Lowlife. Julian Wendel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julian Wendel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750211179
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und mit dem Kopf vor den Deckel prallte… Ein giftig saurer Schwall… Tränen in den Augen… Mein Arm lag auf dem Rand der Toilette. Angewidert als ich sah, dass noch Pisse halbtrocken darauf klebte, kam es mir fast noch einmal hoch… Ich fühlte mich wie ein reuiger Säufer, erschlagen von einem Delirium des Kummers und nichts da, um dagegen anzusaufen… Brauchte wirklich eine vernünftige Ausrede… Dieses Jahr sollte ich achtzehn werden… Warum veranstaltete ich nur solchen Schwachsinn?… Da hatte kein Heizungsrohr auf dem Boden gelegen, an dem ich mich aus Blödheit selbst verletzt hatte… Warum also?… Es war wertlos, in jenem Moment noch danach zu fragen… Auch danach… Wichtiger war die Ausrede, die ich versuchen musste, in meinem ausgehöhlten vertrockneten Schädel gedeihen zu lassen.

      Draußen hatte sich längst der Schatten der nächsten Nacht über das Land gelegt und das Haus war still. Sodann schleppte ich mich erst einmal hoch zu meinen Alten, um sie mit meinem Übel zu konfrontieren. Doch meine Scham war zu groß, um ihnen die Wahrheit darüber zu erzählen… Konnte man ja auch schlecht sagen… »Hallo hier bin ich! Hab mich gestern im Suff selbst verstümmelt! Wie gehts euch so?«

      Ich hatte mir einen Schwindel überlegt… Eine offizielle Version, der Geschehnisse, an die ich mich selbst nur noch vage erinnerte und die es galt, den Vorgesetzten und meinen Eltern glaubhaft zu machen. Vorsichtig öffnete ich die Wohnzimmertür… Da saßen alle beisammen, bei gedämpftem Licht und vor dem lautlos geschalteten Fernseher und wirkten auf mich wie stumme Richter vor einer Anhörung… Beklemmend.

      Ich erzählte ihnen, es wäre beim Feuerwerk passiert, dass ich ausgerutscht wäre und dabei auf die geballte Faust gefallen, mit der ich versucht hätte, den Sturz abzufangen. Am nächsten Morgen würde ich erst einmal zur Arbeit gehen und dann dort sogleich meine Hand präsentieren. Erst danach würde ich den Arzt aufsuchen… Schüttelnde Köpfe… Ernste Minen… Sie nahmen es mir ab, ohne dass eine große Diskussion entstand… Sie saßen einfach da, eine Müdigkeit in der Haltung und den Gesichtern, die Strenge und Besorgnis erweichte, sie abschmelzen ließ… Diesen Umstand nutzte ich, indem ich schnellstmöglich unter die Bettdecke kroch und versuchte Schlaf zu finden… Dringend brauchte ich das seichte Vergessen… Vielleicht würde am nächsten Morgen alles wieder ganz anders aussehen.

      …

      Verspätet aufgewacht, quälte ich mich am nächsten Morgen mit meiner krummen Pfote in die Klamotten und trat den Weg zu meinen Peinigern an, der mir vorkam wie ein unaufhaltsames Fließband, auf das ich mit den Füßen festgeklebt war, mit vor Aufregung nervösem Magen und zitternd wie ein Junkie auf Entzug, immer näher dem Schlund eines Ofens heranrückend… Würde man mir die Angst ansehen können? Wie würden meine Symptome ausgelegt werden?… Kaum in der Werkstatt angekommen und gerade auf dem Weg zum Umziehen, dadurch versuchend guten Willen vorzutäuschen, sah ich aus den dunklen Kriechtiermausoleen des Kellers das Wiesel hervortauchen. Geradezu groteske Fröhlichkeit erging sich, aufbrennend im ungesunden Leuchtstofflicht der Werkstatt, auf den vergrämten, faltigen Zügen seiner Zuchthäuslervisage. Noch nicht ahnend, was folgen würde, wurde es aufgehalten von Christoph, der seinen Weg kreuzte und auf den es zum Überraschungsangriff überging, indem es ihn stellte und mit energischem Händedruck begrüßte… Der ganze Kerl schüttelte sich mit und blickte verwirrt drein… Scheinbar war es eine der seltenen Okkasionen, zu der es sich in gut gelaunter Stimmung befand… Die Beiden wanden sich mir entgegen. Wie angewurzelt blieb ich neben dem Werkzeugschrank mit dem verstaubten Radio stehen… Und hielt zaghaft meine ramponierte Hand hoch, sobald sie die letzte schützende Distanz überbrückt hatten… Da hatten sie sich nun vor mir aufgebaut… Ich erwartete kochendes Blut… Einen kolossalen Wutanfall und drakonische Bestrafung, sah ich doch, wie sich augenblicklich die Gesichter verfinsterten. Christoph verschwand in die andere Halle und entsagte mir somit seinen Beistand.

