Handover. Alexander Nadler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alexander Nadler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741848018
Скачать книгу
„Ich weiß nicht, ob du es mitbekommen hast, dass Philipp tot ist. Und genau...“

      „Was? Was sagst du da? Philipp ist tot? Nein, davon weiß ich nichts! Wie ist das geschehen, wo, wann?“ Thorwalds Erregung mischt scharfe Unterklänge in die ansonsten so sanfte Stimme; kein Wort indes zum Standort des Anrufers.

      „Er ist ermordet worden, letzten Donnerstag.“

      „Ermordet? Philipp ermordet?“ Solange sie sich auch schon kennen, nie zuvor hat Claude den Geistlichen derart verwirrt, konsterniert gehört. Wie sehr ihn diese mitten in der Nacht so unvermutet übermittelte schreckliche Nachricht emotional getroffen hat, belegt das Schweigen, das zum Sammeln der Gedanken benötigt wird. „Das kann, das will ich einfach nicht glauben. Philipp hat doch nie jemandem etwas zuleide getan.“ ‚Das haben viele Opfer nicht’, kommentiert Claude diese Feststellung im Stillen für sich selbst. „Hat man den Täter schon?“

      „Nein. Sei mir bitte nicht böse, wenn ich dir jetzt nicht die ganze Geschichte erzähle, auch wenn mein Anruf etwas mit Philipps Tod zu tun hat. Was ich wissen möchte, ist, ob du in den letzten paar Wochen einen Brief oder ein Päckchen von Philipp erhalten hast?“

      „Nein, oder besser gesagt, ich weiß es nicht. Weißt du, ich war die letzten drei Wochen in der Bretagne und bin erst heute Nachmittag zurückgekommen. Daher habe ich noch keine Zeit gehabt, all meine Post durchzuschauen. Und eben aufgrund meiner Abwesenheit habe ich in letzter Zeit auch keine deutschen Zeitungen gelesen oder Nachrichten gehört. Wenn es für dich wichtig ist, schaue ich gleich einmal nach.“

      „Es ist sogar sehr wichtig, sonst hätte ich dich auch nicht zu dieser Tageszeit gestört.“

      „Gut, warte bitten einen Augenblick, ich gehe nachschauen.“

      Von quälender Hoffnung geprägte Minuten verstreichen, während derer Claude endlich dazu kommt seine Jacke und Schuhe auszuziehen und sich eine Cola einzugießen, deren Kühlschrankfrische ihm belebend durch die Kehle rinnt.

      „Claude, bist du dran?“

      „Ja. Und?“

      „Du hast recht gehabt, es ist tatsächlich ein Päckchen von Philipp während meiner Abwesenheit eingetroffen. Ich habe es hier vor mir liegen. Obendrauf ist ein Begleitschreiben geklebt. Soll ich es öffnen?“

      „Natürlich. Lies es mir bitte vor.“ Claude hört das Rascheln am anderen Ende der Leitung, das ihm signalisiert, dass die Beantwortung seiner Frage kurz bevorsteht.

      „Hörst du? Ich lese dir jetzt den Brief deines Bruders vor. ‚Lieber Julius, zunächst möchte ich mich bei dir entschuldigen, dass ich erst heute wieder von mir hören lasse. Auch wenn meine Entschuldigung abgedroschen klingt und unter guten Freunden eigentlich kein Argument sein dürfte, so kann ich zu meiner Verteidigung nur vorbringen, dass mich mein enger Terminplan in den letzten Monaten derart eingebunden hat, dass ich keine Zeit fand, mich eher bei dir zu melden. Und da wir stets ehrlich zueinander waren, möchte ich dir auch nichts vorflunkern, sondern dir offen eingestehen, dass ich mir heute nur deswegen Zeit für diese Zeilen nehme, weil ich mich möglicherweise in einer nicht ganz ungefährlichen Situation befinde, deren Ausgang ich derzeit nicht abschätzen kann. Ich habe dich mehrmals telefonisch zu erreichen versucht, doch warst du nie zu Hause. Daher schreibe ich dir nunmehr und möchte dich bitten, das mitgeschickte Päckchen bei dir aufzubewahren, bis entweder ich es selbst wieder abhole oder mein Bruder dies tut. Obwohl ich weiß, dass dies an und für sich unnötig ist, möchte ich dich bitten, das Päckchen nicht zu öffnen. Ich belaste dich nur äußerst ungern damit, doch bist du außer meinem Bruder die einzige Person, der ich uneingeschränkt vertraue. Pass gut auf dich auf, wobei ich hoffe, dass wir uns bald wiedersehen. Dein Philipp.’“

      Klangen Philipps Zeilen nicht wie ein Abschied, trotz des am Schluss zum Ausdruck gebrachten Wunsches auf ein baldiges Wiedersehen? Wieder taumelt Claude, wie von einem wohlplatzierten Aufwärtshaken angeschlagen, durch die Wellentäler seiner Psyche, derer er bis vor wenigen Tagen so sicher zu sein glaubte, insbesondere nach jenem Lebensabschnitt, in dessen Mittelpunkt Isabel gestanden hatte. Da auch Thorwald schweigt, wahrscheinlich damit beschäftigt, das Schreiben ein zweites Mal durchzulesen, teilt Claude ihm seinen Entschluss mit: „Julius, wenn es dir nichts ausmacht, komme ich morgen zu dir.“

