Handover. Alexander Nadler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alexander Nadler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741848018
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an seinen Bruder und im Interesse der geschundenen Mädchen und Frauen. Trauer und Hass, Scham und Mitleid, Ekel und blanke Wut, dies waren die Elemente, aus denen sich damals seine Gefühlswelt zusammensetzte, als er durch Patpong gezogen war, sich der zahllosen dubiosen, mitunter schweinischen Angebote der Zuhälter hatte erwehren müssen, die ihm vom ‚very nice girl‘ über die ‚sexy and experienced lady‘ bis hin zum ‚fresh virgin girl‘ so ziemlich alles anboten, was perversen und mit krankhafter Sexualität behafteten Männerphantasien entspringen kann. Da sie, um die Mädchen, denen sie helfen wollten, überhaupt ausfindig machen zu können, nicht von vornherein all diese Offerten abwimmeln konnten, hatten sie immer wieder vorgeben müssen, potentielle Interessenten zu sein, was oftmals einem Drahtseilakt gleichkam, da es in der Regel nicht ganz einfach war, im letzten Augenblick, wenn sie genügend Informationen gesammelt hatten, unbehelligt und ohne Verdacht zu erwecken den Rückzug anzutreten. Das dreiste, gewissenlose Grinsen der Typen, die ihnen ‚die Ware‘ - wie jene es respektlos menschenverachtend nannten - wie bei der Fleischbeschau vorführten, hatte in ihnen jedes Mal das Gelüst aufsteigen lassen, jenen die geballte Faust in die Visage zu schlagen. Was sie aber ebenso entsetzt hatte wie der rohe, gefühllose, demütigende Umgang der Zuhälter mit den von ihnen Geknechteten und Ausgebeuteten, war das nicht minder beschämende und verachtenswerte Verhalten der vielen ausländischen Kunden, die in der Anonymität des fremden Landes ihre Abartigkeiten auslebten. Philipp und er hatten nicht gegen Prostitution an sich etwas, hatten bezüglich dieser Ansicht auch des Öfteren mit ihren Eltern Meinungsverschiedenheiten gehabt; was sie störte, waren die zumeist damit einhergehenden Zwänge, denen die Frauen und Mädchen ausgesetzt waren sowie jene abartigen Ausuferungen, die in ihren Augen teilweise jegliche Menschenwürde vermissen ließen. So viel Vernunft und Fähigkeit zur Achtung der Gefühle anderer, auch und gerade seines Ehe- oder Lebenspartners, zu verlangen, dass die Institution Prostitution hinfällig würde, mochte vielleicht der Papst fordern, an der Realität ging dieser Wunschtraum jedoch gründlich vorbei, darüber waren sich Claude und sein Bruder völlig im Klaren, und aus eben diesem Grunde sahen sie dieses Gewerbe an sich als das möglicherweise kleinere Übel an, denn ebenso war ihnen klar, dass nicht wenige der sexuell Verklemmten oder triebhaft Veranlagten sich sonst anderweitig Befriedigung suchen würden. Nur war es ihnen eben darum gegangen, sich für eine saubere, will meinen entkriminalisierte und von geschmacklosen Auswüchsen gesäuberte Prostitution einzusetzen, falls so etwas jemals möglich sein sollte. In zahlreichen Gesprächen hatten sie, in jüngeren Jahren mit ihren Eltern, später mit Freunden und Bekannten, immer wieder darüber gesprochen, warum Männer Frauen oft als reine Sexobjekte ansähen, die jederzeit verfügbar zu sein hätten, auf deren Gefühlswelt kaum Rücksicht nehmend, und dabei womöglich sogar von Liebe sprechend. Das pure Ausleben der Triebe hatten sie stets als primitiv animalisches Verhalten gewertet, und wenn dabei noch die Anwendung roher männlicher Kraft dazukam, ging ihnen auch noch das restliche bisschen Verständnis verloren.

      Zu dieser Tageszeit, am frühen Nachmittag, lässt das Amüsierviertel rings um Taunusstraße und Kaiserstraße kaum etwas von dem regen Treiben erahnen, das allabendlich einsetzt, sobald die Zeiger der Uhren über die Neun hinweg gerückt sind, und das erst mit dem Anbrechen des neuen Tages seinen Höhepunkt erreicht. Von den dann auf der Suche nach Freiern oder gleichgeschlechtlichen Lovers in schrillem Outfit daherkommenden Paradiesvögeln, den teilweise schon etwas abgetakelt wirkenden älteren Semestern dieses Gewerbes, den düster dreinblickenden, jederzeit zur gewaltsamen Lösung eines Zwistes oder einer Meinungsverschiedenheit bereiten Zuhältern, den schmierigen, in funkelnagelneuen, elendig teuren vierrädrigen Untersätzen durch die Straßen kurvenden Dandys, den schüchternen, von Scham geplagten Herren, die mit hochgezogenen Mantelkrägen möglichst unerkannt in eines der Etablissements verschwinden, in denen sie Befriedigung für ihre ihren Mitmenschen verschwiegenen Neigungen und Begehren zu finden hoffen, den sich zwischen all diesen tummelnden Fixern und Junkies, Dealern und Spielern, Betrügern und anderweitigen Ganoven bekommt Claude zunächst so gut wie nichts zu sehen. Das Licht des Tages scheuend, haben sich alle von diesem Treiben Profitierenden in das Dunkel der Trutzburgen zurückgezogen, deren Pforten sich erst beim Einbruch der Nacht öffnen und dann gierig ihre Krallen und Tentakel nach all jenen ausstrecken, die auf der Suche nach ein bisschen vermeintlichem Glück, purer sexueller Befriedigung oder aus Kurzweil vorbeikommen. Hinter der ein oder anderen Tür dringen gedämpft Musikfetzen hervor, in den Schaufenstern des ein oder anderen Pornoshops werden all jene Utensilien feilgeboten, die all jenen bei der Suche nach Glück und Befriedigung helfen sollen, die entweder glauben, sie von anderen nicht erhalten zu können, oder nicht imstande sind, sich auf die Gefühlswelt eines Sexualpartners einzustellen. Daneben versuchen die Fotos zum größten Teil entblößter Weiblichkeiten Passanten anzulocken, wobei die allzu grelle Schminke und lasziven Posen unschwer auf die Billigkeit des vorgetäuschten, sogenannten Vergnügens schließen lassen.

