Handover. Alexander Nadler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alexander Nadler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741848018
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mehr oder weniger scharfe Mahnungen und Verweise eingebracht hatte. Doch war er Diplomat genug und sich seines Standpunktes viel zu sicher, als dass er sich durch derlei Anfechtungen hätte irremachen lassen, denn in seinen Thesen vermochte ihn keiner seiner Dienstherren zu widerlegen.

      Und er war es auch zu einem nicht unerheblichen Teil gewesen, der Philipp und ihn in die hohe Schule der Dialektik einführte, sie lehrte alles zu hinterfragen, Obrigkeitshörigkeit abzustreifen, selbständig und selbstkritisch zu denken und zu analysieren, ihre Fähigkeit schärfte, positive Kritik zu üben. Dabei hatte er ihnen von Anfang an klargemacht, dass es bei alledem nicht ohne Blessuren abgehen werde, da die meisten Menschen Kritik, auch wohlgemeinte, nur schwer oder gar nicht ertragen könnten und meist mit Retourkutschen, Diffamierungen oder Hohn darauf reagierten.

      Claude erinnerte sich an einen dieser regen Diskussionsabende, bei dem es sich um genau dieses Thema drehte, noch ganz genau. Anlass dazu war damals die Stellungnahme Julius’ zu umweltpolitischen Fragen seiner Gemeinde, die bei etlichen Stellen auf scharfe Kritik gestoßen waren, sowohl auf kommunalpolitischer Ebene als auch in Kirchenkreisen. „Sie haben es halt nicht gerne, dass ich mich als Vertreter der Amtskirche in solche Dinge einmische. Die Politiker, weil sie - angeblich zumindest - eine Verquickung von Staat und Kirche befürchten, und meine lieben Amtskollegen, weil ich mir erlaube auf die kircheninternen Schwachstellen und Widersprüchlichkeiten aufmerksam zu machen, an dem Nimbus der Unfehlbarkeit zu rütteln wage. So ein Schwachsinn, als ob irgendein Mensch unfehlbar wäre. Ich doch genauso wenig wie irgendjemand sonst, Talar hin oder her. Aber es ist immer wieder das Gleiche, jeder fühlt sich gleich persönlich auf den Schlips getreten, kaum einer kann es akzeptieren, dass jemand anderes eine andere Meinung vertritt oder zur Diskussion stellt.“ Julius’ Stimme hatte in diesem Augenblick resigniert geklungen, doch kannten ihn Philipp und er zu gut und wussten, dass er sich so leicht nicht unterkriegen ließ und auf seine Person gemünzte Schmähungen letztendlich gelassen hinzunehmen verstand, da er stets wusste, wovon er redete, denn er war nicht der Typ, der den Mund zu voll nahm, ohne vorher gründlich darüber nachgedacht zu haben, was er eigentlich sagen wollte, wie dies vor allem die gewählten Volksvertreter auf der politischen Bühne bedauerlicherweise allzu oft taten.

      „Das erlebst du doch nicht zum ersten Mal“, beschwichtigte ihn Philipp, „Du kennst die Menschen doch weiß Gott noch besser als Claude oder ich. Das Problem ist, dass keiner seine Schwächen, seinen möglichen Irrtum beziehungsweise eine Fehleinschätzung zugeben will. Natürlich ist es einfacher auf den anderen, den Andersdenkenden verbal einzuknüppeln als sich selbst und seinen Standpunkt zu hinterfragen. Dann müsste man sich nämlich endlich einmal klar darüber werden, wer und was man eigentlich ist, welche Rechte und Pflichten man hat, sich und allen anderen gegenüber. Und so viel Gemeinsinn kannst du leider nicht voraussetzen, zumindest nicht beim Gros der Menschheit. Ich kann nur wiederholen, was ich neulich erst gesagt habe: Die Legalisten hatten schon recht, der Mensch ist von Natur aus schlecht, auch wenn dies viele nicht wahrhaben wollen, insbesondere auch deine Kollegen. Mit bloßen Appellen an die Vernunft und Selbstdisziplin kommst du nicht weit, dazu sind wir alle viel zu große Egoisten. Schau dich doch nur um, wie ein jeder sich schamlos zu bereichern versucht, und kaum einer kann den Rachen voll genug bekommen. Natürlich wäre es schön, würden wohlgemeinte Appelle ausreichen, die Realität beweist allerdings tagtäglich, dass es ohne Gesetze nicht geht. Setze die Gesetze auch nur für einen einzigen Tag außer Kraft, ich prophezeie dir, die Welt versinkt im Chaos, nicht nur in den von vielen mit abschätzigen Bemerkungen als ‚unreif’ deklarierten Ländern der sogenannten Dritten Welt, nein auch hier bei uns würden sich die Leute die Köpfe einschlagen, aus Gier, Neid und Eifersucht.“ Philipp war die Erregung deutlich anzumerken gewesen, denn wie Claude aus vielen vorangegangenen Diskussionen wusste, waren sie bei einem zentralen Thema angelangt, über das sich sein Bruder jedes Mal ereiferte, da es ihm trotz seiner zahlreichen derartigen ernüchternden Erfahrungen und dem Wissen darum, dass es so war, partout nicht in den Kopf gehen wollte, warum sich angeblich vernunftbegabte Wesen ständig derart unvernünftig benahmen, dass ihre Existenz dauernd von ihnen selbst heraufbeschworener latenter Gefahr ausgesetzt war.

