Handover. Alexander Nadler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alexander Nadler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741848018
Скачать книгу
des Gesprächs vor sich auf den Tisch, die Tasse mit dem zwischenzeitlich stark abgekühlten Kaffee reflexartig an den Mund führend.

      In der Tat hatte sich Philipp mit seinem couragierten Eintreten für andere, zumeist in ihrer Existenz bedrohte Menschen und Völker nicht nur Freunde geschaffen, dazu legte er seine Finger zu direkt auf die Wunden, schonte nicht mit Kritik, gegenüber niemandem, ganz gleich welchen Posten jener bekleidete. Angst vor großen Namen hatte er nie gekannt. Und wer der großen Herren, oder auch Damen, hat es schon gerne, wenn man ihnen die Wahrheit unverblümt ins Gesicht sagt, sie auf Widersprüchlichkeiten, Scheinheiligkeiten aufmerksam macht. Das in solchen Fällen für gewöhnlich einsetzende Gefasel von sozial- oder gar weltpolitischen Zwängen ließ sein Bruder nicht gelten, ihm ging es um Offenheit und Ehrlichkeit, um Zivilcourage, die Bereitschaft, auch Unliebsames auszusprechen. Es war ihm geradezu zum Hobby geworden, die leeren Worthülsen, mit denen sich bei der breiten Masse hochangesehene Persönlichkeiten zu profilieren suchten, wie Seifenblasen zerplatzen zu lassen. Schönrederei, das publikumsheischende Herunterleiern pragmatischer Formeln und Floskeln, die einen ins beste Rampenlicht bugsieren sollen, derlei fast schon heuchlerisches Benimm waren seinem Bruder ebenso fremd und zuwider wie ihm selbst. Selbstverständlich nahmen einem dies die Ertappten übel, ob dies allerdings als Motiv für einen Mord ausreichte, daran mag Claude nicht so recht glauben, denn so offen und unmissverständlich Philipp auf Fehler, Fehlverhalten oder gar Rechtswidrigkeiten hinwies, genauso diplomatisch verstand er es stets, seinem Gegenüber die Möglichkeit eines einigermaßen ehrenvollen Rückzuges zu belassen. Nie war es Philipp nur darum gegangen, den anderen bloßzustellen, seine Absicht war es vielmehr gewesen, den anderen wachzurütteln und ihm gleichzeitig einen Pfad aufzuzeigen, wie er aus der Ecke, in die er sich durch sein widersprüchliches Verhalten manövriert hatte, wieder herauskommen könnte. Dass kaum einer der Betroffenen darauf einging, war nicht seines Bruders Schuld gewesen, zu verführerisch und wichtig waren offensichtlich Macht und Geld, Ansehen und Vorteile, die sich die Angegriffenen verschafft hatten und auf die sie - zumindest zum Teil - hätten verzichten müssen, wären sie ihrem Gewissen, ihrem Schamgefühl und nicht ihrer Habgier gefolgt. Stundenlange, nächtelange Gespräche hatte er mit seinem Bruder diesbezüglich geführt, hatten sie nach Auswegen gesucht, Möglichkeiten, die Menschen aus ihrem, so schien es ihnen, immer sinnenleereren, dem reinen Hedonismus verfallenen Egotrip herauszureißen. Am Ende blieb jedoch jedes Mal die unbeantwortete, möglicherweise unbeantwortbare, ihren eigenen Standpunkt in Zweifel ziehende Frage unausgesprochen im Raum stehen, ob es nicht möglicherweise sie es seien, die so ganz anders, eventuell sogar abartig seien, denn offensichtlich gefiel sich die überwiegende Mehrheit der Menschheit in ihrer Rolle als krakelender, mal zu Tote betrübter, mal vor freudiger Ekstase laut jauchzender Totengräber, der Tag für Tag ein klein wenig weiter an seiner eigenen dunklen Gruft werkelt. Manchmal war am Ende eines solchen Gesprächs der von Ratlosigkeit gezeugte blanke Zynismus bei ihnen durchgebrochen, letztendlich stellten sie sich dann jedoch immer wieder aufs Neue ihrer Pflicht, denn es wollte nicht in ihre Schädel, warum sie als vernunftbegabte Wesen, wofür sie die Spezies Mensch trotz allem an und für sich hielten, tatenlos mit ansehen sollten, wie Verblendung und Ignoranz, Trägheit und Raffgier, Intoleranz und blinder Fortschrittswahn diesen Planeten leichtfertig aufs Spiel setzten. Dass sie sich oftmals wie die sprichwörtlichen Rufer in der Wüste vorkamen, vermochte ihrem Engagement keinen Abbruch zu tun, denn der Zuspruch von Menschen, deren Urteil ihnen wichtig war, bestärkte sie in ihrer Überzeugung, auf dem richtigen Weg zu sein, keinem Irrglauben verfallen zu sein, keinem Hirngespinst hinterherzujagen. „Sicherlich ein recht dorniger Weg, den wir da gegangen sind“, resümiert Claude leise vor sich hin brummelnd im Gedenken an seinen ermordeten Bruder, „aber ich verspreche dir, ihn weiter zu gehen!“

      Jetzt erst nimmt er die Stimmen ringsum wieder wahr, die dazugehörenden Personen, deren Gestikulieren, mit dem sie Gesagtes betonen oder Gehörtes kommentieren.

