Handover. Alexander Nadler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alexander Nadler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741848018
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die Nachbarn den Kriminalbeamten dahingehend keine Auskünfte gegeben?‘ „Ihr Name ist Jinda Bhirasri, mehr weiß ich leider auch nicht.“ ‚Warum bin ich eigentlich so skeptisch gegenüber der Polizei, warum die Furcht, ihnen etwas verraten zu können? Sie wollen dir doch nur helfen, das Schicksal deines Bruders aufklären.’ Claude versteht sich selbst nicht, eine innere Hemmung hindert ihn jedoch daran, den Beamten gegenüber mehr zu sagen als unbedingt nötig. „Kann ich nun in das Archiv meines Bruders?“

      „Klar doch.“ Krüger bemüht sich, ihm gegenüber nett zu sein, ob aus reinem Mitgefühl oder weil er Claudes Ressentiments spürt, ist für den Fragesteller indes nicht erkennbar. Doch noch ehe sich seine aufkeimenden Gewissensbisse richtig breitmachen können, kommt des Hauptkommissars überraschende Mitteilung: „Wir sind hier soweit fertig, ich glaube nicht, dass wir noch etwas Sachdienliches finden. Daher halte ich es nicht für nötig, die Wohnung weiterhin zu versiegeln. Sie steht Ihnen somit zur freien Verfügung.“ Claude kann es kaum fassen, gestern und heute Morgen war er noch voller Unrast, ob seiner aufgezwungenen Untätigkeit schier geplatzt, und auf einmal räumt man ihm uneingeschränktes Handeln und Wandeln ein. „Wir halten Sie selbstverständlich auch weiterhin auf dem Laufenden, natürlich auch darüber, wann Ihr Bruder für die Beisetzung freigegeben wird. Lassen Sie es uns nur bitte wissen, falls Sie Ihre Adresse ändern."

      Die nach dem Gehen der beiden Beamten eintretende Stille, das Alleinsein in dieser Wohnung drückt schwer auf Claudes Gemüt, der zunächst einen weiteren Rundgang durch die Räume unternimmt, in denen er noch immer den Geist seines Bruders zu spüren glaubt. Erst beim Blick durch die Balkontür fällt ihm auf, dass sich die Sonne bereits verdächtig den Dachfirsten der Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite genähert hat, es somit Zeit für ihn wird, endlich das Archiv nach dem von Clemens angedeuteten Beweismaterial zu durchsuchen.

      Da er seinem Bruder früher bei Besuchen in Mailand gelegentlich bei der Archivierung geholfen hat, kennt er das Ordnungssystem Philipps, der daran auch nichts verändert zu haben scheint, wie ihm schon nach wenigen Stichproben klar wird. Da Philipp sich ihm sonst aller Wahrscheinlichkeit viel früher anvertraut hätte, muss es sich um relativ neues Material handeln. ‚Nur gut, dass Philipp seine Arbeiten außer stichwortartig beziehungsweise themenmäßig auch chronologisch sortiert hat’, sinniert Claude beim Durchblättern der Dia- und Negativhüllen sowie der Fotomappen, die er systematisch durchschaut, um sich einen Überblick über die letzte Schaffensphase des Ermordeten zu verschaffen. Irgendetwas Brauchbares fördert seine Suche jedoch nicht zu Tage, nicht der kleinste Hinweis findet sich. Allmählich wird ihm klar, dass seine Sucherei wohl eigentlich überflüssig ist, denn sollte dieses Material tatsächlich etwas mit dem Mord zu tun haben, so dürfte es entweder von dem oder den Tätern mitgenommen oder aber von seinem Bruder an einem wirklich zugriffssicheren Ort aufbewahrt worden sein. Bei reiflicher Überlegung kommt Claude unter Berücksichtigung all dessen, was er bislang erfahren hat, immer mehr zu der Überzeugung, dass sein Bruder wahrscheinlich einen anderen Aufbewahrungsort gewählt haben dürfte - doch wo? Bei seiner Verlobten? Unwahrscheinlich, Philipp war nicht der Typ, der andere in etwas mit hineinzog. ‚Nur schade, dass diese Frau sich nicht meldet, zumindest musste sie doch von dem Mord erfahren haben, stand er doch, wenn auch ohne Foto und zumeist nur auf den hinteren Seiten, in nahezu allen regionalen Zeitungen’, grübelt er vor sich hin. Ein Bankschließfach oder etwas Ähnliches? Alles irgendwie zu simpel, zu einfallslos. Jetzt ist Claude gefordert: Wie gut kannte er seinen Bruder wirklich. Hatte er irgendeine Andeutung gemacht, wo pflegten sie in der Vergangenheit ihre vor anderen Augen geheim zu haltenden Dinge aufzubewahren, zu verstecken?

