Handover. Alexander Nadler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alexander Nadler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741848018
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zwei Grüppchen Jugendlicher aus, die zwei Waggons weiter stehen. Der plötzlich zum Gruß hochgereckte Arm signalisiert ihm, dass ihn jener nunmehr gleichfalls erkannt hat. Sekunden später liegen sie einander in den Armen, sich gegenseitig freundschaftlich kräftig auf die Schultern klopfend.

      Thorwald, zivil gekleidet, hält Claude mit ausgestreckten Armen vor sich, so als wolle er den Neuankömmling einer Musterung unterziehen: „Schön, dass du da bist, auch wenn der Anlass kein besonders erfreulicher ist.“

      „Ich freue mich auch, dich zu sehen.“ Claude langt zu seinem Pilotenkoffer, den er bei der Begrüßung neben sich gestellt hat, woraufhin sich beide in Richtung Bahnhofsausgang in Bewegung setzen.

      ‚Er fährt ja immer noch den gleichen betagten Opel Kombi’, denkt Claude, als ihm Thorwald am Parkplatz die Wagentür öffnet. „Und wie geht es dir und deiner Gemeinde?“

      Die leichte Ironie im zweiten Teil des Satzes ist dem Geistlichen nicht entgangen: „Danke, mir geht es soweit ganz gut, was indes meine Gemeinde anbelangt, so ist so ziemlich alles beim Alten geblieben. Knatsch hier, Knatsch da, Schweinereien hier, Schweinereien da, und jeder schiebt die Schuld auf den anderen. Mit einem Wort: Business as usual.” Das Schulterzucken zeugt nicht von Resignation, deutet nur an, dass sich der Redner der Realität voll bewusst und keineswegs bereit ist, sich in einem sinnlosen Kampf gegen Windmühlen aufzureiben. „Und du, was treibst du zur Zeit?“

      „Wie du ja weißt, lebe ich seit etwa einem Jahr in San Francisco und gehe dort meiner Fotografiererei nach.“

      „San Francisco ... eine schöne Stadt, zumindest nach alle dem, was ich im Fernsehen und in Zeitschriften gesehen und gelesen habe.“

      „Oh ja, wozu auch ihre Bewohner einen Gutteil beitragen, ihre Freundlichkeit, ihr lockerer Umgang miteinander. Du solltest mich einmal besuchen kommen.“

      „Gehst du denn wieder zurück?“

      „Ich denke schon, was hält mich hier noch, jetzt wo Philipp tot ist.“ Zum ersten Mal seit ihrem Wiedersehen am Bahnhof wurde das Faktum, das letztendlich Anlass für Claudes Besuch ist, klipp und klar ausgesprochen, lässt das Gespräch für einige Sekunden ruhen. „Ich will nur abwarten, was die Untersuchungen der Polizei ergeben, d.h. ich werde voraussichtlich schon noch eine Weile im Lande sein, denn momentan scheint sie noch völlig im Dunkeln zu tappen. Und selbstverständlich muss ich mich um Philipps Beerdigung kümmern. In diesem Zusammenhang ist mir nach meinem Anruf gestern Abend die Idee gekommen, ob nicht du die Totenmesse und die Beisetzung von Philipp übernehmen möchtest. Ich glaube, dies wäre auch Philipps Wunsch gewesen.“

      Ohne auch nur den Bruchteil einer Sekunde zu zögern gibt Thorwald seine Einwilligung: „Selbstverständlich, gar keine Frage. Weißt du schon wann und wo?“

      „Nein. Ich weiß zwar nicht, warum es so lange dauert, doch noch haben sie den Leichnam nicht freigegeben. Lange kann es aber eigentlich nicht mehr dauern. Und wo? Ich hätte ihn gerne an der Seite meiner Eltern beigesetzt.“

      „Schön. Du musst mich nur das genaue Datum wissen lassen.“ Ungläubig schüttelt Thorwald den Kopf: „Deine Nachricht heute Nacht hat mich schockiert, bis jetzt kann ich nicht recht glauben, was du mir gesagt hast. Erzähle mir, was eigentlich genau passiert ist.“

      Während sie die Stadt durchqueren und deren Außenbezirke erreichen, lässt Claude - sich auf das Wesentliche konzentrierend - die vergangene Woche szenenhaft Revue passieren, gelegentlich unterbrochen von Fragen des Wagenlenkers, der die meiste Zeit konzentriert geradeaus schaut, nur sporadisch, und zwar immer dann, wenn er den Berichterstatter unterbricht, einen Blick über seine rechte Schulter wirft. Nach einer guten halben Stunde gleitet der altersschwache Personenwagen in die Hofeinfahrt des Pfarramtes. Claude ist bei der Anfahrt nicht entgangen, dass die Ortschaft seit seinem letzten Besuch merklich gewachsen ist, Neubaugebiete - umrahmt von architektonisch phantasielosen, omnipräsenten Industrie- und Gewerbeansiedlungen - das Ortsbild verschandeln. „Ist ja grässlich, was hier aus dem Boden gestampft wurde. Schöner ist der Ort dadurch nicht gerade geworden!“

