Handover. Alexander Nadler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alexander Nadler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741848018
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einfach die nötige Sensibilität dafür abgeht.

      Noch in voller Montur, orientiert er sich sofort in Richtung Labor, in dem er sich rasch einen Überblick über die Vorräte an Entwickler, Stoppbad und Fixierer verschafft, ehe er seine Jacke ablegt und seinem Pilotenkoffer die drei Umschläge mit den Fotos entnimmt. Umschlagweise die Negative auf dem großen Arbeitstisch sortierend, schaltet er, nachdem er alle notwendigen Vorbereitungen abgeschlossen hat, das Rotlicht ein und die übrige Zimmerbeleuchtung aus. Obwohl er seit Längerem nicht mehr selbst im Labor gearbeitet hat, führt er alle Handgriffe mit der Routine eines Fachmannes durch, so als ob er seit Jahren nichts anderes tun würde. Da es in diesem Fall nicht um Fine Prints geht, ist er auch nicht darum bemüht, das Allerletzte aus den Bildern herauszuholen, lediglich Schärfe und soweit als möglich klare Erkennbarkeit der abgebildeten Personen spielen eine Rolle. Mit der Präzision eines Uhrwerkes hantiert er mit Vergrößerer, Fotopapier, Chemikalienbädern und Trockenmaschine, der er die fertigen Prints nach jeweils wenigen Minuten entnimmt und sie auf dem zweiten Arbeitstisch ablegt.

      Nach Anfertigung zweier kompletter Bildersätze pickt er sich ein halbes Dutzend Negative heraus, auf denen jene Personen besonders deutlich zu erkennen sind, die jenes sich am Vortag herauskristallisiert habende rätselhafte Sextett bilden, dessen Vertreter - gemeinsam, einzeln oder gruppenweise in verschiedenen Konstellationen - auf nahezu jeder der Aufnahmen auszumachen sind. Da es sich bei ihnen offensichtlich um Schlüsselfiguren handelt, fertigt Claude von ihnen zusätzlich noch extra vergrößerte Porträtausschnitte an.

      Als er das letzte Blatt Fotopapier aus dem Fixierbad zieht, verrät ihm der Blick auf die Uhr, dass es bereits halb zwei geworden ist. Da er trotz der fortgeschrittenen Stunde noch keine Müdigkeit verspürt, sein Geist im Gegenteil viel zu aufgedreht ist, rafft er die Fotos zusammen und nimmt sie, zusammen mit seinem Koffer und seiner Jacke ins Wohnzimmer mit, wo er sie auf dem Fußboden ausbreitet, um sie dort einer weiteren Inspektion zu unterziehen, in der stillen Hoffnung, unter Umständen doch noch ein Detail auf den nunmehr großformatigen Abzügen auszumachen, das Thorwald und ihm zuvor entgangen ist, obgleich sie die Originalabzüge am Samstag und Sonntag noch mehrere Male gemeinsam einer gründlichen Prüfung unterzogen haben, wobei er sich nunmehr zunächst die sechs vergrößerten Einzelporträts einprägt, ehe er sich daranmacht, die übrigen Aufnahmen Stück für Stück unter die Lupe zu nehmen. Zu wirklich neuen Erkenntnissen vermag er allerdings auch nach sorgfältigster Prüfung nicht zu gelangen, dazu ist es offensichtlich unumgänglich, so seine abschließende Erkenntnis, irgendwie mehr über die Identität der abgelichteten Personen in Erfahrung zu bringen.

      Da er nun zu wissen glaubt, wonach er in etwa zu suchen hat, stöbert er, in der vagen Hoffnung, möglicherweise doch noch den ein oder anderen Hinweis beziehungsweise weiteres in dieser Angelegenheit brauchbares Material zu finden, noch einmal Philipps Archiv durch - zu seiner Enttäuschung allerdings ergebnislos. ‚Andererseits war indes auch nicht viel anderes zu erwarten gewesen‘, muss er sich stillschweigend eingestehen. ‚Noch besteht ja die Möglichkeit, dass die Polizei mit den Aufnahmen etwas anzufangen weiß’, beschwichtigt er sich selber, um die sich aufs neue ausbreitende Verzweiflung einzudämmen, die ihm, kaum dass er im Hotel zurück und in sein Bett gefallen ist, eine weitere von Alpträumen geplagte Nacht beschert, in denen er seinen Bruder mal hämisch lachend als Drahtzieher dubioser Geschäfte, mal als blutüberströmten Zombie durch nächtliche Straßen hetzen sieht, auf der Flucht vor sich nicht zeigenden Gestalten, die ihm selbst auch des Öfteren an die Gurgel wollen und ihn so mehrmals im Laufe der restlichen Nachtstunden panikerfüllt aus den Wirrungen seiner allzu regen Traumwelt reißen.

      Montag, 21. April 1997, 9:54 Uhr

      „Herein!“ Beinahe wäre die gedämpft durch die geschlossene Tür dringende Aufforderung im Lärm des halben Dutzends über den fliesenbelegten Flur trappelnder Beinpaare untergegangen.