      „Du weißt doch, dass es mit der Vernunft der Menschen nicht so weit her ist“, griff Claude in die Gesprächsrunde ein, das Resümee seines Bruders vorwegnehmend. „Der Mensch war, ist und bleibt Hedonist, daran hat sich seit den alten Römern, ja seit Urzeiten nichts geändert.“ Ein kurzes Stocken, dann fuhr Claude fort: „Wie der gute alte Juvenal auf die Frage nach den Wünschen und Bedürfnissen des Volkes zu antworten pflegte: Panem et circenses. Stimmt doch, oder? Gib den Leuten genug zu essen und verschaffe ihnen ein wenig Unterhaltung, mehr wollen sie doch meistens gar nicht. Aber wehe, du wagst es, ihnen davon etwas wegzunehmen, gar an ihr Gewissen zu appellieren, sie sollen davon etwas zum Wohle aller abtreten! Dann werden sie zu Raubtieren, von Solidarität keine Spur, denn die fordert für gewöhnlich nur derjenige, der unten ist, ist er erst einmal oben, streicht er das Wort in der Regel aus seinem Wortschatz.“

      Thorwald nickte zustimmend: „Leider, … auch ich habe mich immer wieder gefragt, warum dies so ist, was man dagegen tun kann, wie man die Leute wachrütteln kann. Gemäß meinem Amt muss ich dies sogar, und ich möchte es auch. Zustimmung, geschweige denn Dank erntet man dafür allerdings nur in den wenigsten Fällen, doch sollten, müssen eben diese Anlass für uns sein, in unseren Bemühungen fortzufahren, trotz aller negativen Erfahrungen. Appelliert nie nur an andere, seid selber Vorbild, versucht es zumindest, denn nur so könnt ihr glaubwürdig sein und bleiben, nur so vermögt ihr eventuell doch den ein oder anderen zum Nachdenken, möglicherweise sogar zum Umschwenken anzuregen.“ Fast missionarisch klangen in diesem Moment seine Worte, nach denen er sein Leben ausrichtete solange ihn die Brüder kannten. Er war kein Schwärmer oder Phantast, er stand mit beiden Füßen voll im Leben und fühlte sich von den Schwächen der um ihn herum Lebenden eher angezogen und motiviert denn abgestoßen. Eben dies war es, was Philipp und Claude an ihm so bewunderten, weswegen sie ihn als hoffnungsvollen, Hoffnung ausstrahlenden und vermittelnden Vertreter seines Standes ansahen, denn nur Männer seines Formates waren ihrer Ansicht nach dazu befähigt, die dringend notwendigen Reformen innerhalb der Institution Kirche in die Wege zu leiten. Thorwald wusste genau, wie kritisch die beiden der Kirche gegenüberstanden, woran sie sich stießen. Und dies zu Recht, wie er ihnen gegenüber auch schon vor längerer Zeit eingestehen musste, denn auch ihm waren die verkrusteten Strukturen und die geforderte uneingeschränkte Hörigkeit mehr als nur ein Dorn im Auge, widersprach doch letztere für ihn, und so sahen es auch die beiden Brüder, geradezu der christlichen Forderung anderen gegenüber Toleranz zu üben, ganz besonders auch Andersdenkenden gegenüber. Doch damit hatte sich die Kirche schon in der Vergangenheit oftmals schwer getan, so ungern sie sich dies auch vorhalten ließ. Doch wie, so hatten sie sich bei vorangegangenen Diskussionen immer wieder aufs Neue gefragt, kann jemand Toleranz fordern, wenn er nicht selbst bereit ist, anderen gegenüber tolerant zu sein, den anderen in seiner Andersartigkeit zu akzeptieren. Solange dieser dadurch niemanden körperlich und psychisch schade, müsse dies oberster Grundsatz eines jeden Menschen sein, zumindest eines demokratisch, freigeistig gesinnten.

      „Das ist ja gerade das Problem“, hatte Claude bei einer ihrer Gesprächsrunden bei diesem Punkt eingehakt, „jeder versteht sich bei uns als guter Demokrat, glaubt zumindest, ein solcher zu sein, kaum wird indes von ihm gefordert, sich zugunsten einer demokratisch gefundenen Mehrheit zu beugen, verlieren sich die meisten in zum Teil wüsten Beschimpfungen und hämischen Kommentaren, und einige wenige greifen gleich zur Gewalt. In solchen Situationen muss ich immer wieder an den Ausspruch eines meiner Lehrer denken, dessen mahnender Gehalt zu einem meiner Lebensleitsätze geworden ist. Es ging damals um eine Abstimmung in der Klasse, bei der einer meiner Klassenkameraden, der sich immer als starker Verfechter der Demokratie aufspielte, mehrheitlich überstimmt worden war. Als er das Ergebnis wutentbrannt kommentierte, appellierte eben dieser Lehrer mit folgenden Worten an meines Freundes Demokratieverständnis: ‚Gell Franz, Demokratie ist etwas Schönes, solange man in der Mehrheit ist!’ Ich habe das verdutzte Gesicht meines Freundes, in das schlagartig ein verlegenes Grinsen gemeißelt war, noch genau vor Augen. Ich halte diese Worte nach wie vor für eine der größten Lebensweisheiten, die ich bis heute gehört habe, sie sind quasi zu einer meiner gesellschaftspolitischen Leitlinien geworden, erinnern sie mich doch stark an Sokrates Spruch: ‚Es ist besser Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun!’