      „Ich habe dir doch gesagt, es hat sich nichts geändert, noch immer das gleiche Leid: Eine Hand wäscht die andere, und eine ist so schmutzig wie die andere.“

      „Das so etwas genehmigt wird? Gibt es denn keine Bebauungspläne, Bauverordnungen?“

      „Vergiss es, alles nur Makulatur. Es hält sich doch keiner daran. Und warum? Weil keiner, oder fast keiner etwas dagegen unternimmt, und wenn, dann fallen die Strafen derart gering aus, dass sie aus der Portokasse bezahlt werden können. Abschreckung also gleich Null! Und die meisten interessiert es doch ohnehin nicht, außer vielleicht man würde ihnen solch einen architektonischen Schandfleck direkt vor die eigene Nase setzen. Doch jetzt komm erst einmal herein.“

      Im Pfarrhaus selbst hat sich dem ersten Anschein nach nichts geändert, zumindest nichts, was Claude auf den ersten Blick auffällt. Gewöhnlich kein Freund hoher Wohnräume, fühlt sich Claude in der vom dunklen Mobiliar und der von den an den Wänden hängenden beziehungsweise auf Sockeln und Podesten stehenden kleineren und größeren Kunstwerken geschaffenen behaglichen Atmosphäre sofort wieder wie zu Hause, durchflutet ihn zum ersten Mal seit dem Auffinden seines Bruders das Gefühl der Geborgenheit, des Nicht-Allein-Seins, wozu sicherlich auch die vielen Grünpflanzen beitragen, an denen er sich als großer Blumenliebhaber noch nie hat sattsehen können. Dazu die milde Nachmittagssonne, die von dünnen Wolkenschlieren zart verschleiert durch die beiden großen Glastüren in das Wohnzimmer hereinflutet, durch die man auf die Terrasse und in den Pfarrgarten gelangt, in dem unter anderem uralte Obstbäume stehen, die Jahr für Jahr reichliche Ernte bescheren. Wie oft haben er und sein Bruder sich an deren schmackhaften, mitunter schrumpeligen, da nicht auf Industrienorm getrimmten Früchten delektiert.

      „Ich mache uns erst einmal einen Kaffee“, lässt sich Thorwald aus der Küche vernehmen. „Mache es dir inzwischen bequem.“

      An den Terrassentüren stehend, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, gleiten Claudes Blicke über den von seinem väterlichen Freund liebevoll gepflegten Garten, in dem sie, wenn es die Temperaturen zuließen, zusammen mit Philipp so manch eine Nacht hindurch schwatzend gesessen sind. Schemenhaft taucht dabei das Bild seines Bruders vor ihm auf, wie er mit ihnen gelacht und geschimpft hat. Die die Sonne ganz allmählich immer stärker einhüllenden Wolkenformationen deuten auf Regen hin.

      „So, der wird uns guttun“, reißt ihn der Geistliche aus seinen Tagträumen, ein Tablett mit zwei Tassen, einer Zuckerdose und einer Kaffeekanne vor sich her balancierend, das er auf dem ovalen Couchtisch abstellt, woraufhin er, nach dem Verteilen der Tassen, mit dem Eingießen des Kaffees beginnt, dessen verführerisches Aroma Sekunden später das Zimmer füllt und Claude an den Tisch lockt, wo er sich in einen der breiten, cremefarben bezogenen Sessel fallen lässt. „Trinkst du ihn immer noch schwarz?“

      „Ja, schwarz wie die Nacht“, bestätigt Claude die Vermutung des Gastgebers.

      Dieser sitzt noch nicht richtig, da springt er bereits wieder auf und holt von dem in der Zimmerecke stehenden Sideboard jenes ominöse Päckchen, dessentwegen Claude hier ist: „Entschuldige, fast hätte ich vergessen, weswegen du eigentlich gekommen bist. Hier ist der Brief, den ich dir gestern Abend vorgelesen habe, und dies ist das dazugehörende Päckchen.“

      Claude nimmt beides entgegen, fingert das Briefpapier aus dem Umschlag und saugt die handschriftlich festgehaltenen Worte seines Bruders förmlich in sich auf. Das Schreiben trägt das Datum 1. April. ‚Leider kein Aprilscherz’, durchzuckt es den Leser. Einen ersten Schluck des noch immer brühheißen Kaffees zu sich nehmend, begutachtet er sodann das unscheinbare Päckchen, das möglicherweise von explosiver Sprengkraft ist. Da er rein äußerlich beim besten Willen nichts Auffälliges zu erkennen vermag, schneidet Claude mit Hilfe der von Thorwald herbeigeholten Schere das Klebeband durch, mit dem sein Bruder das Päckchen rundherum zugeklebt hat. Er ist selber über seine Ruhe erstaunt, mit der er den Kartondeckel öffnet und die drei dicken wattierten Umschläge herausnimmt, die er als Inhalt vorfindet. Ein weiteres Schreiben, wie er es zu