Handover. Alexander Nadler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alexander Nadler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741848018
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ersten der drei einen Packen säurefreier Spezialklarsichthüllen, in denen ordentlich sortiert Fotoabzüge stecken, einschließlich der jeweils dazugehörenden Negative. Seine Tasse zur Seite schiebend, breitet er sie vor sich auf dem Tisch aus, und zwar so, dass sie Thorwald, der schräg über Eck in einem der anderen Sessel Platz genommen hat, gleichfalls unter die Lupe nehmen kann. Rastlos, haltlos schweifen beider Blicke über die geheimnisumwitterten Fotos, jedoch ohne jedwedes greifbares Ergebnis.

      „Sagen sie dir irgendetwas?“, forscht Claude bei seinem Freund nach, der ihm allerdings nur mit einem negierenden Kopfschütteln antworten kann. „Dann lass uns einmal in den zweiten Umschlag schauen“, versucht Claude ihm und sich Mut zu machen. Auch dieser enthält mehrere Dutzend Klarsichthüllen mit Aufnahmen, auf denen viele unterschiedliche, ihnen unbekannte Personen zu erkennen sind. Manche davon tauchen zwar immer wieder auf, meist allerdings mit verschiedenen Partnern oder Partnerinnen. Ein Hinweis darauf, wer diese sind und wo die Aufnahmen gemacht wurden, findet sich jedoch nicht. Als auch der Inhalt des letzten Umschlages ihnen beim ersten flüchtigen Überfliegen keine Anhaltspunkte liefert, beschließen sie, die Bilder noch einmal sorgfältig, Aufnahme für Aufnahme durchzugehen. Um eventuell wichtige Details oder Personen auf den 20 mal 30 Zentimeter großen Abzügen besser erkennen zu können, holt Thorwald ein Vergrößerungsglas.

      Je länger und öfter sie die Aufnahmen in Augenschein nehmen, kristallisieren sich immer deutlicher einige Hauptakteure heraus, rund ein Dutzend Personen, die praktisch auf jedem der Fotos zu erkennen sind, zumindest eine von ihnen, manchmal auch mehrere, auf vier Aufnahmen sogar alle zusammen. Darunter befinden sich auch eine Frau und zwei Asiaten, allem Anschein nach Chinesen oder Vietnamesen. Bei den auf etlichen Aufnahmen auftauchenden Damen lässt sich nicht erkennen, in welcher Beziehung sie zu den darauf zu erkennenden Männern stehen, ob überhaupt eine besteht, doch fällt auf, dass auf diesen Bildern relativ häufig Pärchen auftauchen, wobei die dabei gezeigten Damen vielfach ganz offensichtlich asiatischen Ursprungs zu sein scheinen. Da es sich bei den Fotos fast ausnahmslos um Innenaufnahmen handelt, sehen sich Claude und sein Mit-Begutachter außerstande, ihnen bekannte Lokalitäten auszumachen, einige im Hintergrund beziehungsweise an den Randpartien zu erkennende, sich voneinander unterscheidende Details geben indes Anlass zu der Vermutung, dass die Bilder an verschiedenen Orten entstanden, und zwar großen- oder sogar größtenteils in Bars oder Nachtklubs, einige wenige aber auch in Restaurants oder Hotels. Aus der unter dem Vergrößerungsglas klar zu erkennenden groben Körnung zieht Claude die Schlussfolgerung, dass sein Bruder mit für ihn ungewöhnlich hochempfindlichem Schwarz-Weiß-Material gearbeitet haben muss, wofür auch die Ausleuchtung spricht, denn auf keiner einzigen der Aufnahmen ist der Einsatz von Blitzlicht oder einer anderen künstlichen Beleuchtungsquelle zu erkennen. Die feststellbare Grobkörnigkeit und die Tatsache, dass die Bilder unter Available-Light-Bedingungen entstanden, lassen Claude zu dem Ergebnis kommen, dass Philipp bei der Erstellung des vor ihm liegenden Bildmaterials mit reichlich miesen Lichtverhältnissen zu kämpfen gehabt haben muss und seine fotografische Aktivität wahrscheinlich möglichst unerkannt bleiben sollte.

      „Das Ganze sieht mir irgendwie nach Unterwelt- oder Rotlichtmilieu aus“, resümiert Claude seine Analysen zu Thorwald gewandt, „nur ist mir nicht ganz klar, was Philipp da gesucht hat und wer all die Personen auf den Fotos sind. Soviel ich weiß, hat sich mein Bruder sonst nie in derlei Etablissements aufgehalten. Schade, dass er nichts dazu geschrieben hat, dann ließe sich vielleicht erkennen, worin die Brisanz dieser Bilder besteht, denn offen gesagt, so sehen sie für mich recht harmlos aus.“

      „Stimmt, so recht schlau werde ich auch nicht daraus. Und Philipp hat dir gegenüber bei seinem letzten Telefonat nicht irgendeine Andeutung gemacht?“