      Nur ganz vereinzelt huschen anonyme Gestalten männlichen Geschlechts an ihm vorbei, an dem einen oder anderen Schaufenster versuchen sich Unerkannt-Bleiben-Wollende darüber klar zu werden, ob die angekündigten Verheißungen wohl das halten werden, was sie suggerieren. Lässig an die Eingangstür zu einem der Nachtklubs gelehnt, unterhalten sich zwei auf den ersten Blick als Durchschnittstypen weggehende Mittdreißiger angeregt über irgendwelche finanziellen Ausstände, wie Claude im Vorbeigehen mitbekommt. Seinem photographisch geschulten Blick, der auf das Heraus-Selektieren von Nuancen und Feinheiten getrimmt ist, entgehen die schweren, mit dicken Steinen besetzten Ringe und die edlen Uhren nicht, die die beiden in ihr Gespräch Vertieften tragen, beides mindestens eine Nummer zu groß für den Art von Typ, den sie mit ihrer Kleidung und ihren eher gutbürgerlich wirkenden Frisuren vorzugeben beabsichtigen. Schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite verschwinden zwei von der Ferne recht hübsch aussehende jungen Damen in einem weiteren Nachtklub, vermutlich um sich für ihre Proben oder ihren Auftritt vorzubereiten. Immer wieder bleibt Claude stehen, lässt seine Blicke - einem Radar gleich - die Straßen auf und ab gleiten, so als wolle er jedes Detail der Szenerie speichern, wenn möglich die Fassaden durchdringen. Stets neue Blickwinkel ausprobierend, hofft er so eines jener Szenenbilder ausfindig zu machen, die den Hintergrund der wenigen Außenaufnahmen bilden, die sich in dem von Philipp hinterlassenen rätselhaften Fotosortiment finden. Da es sich bei diesen jedoch samt und sonders um Nachtaufnahmen handelt, vermag Claudes Abstraktionsvermögen trotz aller Bemühungen nicht, die fast menschenleere Tages- in eine von mitunter zahlreichen Personen belebte Nachtszene umzusetzen. Ob seines Misserfolges, seiner Unfähigkeit ein wenig enttäuscht, beschwichtigt er sich mit dem Vorhaben, es am Abend noch einmal zu versuchen, wenn die Lichter angehen, die grellbunten Leuchtreklamen marktschreierisch um Kundschaften buhlen werden. So begnügt er sich für den Moment mit weiteren einfachen Milieustudien, die ihm dabei helfen sollen, sich in diese Welt hineinzudenken, hineinzufühlen, zwei Faktoren, die ihm für die Lösung des Falles äußerst wichtig erscheinen.

      Ein leichtes Zwicken und Grummeln in der Magengegend macht ihn nach nochmaligem Durchstromern des Viertels darauf aufmerksam, dass er seit dem Morgen nichts gegessen hat. Da es noch mindestens zwei Stunden sein dürften, bis sich die Gegend mit Leben erfüllt, beschließt Claude in einem nahegelegenen Lokal einzukehren, um sich bei einem leichten Imbiss die zuvor gekaufte Zeitung zu Gemüte zu führen, hat er den Geschehnissen der aktuellen Weltpolitik in den letzten Tagen doch allzu wenig Beachtung geschenkt, wo er sich diesbezüglich doch an und für sich stets auf dem Laufenden zu halten bemüht. Das zum Nachtisch bestellte Stück Kuchen schmeckt für die Gegend erstaunlich gut, ebenso wie der Kaffee, der ihn aufputschen, die ganz allmählich seine Glieder und seine Gedanken lähmende Mattigkeit vertreiben soll.

      20:48 Uhr

      Die knapp zwei Meter über seinem Kopf befestigte Lichtreklame erhellt - im Sekundentakt flackernd - Claudes Antlitz, auf dem sich die schrillen Farben gedämpft widerspiegeln, wohingegen sie in den blankgewienerten Blechkutschen entlang des Bürgersteigs ihre volle knallige Farbenpracht zum Besten gibt. Doch nicht nur die Lichter sind zwischenzeitlich angegangen, wie Claude an der Straßenkreuzung stehend registriert, auch der Verkehr hat zugenommen, Parklücken sind rar geworden, die Trottoirs sind bei weitem nicht mehr so verwaist wie vor wenigen Stunden noch, und auch die Musik, die durch die Türen dringt, ist geräuschintensiver geworden. Die Arme einander um die Schultern gelegt und sich küssend, flanieren zwei Schwule an ihm vorbei und tauchen zwanzig