      Die Straße empfängt ihn mit frühlingshaftem Sonnenschein, lediglich die Temperatur stimmt nicht, ein paar Grad mehr müssten es schon sein. In die Gesichter der kreuz und quer an ihm vorbeilaufenden Passanten steht trotzdem in den allermeisten Fällen die erwartungsvolle Vorfreude auf sonnenerfüllte Tage geschrieben, an denen man einige Hüllen fallen lassen und sich behaglich einem kühlen Bier oder sonst einer Erfrischung hingeben kann.

      Claudes Gedanken schwirren, während er die wenigen hundert Meter bis zur nächsten Straßenbahnhaltestelle zurücklegt, indes ständig um das von seinem Anrufer angedeutete mysteriöse fotografische Material, das unter Umständen einen ersten konkreten Hinweis auf die schicksalshaften Geschehnisse geben könnte. Und während die Straßenbahn sich durch den Verkehr stadteinwärts schlängelt, bestürmen ihn immer wieder die gleichen Fragen. Wo könnte es sein? In Philipps Archiv? Möglich. Doch wie rankommen? Sicherlich ist Philipps Wohnung noch aus ermittlungstechnischen Gründen versiegelt. Vielleicht gelingt es ihm aber, von Krüger eine Sondererlaubnis zu erhalten. Doch was soll er ihm erzählen, welchen Grund soll er ihm nennen, dessentwegen er in die Wohnung seines Bruders möchte? Die Wahrheit jedenfalls nicht, zumindest noch nicht, auch wenn dies eigentlich seinen Grundsätzen widerspricht. ‚Mitunter ist eine Notlüge allerdings das kleinere Übel’, bemüht er sich, sein sich bereits im Vorfeld rührendes schlechtes Gewissen notdürftig zu beruhigen. Bei all dem Hin-Und-Her-Überlegen hätte er beinahe noch die Haltestelle verpasst, von der es nicht mehr weit bis zum Polizeipräsidium ist, bei dessen Gewahr-Werden ihm ein kalter Schauer den Rücken hinunterläuft, dessen Ursache ihm nicht ganz klar ist. Vermutlich ist es die aufsteigende Erinnerung an das erst vor wenigen Tagen Passierte, das zu begreifen ihm noch immer nicht so recht gelingen will.

      Auf den Fluren und aus etlichen Zimmern schweben Claude Gesprächsfetzen entgegen, unterbrochen vom Aufheulen eines Blaulichtes, das sich allmählich in der Ferne verliert. Zwei Uniformierte zerren eine übel zugerichtete männliche Gestalt, die sich unter Ausstoßung schlimmster Beschimpfungen aus den Schraubgriffen der Beamten zu befreien versucht, an ihm vorbei den Gang hinunter. Seinem Klopfen an des Hauptkommissars Bürotür wird mit einem deutlich vernehmbaren: „Herein“ geantwortet.

      „Ah, guten Morgen, Herr Duchamp. Was führt Sie zu uns?“ Mihailovics nach Tatendrang klingende Stimme ist offensichtlich gleichfalls vom Frühlingserwachen angesteckt. Von Krüger keine Spur.

      ‚Nur nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen‘, denkt sich Claude und antwortet stattdessen recht belanglos: „Ich war gerade in der Nähe und dachte mir, ich könnte mich nach dem Stand der Ermittlungen erkundigen. Sind Sie schon ein Stück weitergekommen?“

      „Nein, an und für sich nicht. Die Ergebnisse der Spurensicherung haben bislang keinerlei konkrete Anhaltspunkte ergeben, die auf den oder die Täter schließen ließen. Und Sie, ist Ihnen noch irgendetwas eingefallen, was uns weiterhelfen könnte?“

      Dem kaum wahrnehmbaren verneinenden Kopfschütteln folgt ein versonnenes: „Nein“ von Seiten Claudes, der noch immer nicht so recht weiß, wie er sein wahres Anliegen vorbringen soll. Doch da baut ihm der Kommissar unvermutet eine Eselsbrücke. Sich vom mit zahllosen Ordnern vollgestopften Aktenschrank herüber an Claude wendend, kommt ihm Mihailovic nichtsahnend entgegen: „Ach übrigens, Herr Duchamp, gestern Abend rief hier jemand von einer Zeitschrift an und wollte etwas über den Fall wissen. Ich weiß jetzt seinen Namen nicht mehr, Krüger hat mir heute Morgen nur davon erzählt. Dann wollte er Ihre Adresse, eines Interviews wegen, wie er behauptete. Hat er sich bei Ihnen schon gemeldet?“

      „Ja, ja, heute Morgen. Sie wollen ein Interview mit mir machen, immerhin war mein Bruder in der Zeitschriftenbranche nicht ganz unbekannt, schließlich hat er für etliche Magazine regelmäßig gearbeitet, darunter gelegentlich auch den Brennpunkt. Ich habe allerdings noch nicht zugesagt, Philipp hätte das auch nicht gemocht, glaube ich."

      „Gut, wir wollten Sie nämlich diesbezüglich zunächst noch um Zurückhaltung bitten, Sie wissen ja, wie die Presse ist … zumindest in solchen Fällen.“

      ‚Da höre ich doch den alten Konflikt zwischen Polizei und Presse heraus‘, konstatiert Claude im Stillen, der die abschätzige Bemerkung des Kommissars indes nicht von der Hand zu weisen vermag, denn hat sich nicht ein Gutteil der Presse in der Tat durch unsachgemäße, ja mitunter unseriöse Berichterstattung immer wieder ins Kreuzfeuer der Kritik begeben, ein