, einen Betrag zur Deckung der Kosten zu spenden, aber nie wurden Menschen weggeschickt, die nichts geben konnten. Um finanziell über die Runden zu kommen, verkauften sie irgendwann die Lachsfischerei, die ihnen am Orchy gehörte, und hießen weiterhin jeden mit einem Lächeln willkommen. Mums hausgemachte Suppe wurde weit und breit berühmt, und noch mehr Dads „Bären-Umarmungen“.
Mittlerweile immatrikulierte ich mich an der Stirling University für ein Geschichtsstudium, obwohl ich eigentlich Argyll gar nicht verlassen wollte. Einen Großteil meiner Kindheit und Jugend hatte ich mit Jagen und Arbeiten im Freien verbracht, ich hatte auch nie das Bedürfnis verspürt, in eine Stadt umzuziehen, und genauere Karrierepläne hatte ich sowieso nicht. Außerdem blieben meine besten Freunde alle in Dalmally und fanden dort Jobs. Aber ich hatte einen guten Schulabschluss, und weil man es offenbar von mir erwartete, bewarb ich mich eben an der Universität. Geschichte war mein Lieblingsfach gewesen, also beschloss ich, Geschichte zu studieren.
Aber ich hielt es in Stirling nicht lange aus. Es stellte sich heraus, dass meine Schüchternheit, mit der ich bisher ganz gut hatte leben können, indem ich immer in Gesellschaft meiner engen Freunde blieb, in dieser neuen Umgebung zu einem argen Hindernis wurde. Ich konnte mit den anderen Studenten einfach nicht reden, ganz zu schweigen davon, dass ich mich mit ihnen angefreundet hätte. So trampte ich jedes Wochenende nach Hause, um meine Freunde zu treffen und Shinty zu spielen. Mit meinen geliebten Glenorchy-Streifen und dem Shinty-Stock in den Händen wurde ich für neunzig Minuten wieder glücklich und selbstbewusst. „Klasse gespielt, großer Mann!“, riefen die älteren Männer, die von der Seitenlinie aus zuschauten, wenn ich einen Zweikampf gewann oder den Ball über das Feld schlug (glücklicherweise hatten Mannschaftskameraden wie Foxy, Heekor und Pele fantasievollere Spitznamen bekommen). Dann fuhr ich zurück zum Universitätscampus und verkroch mich in meinem Zimmer.
Nach sechs Monaten brach ich