      Sich den Kopf ob dieser Frage zermarternd durchstreicht Claude die Wohnung immer und immer wieder, in der Hoffnung, dass sich irgendein Hinweis finden möge, der ihm weiterhelfen könnte. Von den Wänden, den Möbeln, all dem Sammelsurium, das sein Bruder im Laufe seines abwechslungsreichen, von zahllosen Reisen geprägten Berufslebens zusammengetragen hat und das nunmehr Schränke, Vitrinen und Regale füllt, strahlt ihm nichtssagende Leere entgegen, die seine Ratlosigkeit nur noch steigert, ihn schier verzweifeln lässt. Ermattet vom erfolglosen Malträtieren seiner grauen Zellen, sinkt er schließlich in einen der Sessel im Wohnzimmer nieder, gönnt er sich zum ersten Mal seit er die schicksalsbehaftete Wohnung betreten hat eine gefühlsmäßige Pause, lässt sich ganz einfach hängen, die Augen geschlossen, versuchend, den allzu regen Geist allmählich auszublenden, wobei die Geräusche des Hauses und der Straße langsam aber sicher die Oberhand gewinnen, das noch immer Entsetzliche, Unbegreifliche wie mit einem narkotisierenden Schleier zudeckend. Doch noch ehe dieser unregelmäßig gewebte Geräuschteppich seine letzten geistigen Regungen zu schlucken vermag, quasi im Dreiviertelschlaf, durchzuckt ihn eine tief aus seiner schlaftrunkenen Gedankenwelt hervortauchende Idee, die ihn mit einem Schlag wieder hellwach macht. ‚Dass ich da nicht schon früher daran gedacht habe’, geht er mit sich selbst ins Gericht. Dass seine Gedanken durch den urplötzlich am anderen Ende des Tunnels auftauchenden Lichtblick erneut unter Koordinationsschwierigkeiten leiden, wird ihm erst bewusst, als er nach dem instinktiven Ergreifen des Telefonhörers und dem Wählen der sich ins Gedächtnis gerufenen Rufnummer gewahr wird, dass keinerlei Summ- oder Freischaltton zu vernehmen, die Leitung tot ist. Warum, darauf findet er zwar keine schlüssige Antwort, wundert sich aber auch nicht sonderlich darüber.

      Auf ein vorbeifahrendes Taxi zu warten oder eines von den Nachbarn aus zu bestellen, erscheint ihm in diesem Augenblick zu kompliziert, zu nervtötend, und angesichts der vorgerückten Stunde als unpassend, zudem tut ihm ein wenig abendliche Frischluft gut. Die Fahrzeuge und Fußgänger, die auf dem Weg bis zu seinem Hotel an ihm vorbeigleiten und -huschen, nimmt er nur als uniforme Schattengestalten wahr, zu sehr hängt er gedanklich seinem neuen Hoffnungsträger hinterher. Aufgeregt wie ein Primaner vor einer entscheidenden Klassenarbeit, sucht er in seinen Jackentaschen nach seinem Zimmerschlüssel, den er, auch dies ein deutliches Zeichen seiner Erregtheit, ungewohnt ungelenk ins Schloss steckt. Das Zimmer betretend hastet er schnurstracks zum Telefon. Endlich. Hastig tippt er die Zahlen der Rufnummer, die er - um sich ihrer Richtigkeit zu vergewissern - auf dem Weg zum Hotel in seinem Adressenbuch nachgeschaut hat, nach dem Abheben des Hörers in den Telefonapparat. Den vom Tickern der Schaltzentrale erfüllten Sekunden, während derer die Verbindung hergestellt wird, folgen ebenso nervenzehrende, in denen der Hörer am anderen Ende der Leitung nicht abgehoben wird, so dass mit jedem Klingelton Claudes Hoffnung auf rasche Beantwortung der ihn peinigenden Frage Stück für Stück dahinschwindet. Kaum noch erwartet, ist sein Bemühen doch noch von Erfolg gekrönt.

      „Ja, bitte“, schallt ihm eine verschlafene Stimme entgegen, „hier Thorwald.“

      Der schlaftrunkene Klang lässt Claude auf den Wecker am Nachttisch blicken, wodurch sein schlechtes Gewissen wachgerufen wird. „Entschuldigen Sie bitte, Hochwürden, dass ich Sie so spät anrufe. Hier spricht Claude Duchamp.“

      „Claude!“ Wie weggeblasen ist offensichtlich die Müdigkeit des Angerufenen, und auch wenn ihn Claude nicht sehen kann, so ist er sich ganz sicher, dass in diesem Augenblick zumindest ein freudiges Lächeln über das Antlitz seines Gesprächspartners huscht. „Mein Gott, wo steckst du? Warum hast du dich so lange nicht gerührt? Und überhaupt, seit wann bist du so förmlich, seit wann siezt du mich?“

      Claudes schlechtes Gewissen wird durch Thorwalds Fragen nicht gerade gelindert. „Ach wissen Sie ... weißt du“, druckst er herum, „es ist lange her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, ich dachte mir, vielleicht bist du mir böse, zumal ich deine beiden Briefe nicht beantwortet habe, die du mir vor Monaten geschrieben hast. Aber du kennst mich ja, ich war schon immer ein Schreibmuffel.“

      Auch ohne optischen Kontakt vermag sich Claude das stumme, verständnisvolle, verzeihende Lächeln des aus seinem ersten Schlaf Gerissenen vor Augen zu rufen, dazu kennen sich beide zu lange und zu gut. „Schön, dass du dich mal wieder meldest. Die vorgerückte Uhrzeit lässt mich allerdings vermuten, dass du einen ganz besonders triftigen Grund dafür hast. Oder hast du nur die Zeitdifferenz vergessen?“

      Diese Worte sind für Claude ein weiterer Beleg dafür, wie vertraut er dem anderen ist, dieser allerdings gleichzeitig davon ausgeht, dass er ihn aus seiner neuen Wahlheimat aus anruft. „Ja, du hast recht, ich rufe dich tatsächlich aus einem ganz besonderen Grund