Handover. Alexander Nadler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alexander Nadler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741848018
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das Gros der Leserschaft verfallen zu sein schien. ‚Seriösen Journalismus, basierend auf verantwortungsvoller Recherchearbeit, nicht geleitet von Show und Modetrends, wo gibt es den noch? Leider viel zu wenig! Klar, die Verkaufszahlen müssen stimmen, Sentimentalität ist da nicht gefragt‘, bilanziert Claude für sich selbst in Sekundenschnelle die leidvolle Erfahrung seines persönlichen Schaffens. An sein Gegenüber gewandt: „In diesem Zusammenhang hätte ich noch eine Frage, und zwar, ob ich wohl in die Wohnung meines Bruders dürfte. Wie mir der Chefredakteur der Zeitung mitteilte, beabsichtigen sie eine kleine Retrospektive über das Schaffen meines Bruders zu bringen, wobei ich ihnen bei der Zusammenstellung des Bildmaterials helfen soll. Dafür müsste ich aber in das Archiv meines Bruders.“

      „Da kann ich Ihnen momentan nicht weiterhelfen, darüber entscheidet Hauptkommissar Krüger. Der ist allerdings heute nicht im Hause. Ich muss Sie daher in dieser Angelegenheit um Geduld bitten, vermutlich werden wir jedoch noch einmal einen Ortstermin vornehmen. Erst danach besteht eventuell die Aussicht, dass Sie Zugang zur Wohnung Ihres Bruders erhalten. Ich denke aber, dass dies noch im Laufe dieser Woche der Fall sein dürfte.“

      „Selbstverständlich möchte ich nicht Ihre Ermittlungen behindern. Sagen Sie mir einfach Bescheid, wann ich an das Archiv kann.“ Die Aussicht, noch einige Tage untätig ausharren zu müssen, missfällt Claude zwar, um nicht den Verdacht des Kommissars zu erwecken, bleibt ihm jedoch nichts anderes übrig als in den sauren Apfel zu beißen. „Und bitte halten Sie mich über den Stand Ihrer Nachforschungen auf dem Laufenden."

      „Selbstverständlich. Und sollten wir Sie noch einmal benötigen, so rühren wir uns bei Ihnen. Sie bleiben doch in der Stadt?“

      „Ja, natürlich, wer kümmert sich denn sonst um die Bestattung.“ Trauer schießt in Claudes Augen und Stimme. Schmerz, unsäglicher Schmerz durchfährt ihn, als das Bild seines dahingestreckt in einer Blutlache liegenden Bruders sich erneut gedanklich in den Vordergrund drängt. „Grüßen Sie Herrn Krüger von mir. Ich warte auf seinen Anruf.“ Das leichte Frösteln, das Claude beim Verlassen des Polizeipräsidiums aufgrund der gefühlsmäßigen Erregung überläuft, wird durch die mittlerweile hoch am Zenit stehende Mittagssonne nur ganz allmählich gelindert. ‚Also warten‘, sucht er sich zu beruhigen, ‚hoffentlich nicht zu lange.‘

      Donnerstag, 17. April 1997, 15:30 Uhr

      Wie im Fluge ist der Vormittag mit dem Ausfindig-Machen eines Bestattungsunternehmens und dem Besprechen der nach Freigabe des Leichnams anstehenden Beisetzungsformalitäten vergangen. Claude fühlt sich davon reichlich ausgelaugt, als er müden Schrittes die Lobby seines Hotels betritt und sich zielstrebig in Richtung Aufzug hält, kurz bevor er ihn erreicht vom Concierge jedoch aus seinen Tagträumen gerissen wird: „Herr Duchamp, ich habe hier eine Nachricht für Sie.“

      Ungewohnt unwirsch reißt Claude den ihm gereichten Umschlag auf, was er auf seine nicht ganz intakte Psyche zurückführt. Diese verbessert sich beim Überfliegen der Zeilen indes schlagartig. Mit einem hastigen: „Dankeschön“ verschwindet er sodann in dem mittlerweile bereitstehenden Lift, und kaum in seinem Zimmer angekommen, das Kuvert noch in der Hand, setzt er sich telefonisch mit Hauptkommissar Krüger in Verbindung, der sich auch sofort persönlich meldet: „Hier Krüger, Mordkommission.“

      „Guten Tag, Herr Kommissar, hier Claude Duchamp. Ich habe soeben Ihre Nachricht erhalten. Danke, dass Sie an mich gedacht haben. Wann wollen Sie denn in die Wohnung meines Bruders?“

      „Wenn es Ihnen passt, gleich.“

      „Selbstverständlich, das passt mir ausgezeichnet.“

      „Gut, wir kommen dann in ein paar Minuten bei Ihnen im Hotel vorbei und holen Sie ab.“

      „Okay, ich warte in der Lobby auf Sie. Bis gleich also.“ Die sich unerwartet rasch aufgetane Chance, Zugang zu Philipps Archiv zu erhalten, hat Claudes Müdigkeit, in die sich allmählich ein Schuss Resignation zu mischen begann, urplötzlich vertrieben, deutlich spürt er, wie neuer Tatendrang Körper und Geist belebt. Mit kaltem Wasser wäscht er sich das Gesicht, um die ohnehin wieder rege gewordenen Lebensgeister nachdrücklich wachzurütteln. Und während er sich mit der Bürste durchs Haar fährt, blickt er tief in die Augen seines Spiegelbildes, so als wolle er sich durch Selbstsuggestion in seiner Zielsetzung bestätigen. Einmal kräftig den Rücken durchgedrückt, sich gestreckt, dann ist er soweit. Behänden Schrittes nimmt er diesmal die Treppe. ‚Vier Stockwerke, die sind doch ein Klacks’, amüsiert er sich im Stillen über seinen eigenen Tatendrang, mit dem er die Stufen paarweise hinuntersaust.