      „Nein, er hat mir ja noch nicht einmal gesagt, dass er dieses Material an dich geschickt hat. Nur dass er in irgendetwas hineingeraten sei, wodurch er sich bedroht fühlte, aber offensichtlich nicht so sehr, dass er um sein Leben fürchtete, denn sonst hätte er mir sicherlich mehr mitgeteilt.“ Sind diese Aufnahmen, die sich über den großen Couchtisch, auf der Couch und dem dritten Sessel ausbreiten, tatsächlich der Grund für Philipps Tod, oder haben sie mit dem Mord gar nichts zu tun? Alles ist so widersprüchlich, dem Ganzen fehlt die Logik, die Sorgfalt, die Claude von seinem Bruder gewohnt ist. Dass er den Bildern keinen Kommentar beigelegt, sie nicht einmal beschriftet hat, aus alle dem vermag er nur den Schluss zu ziehen, dass der Ermordete sie überstürzt zusammengestellt und abgeschickt hat, trotz der in dem mitgeschickten Schreiben auch auf seine Person Bezug nehmenden Äußerung davon ausgehend, nur er selber werde das Material weiter verwenden.

      „Es wäre enorm wichtig zu wissen, wo die Aufnahmen gemacht wurden. Nur so können wir eventuell herausfinden, um wen es sich bei den Abgebildeten handelt und warum das Material Philipps Ansicht nach so wichtig ist.“

      „Wie wäre es, wenn du in Frankfurt zur Polizei gehst? Alt scheinen die Aufnahmen ja nicht zu sein, sonst hätte dich Philipp schon früher informiert, und wie du selbst erwähnt hast, hat dein Bruder in letzter Zeit fast ausschließlich in und um Frankfurt gearbeitet. Also durchaus möglich, dass die Aufnahmen in Frankfurt gemacht wurden, entsprechende Etablissements...“, Thorwald zeigt auf eine Reihe von Bildern, die aller Wahrscheinlichkeit nach im Rotlichtmilieu gemacht wurden, „...gibt es dort ja genug. Möglicherweise erkennt man bei der Polizei die eine oder andere Person auf den Bildern. Etwas Besseres fällt mir im Moment leider nicht ein.“

      „Einen Versuch ist es zumindest wert.“ Claude überlegt, ob er den Kriminalbeamten bei der Vorlage der Fotos reinen Wein einschenken, ihnen alles im Zusammenhang damit Stehende erzählen soll. Da ihm gegenwärtig nichts sehnlicher am Herzen liegt als die Aufklärung des Mordes, wird ihm gar nichts anderes übrig bleiben. Doch schon in diesem Augenblick fasst er den Entschluss, den Beamten notfalls nur Abzüge auszuhändigen, die Originale hingegen keinesfalls aus den Händen zu geben. „Ich gehe morgen ... halt nein, morgen ist ja Samstag … also dann eben am Montag aufs Präsidium, mal sehen, ob die mir dort Auskunft geben können beziehungsweise ich ihnen damit weiterhelfen kann.“

      Erfreut darüber, dass das bevorstehende Wochenende eine sofortige Abreise Claudes nicht erforderlich macht, lädt ihn der Geistliche ein: „Dann kannst du das Wochenende bei mir bleiben. Das wird dir guttun, außerdem können wir uns schon einmal Gedanken über die Beisetzung machen. Und vielleicht fällt uns ja doch noch etwas zu den Bildern ein.“

      Claude zögert nicht lange, leistet der Einladung gerne Folge, beharrt allerdings darauf, bereits am Sonntagvormittag abreisen zu wollen, um am nächsten Morgen gleich den Hauptkommissar aufsuchen zu können, wie er vorgibt, insgeheim jedoch mit dem Hintergedanken, nach seiner Rückkehr nach Frankfurt zunächst einmal neue Abzüge der Aufnahmen anzufertigen.

      „Ich weiß schon, du willst erst noch Abzüge anfertigen, ehe du zur Polizei gehst“, hat Thorwald ihn durchschaut, womit er Claude ein weiteres Mal beweist, wie genau er ihn kennt, er ihm nichts zu verheimlichen imstande ist. „Stimmt's?“

      Claudes breites Lächeln ist an und für sich Antwort genug: „Ja. Es ist schlimm mit dir“, foppt er ihn, „für dich bin ich der reinste gläserne Kasten.“ ‚Einen solchen Freund bräuchte jeder Mensch’, geht es ihm durch den Kopf. „Weißt du was, ich habe Hunger bekommen. Hast du zufällig von dem phantastischen Landschinken im Haus?“

      „Aber sicher, extra heute für dich besorgt!“ Während Claude die ausgebreiteten Fotos zusammenschiebt und in die Kuverts zurücksteckt, trägt der Hausherr das Kaffeegeschirr in die Küche, in die ihm sein Gast sodann folgt, den würzigen Geschmack des über offenem Feuer geräucherten Bauernschinkens auf der Zunge, mit dem Thorwald seinen Bruder und ihn in all den Jahren bei jedem ihrer Besuche kulinarisch zu verwöhnen wusste.

      Sonntag, 20. April 1997, 20:15 Uhr

      Später als gewollt ist es geworden, doch Thorwald bestand darauf, dass Claude vor seiner Abfahrt noch in aller Gemütlichkeit mit ihm zu Mittag essen müsse. Und da die nachmittägliche Verbindung nicht die allerbeste war, kehrt er erst jetzt in Philipps Wohnung zurück, die ihn mit der gleichen - da schicksalsbehafteten - abweisenden Trostlosigkeit empfängt, wie er sie bei seinen