      „Selbstverständlich. Ich freue mich, trotz des traurigen Anlasses. Kommst du mit dem Auto oder mit der Bahn?“

      „Mit der Bahn. Sobald ich weiß, wann der Zug in Freiburg ist, rufe ich dich noch einmal an, okay?“

      „Okay. Falls ich morgen früh außer Haus sein sollte, kannst du meiner Haushälterin Bescheid geben, die richtet es mir schon aus. Ich werde sie morgen jedenfalls dahingehend instruieren. Wahrscheinlich kommst du ja eh erst am Nachmittag.“

      „Anzunehmen.“ Kurzes Schweigen beiderseits. „Dann will ich dich nicht weiter stören. Alles weitere morgen. Bis dann.“

      „Bis dann, und ... Kopf hoch!“

      „Klar doch.“ Claude bemüht sich überzeugend zu klingen, was ihm aber nicht so recht gelingen will, auch wenn ihm das Gespräch, so seine erste Analyse, offensichtlich weitergeholfen, möglicherweise sogar den entscheidenden Schlüssel für die Lösung des Falles geliefert hat. Noch aber wagt er nicht daran zu glauben, wie er sich eingestehen muss auch ein klein wenig aus Furcht, sein Bruder könnte in irgendeine unlautere, womöglich gar ungesetzliche Sache verstrickt sein, was er sich zwar an und für sich nicht erklären kann, doch wie verkündet es ein Werbeslogan beinahe täglich im Fernseher: Nichts ist unmöglich. Der morgige Tag wird Aufschluss darüber geben - hoffentlich.

      Freitag, 18. April 1997, 15:43 Uhr

      Der Blick auf die Armbanduhr verrät Claude, dass es nur noch rund zwanzig Minuten bis Freiburg sind. Eine Woche ist es bereits her, seit er seinen Bruder aufgefunden hat, sieben Tage, die ihn und die Polizei zwar bislang bei der Aufklärung des Falles keinen entscheidenden Schritt weitergebracht haben, dennoch aber wie im Fluge vergangen sind, überwiegend gefüllt mit wirren Spekulationen und Hypothesen, denen heute möglicherweise ein Ende bereitet werden kann. Bei Tempo 130 gleitet, untermalt vom kaum hör- und spürbaren Tacken der Räder, draußen die in frühlingsfrisches Grün gekleidete Landschaft vorbei. Nur wenige flauschige Wolkengebilde verlieren sich am sonst blauen Himmel dieses herrlichen Frühlingstages, dem Claude trotz der stundenlangen Fahrerei bis zu diesem Augenblick praktisch keine Aufmerksamkeit geschenkt hat, zu sehr war er alten Erinnerungen nachgehangen, in deren Mittelpunkt jene Person stand, die ihn in wenigen Minuten vom Bahnhof abholen wird und die ihn und seinen Bruder in einem nicht unerheblichen Maße mit geprägt hat...

      Ein Schmunzeln lief über Claudes Gesicht, als ihm wieder bewusst wurde, dass Julius Thorwald ihn und Philipp schon kannte, als sie beide noch in die Windeln machten. Den Erzählungen seiner Mutter zufolge hatte er sie, wenn Not am Mann war, sogar gelegentlich höchstpersönlich trockengelegt. So etwas verband natürlich, schuf jene enge und überaus herzliche Beziehung, aufgrund derer sich die beiden Brüder von klein auf zu dem Geistlichen fast väterlich hingezogen fühlten, daran konnten auch längere Phasen nichts ändern, während derer sie sich nicht sahen. Wie eng und unverkrampft dieses Verhältnis war, merkten sie jedes Mal, wenn sich ihre Wege nach langer Zeit wieder einmal kreuzten, gingen sie doch in diesen Augenblicken stets so unbefangen miteinander um, als wären sie erst tags zuvor auseinandergegangen. Ja, Julius war schon etwas Besonderes, so dass es auch nicht weiter Wunder nahm, dass er nach dem Tode ihrer Eltern beider Vertrauensperson wurde, der sie, dies wussten sie instinktiv, alles, aber auch wirklich alles blindlings anvertrauen konnten: Julius konnte schweigen wie ein Grab. Und so kritisch sein Bruder und er selbst der Kirche oftmals gegenüberstanden, oder vielleicht gerade deshalb, empfanden sie es als Glücksfall, dass Julius Geistlicher war, verkörperte er für sie doch all jene charakterlichen Eigenschaften, die sie bei vielen anderen Vertretern dieses Standes, insbesondere in den oberen Chargen, schmerzlich vermissten. Abendelang hatten sie zu dritt eben darüber diskutiert, denn mit Julius konnten sie dies, schließlich stand