      Keine fünf Minuten sind vergangen, bis er die Kriminalbeamten vorfahren sieht, und noch ehe Mihailovic die Hotelhalle betreten kann, ist ihm Claude flinken Schrittes entgegengeeilt und fängt ihn an der Eingangstür ab, woraufhin beide in den Wagen steigen, den Krüger mit leicht quietschenden Reifen in Bewegung setzt. Wie der Wagenlenker - ab und an in den Rückspiegel blickend, um so Blickkontakt mit ihm herzustellen - Claude mitteilt, habe man sich, da die Ermittlungen auf der Stelle träten, heute Morgen kurzfristig für einen weiteren Ortstermin in der Wohnung des Ermordeten entschlossen. Und da er Mihailovic gegenüber den Wunsch geäußert habe, das Archiv seines Bruders durchforsten zu dürfen, sei es doch am sinnvollsten, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, zudem könne er sich selbst dann auch noch einmal in Ruhe in der Wohnung umschauen, möglicherweise fiele ihm jetzt, da der erste Schock vorüber sei, ja doch irgendetwas auf oder ein, das ihnen weiterhelfen könne.

      Claude hört den Ausführungen des Hauptkommissars und seines Assistenten nur mit einem Ohr zu, gleich einem auf eine freudige Überraschung wartenden Kind spürt er prickelnde Erregung in sich hochsteigen. Die Unsicherheit, das Nicht-Wissen, wonach er eigentlich suchen soll, treibt seinen Adrenalinspiegel umso weiter in die Höhe, je mehr sie sich Philipps Wohnung nähern.

      Leicht und leise schwingt nach dem Entfernen der polizeilichen Versiegelung die Wohnungstür auf. Während die Kriminalbeamten ohne irgendein Anzeichen emotionaler Regung den Türrahmen durchschreiten, überfällt Claude dabei für Sekundenbruchteile ein eigenartiges Gefühl der Beklemmung, fast ist es ihm, als ob er die Totenruhe seines Bruders dadurch störe, eindringe in ein ihm bis dato unbekanntes Reich. Doch ehe ihn dieser gefühlsmäßige Anflug wirklich übermannen kann, durchschneidet Krügers Stimme den von transparenter Totenstille erfüllten Raum: „Herr Duchamp, ich möchte Sie bitten, zunächst nichts anzurühren, und vielleicht könnten Sie sich erst noch einmal alles in Ruhe anschauen. Sie wissen schon, jeder Hinweis kann hilfreich sein.“ Der Kommissar winkt ihn zu sich ins Wohnzimmer, an den Ort des Verbrechens, das sich in Form der Kreidestriche, die die groben Konturen von Philipps Körper am Boden nachzeichnen, manifestiert, auf emotional brutale Art und Weise greifbar wird, so unverständlich es für Claude auch immer bleiben wird.

      So sehr er sich auch zu rationaler Denkweise durchzuringen bemüht, fällt Claude beim Gang und Schweifen der Blicke durch die einzelnen Räume beim besten Willen nichts Besonderes, Verdächtiges auf, nichts, was ihm nicht auch schon am Tage des Auffindens seines Bruders ins Auge gefallen wäre. Lediglich die drei Fotos, die ganz offensichtlich Philipps Verlobte zeigen, sieht er nunmehr mit anderen Augen. Ihre Erotik wirkt heute noch intensiver auf ihn, wird geradezu körperlich spürbar. Mit den Augen des erfahrenen Fotografen, der sein Motiv analytisch Punkt für Punkt zu fassen, zu verstehen versucht, tastet er die Bilder ab, und so oft seine Blicke auch über den makellosen nackten Körper gleiten, sich an den wohlgeformten Brüsten und dem scharfgeschnittenen Dreieck der Schambehaarung festsaugen, so ist nichts, aber auch gar nichts von schwülstiger Lüsternheit darin zu erkennen, aus ihnen spricht einzig und allein die Bewunderung für die Schönheit dieses weiblichen Wesens und die Fähigkeit seines Bruders, es auf diese fast schon übersinnliche Art und Weise ins Bild zu setzen. Wer war sie, für die er seinen Bruder anfängt zu beneiden. Wo konnte er sie finden? Könnte sie ihm weiterhelfen?

      „Wissen Sie, wer das Mädchen ist?“

      Er hat Krüger nicht kommen hören, daher zuckt der Angesprochene leicht zusammen. „Soviel ich weiß, war sie Philipps Verlobte.“

      „Eine