      „Guten Morgen“, begrüßt Claude - eine schwarze, in Philipps Labor aufgefundene Fotomappe unter dem Arm - den ihm unbekannten Beamten, der an einem der Aktenschränke mit dem Durchblättern von irgendwelchen Ordnern beschäftigt ist, wobei der Eingetretene bei einem kurzen Rundumblick registriert, dass sich sonst niemand im Raum aufhält. „Mein Name ist Claude Duchamp. Ich wollte zu Hauptkommissar Krüger. Ist er nicht da?“

      „Doch, doch, ich bin ihm vorhin im Gang begegnet. Soviel ich von seinem Assistenten weiß, befindet er sich gerade in einer Besprechung. Und die kann noch ein wenig dauern. Aber vielleicht kann ich Ihnen weiterhelfen. Um was geht es denn?“

      „Um den Mord an meinem Bruder. Allerdings hätte ich schon gerne mit dem Hauptkommissar persönlich geredet.“ Nach Sekunden des Schweigens erkundigt sich Claude: „Haben Sie eine Ahnung, wie lange die Besprechung noch dauert?“

      „Keine Ahnung. Doch wie ich schon sagte, es kann sich noch ein wenig hinziehen. Aber Sie können gerne hier warten.“ Eine Geste bittet Claude, auf dem in der Ecke des Raumes stehenden Stuhl Platz zu nehmen.

      „Und Kommissar Mihailovic ist auch nicht da?“, unternimmt er den Versuch, das Warten eventuell abkürzen oder zumindest sinnvoll überbrücken zu können.

      „Der ist zusammen mit Krüger in der Besprechung“, wird ihm diese Hoffnung umgehend zunichtegemacht. Sich in sein Schicksal fügend, nimmt Claude die kurz zuvor gemachte Offerte notgedrungen an.

      Während der Beamte immer neue Ordner und Mappen aus dem Schrank herausfischt und sich beim Durchblättern gelegentlich kurze Notizen macht, schweifen Claudes Blicke unstet durch den nüchternen Raum, der für ihn von Minute zu Minute mehr zum typischen Musterbeispiel tristen Beamtendaseins wird, auf merkwürdige, nicht greifbare Art und Weise erfüllt von Seelenlosigkeit und Bürokratismus, die jegliche menschlich emotionale Regung ersticken. Auch wenn der Himmel über der umliegenden Dachlandschaft sich heute mit schweren Regenwolken verhangen zeigt, so stellt er in diesem Moment aufgrund seiner sich fortlaufend ändernden Wolkenformationen und Hell-Dunkel-Schattierungen doch immerhin eine willkommene optische Zuflucht dar, an der sich seine Blicke festsaugen. Die zu kurze Nacht und die abgestandene Luft im Zimmer fordern dennoch allmählich ihren Tribut, die Augen des Wartenden werden, als jeder Zentimeter im Zimmer gründlich gemustert worden ist und auch der Blick durchs Fenster nichts mehr hergibt, allmählich schwerer - wohltuende Mattigkeit bemächtigt sich seiner.

      Ob er eingenickt ist oder nicht, ist Claude in der Sekunde, in der er durch das Öffnen der ins Nebenzimmer führenden Tür aufschreckt, nicht klar, spielt zudem auch keine Rolle, sieht er doch endlich den sehnsüchtig Erwarteten hereinkommen. „Guten Tag, Herr Duchamp, entschuldigen Sie bitte, dass Sie warten mussten, aber wie Ihnen mein Kollege ja bereits mitgeteilt hat, war ich in einer wichtigen Besprechung.“ Hauptkommissar Krügers Laune scheint für einen Beamten-Montagmorgen ungewöhnlich gut, und auch der Händedruck vermittelt Claude das Gefühl, als sei sein Gesprächspartner an diesem Tag zum Bäume-Ausreißen bereit.

      „Ich habe Ihnen etwas mitgebracht, das uns im Fall meines Bruders möglicherweise weiterhelfen kann.“ Bewusst spricht Claude von ‚uns’, will dadurch zu erkennen geben, dass er nicht bereit ist, das Heft völlig aus der Hand zu geben. Da es ihm darum geht, mehr über die Identität der auf den Fotos abgelichteten Personen herauszufinden und noch immer erfüllt von nicht erklärbarem Misstrauen gegenüber den Kriminalbeamten, verschweigt er Krüger jedoch, wie und wo er zu dem Bildmaterial gekommen ist, berichtet ihm stattdessen, er habe es rein zufällig im Archiv seines Bruders gefunden, und da die Aufnahmen nicht zum sonstigen Arbeitsrepertoire von Philipp passten, wolle er sich nur einfach einmal erkundigen, ob Krüger irgendeine der auf den Aufnahmen zu erkennenden Personen identifizieren könne. Ob ihm der Kriminalbeamte die aufgetischte, reichlich an den Haaren herbeigezogen klingende Geschichte allerdings abkauft, vermag er aufgrund des völlig stoischen Gesichtsausdrucks seines Gegenübers nicht zu erkennen.

      Die sechs großformatigen Porträts, die in der Fotomappe obenauf liegen, sagen dem Kommissar offensichtlich nichts, legt er sie doch nach einem flüchtigen Blick darauf achtlos auf seinen Schreibtisch, genauso wie das folgende Dutzend Abzüge. Unauffällig mustert Claude das Muskelspiel in Krügers Gesicht, versucht in dessen Augen jedwedes auch noch so geringe Anzeichen zu registrieren,