      Das Wiesel holte tief Luft, wobei es seine schiefen, gelben Zähne zeigte und ich schoss in verzweifelter Gegenwehr die einstudierten Worte meiner Notlüge wie Salven von mir.

      Zu meiner Erleichterung kaufte man mir meine Geschichte ab. Natürlich zweifelte ich nicht, dass es Hintergedanken gegeben hatte aber, man sprach mich nie wieder auf den Hergang des »Unfalls« an.

      Der Macker räumte entrüstet das Feld, die Werkstattüre flog zu und die Tore zitterten wie ein verängstigtes Tier in der Falle, stampfende Schritte auf den Treppen zum Wohnhaus, zuletzt krachte die Haustür in die Angel… Feiner Zug von ihm, seinen Hass und seine Wut dieses Mal am Gemäuer auszulassen… Alles war wie geplant verlaufen und so machte ich mich wieder auf den Weg nach Hause, um mich in anständige Klamotten zu werfen und anschließend meine Diagnose einzuholen… Wie man es mir schon prophezeit hatte… Ein Besuch bei meinem neuen Hausarzt, dem ich mich anvertraut hatte, nachdem die Hippietante zur Privatpatientendoktorin geworden war… Erneutes betasten… Ein kurzes Gespräch, bei dem der Mann mit Halbglatze nebenher hastig über bürokratischen Korrespondenzen fluchte, zwischendurch seine Fragen zum Unfallhergang auf mich einprasseln ließ, sich dann wieder empörte, er hätte mittlerweile mehr mit dem Papierkrieg und den Krankenkassen zu tun, als dass ihm noch Zeit für die vielen Patienten übrig bleib… Viele seiner Ärztekollegen zögen sogar schon externe Firmen hinzu, die sich dafür bezahlen ließen, sich um den anfallenden Papierkram zu kümmern… Raus aus dem Untersuchungszimmer… Zum Empfang… Da winkte mir eine Auszubildende schon mit der Überweisung entgegen… Mit dem Bus in die Stadt… Ein Irrlauf über die verwinkelten Krankenhausflure… Warten… Röntgen… Erneutes Warten zwischen schlaffen Gesichtern und eingeknickten Betriebsunfällen, Bandagen und Gipsen… Krücken… Dem allgemeinen Siechtum.

      Nach der Prozedur saß ich ganz benommen daheim, war selbst eingegipst und betrachtete mit gemischten Gefühlen den gelben Schein, wissend, dass er zwar einerseits eine Befreiung darstellte, mich aber andererseits zu einem weiteren Vorsprechen bei den Schakalen im Büro nötigen würde.

      Was denn nun aus mir werden solle, hieß es dort und die Luft war dick von Zigarettenqualm und der unausgesprochenen und empathiefreien Sorge dieser Hyänen, dem eigenen Vorteil beraubt worden zu sein… Ich würde wohl kaum wieder arbeiten können mit meiner gebrochenen Hand… Na, klar… Sie gaben sich besorgt, heuchelten Mitleid… Einer weniger, der die Freuden der Vernichtung durch Arbeit genießen durfte… Ich argumentierte zaghaft und trocken… Knochen wuchsen wieder zusammen… Und das würde schon wieder werden… Und da wäre ich mir sicher… Diese und andere Worte hatte ich mir sorgfältig zurechtgelegt, während nebenher der Gedanke in mir wütete, dass die kleinen Risse in der Psyche viel schwerer heilten… Manchmal überhaupt nicht… Oder kamen wir alle etwa schon bekloppt auf die Welt?… Was, wenn das Beklopptsein der Normalzustand war?

      …

      Linkswichsen… Daran hatte ich mich in den folgenden Wochen zu gewöhnen… Nicht so unbequem wie die Vorstellung, beide Hände gebrochen zu haben… Der Mensch gewöhnte sich an vieles… Nachdem der erste Trubel überstanden war und ich erst einmal Abstand von den Geschehnissen an der Arbeit gewonnen hatte, war das Leben plötzlich sehr entspannt. Alles was ich tat, war alle paar Wochen zur Berufsschule zu erscheinen und dazwischen so richtig anständig und aufrichtig zu verlottern… Tage zogen gemächlich vorbei und die Zeit wurde durch Marihuana-Räusche gedehnt und gestreckt… Rumlungern an den Wochenenden… Herrlichkeit! Wahre Herrlichkeit!

      Doch der unheilige Gral der Gesellschaft, die angestrebte Vollbeschäftigung, nach der scheinbar alle außer meiner selbst auf der Suche waren, zwang mich dazu, den größten Teil der Zeit allein im Zimmer zu verbringen und mich um einen Zeitvertreib zu bemühen… Das Fernsehen hing mir irgendwann zum Halse raus… Nichts war beschämender als die Spottbilder und Scheusale, die gestellten, traurigen Zerrbilder hässlicher Halbwahrheiten, die von mittags bis abends und spät in die Nacht aus dem Äther flimmerten… Man wollte am liebsten alles gleich zum Teufel jagen, das ganze drastisch dreist debile Schmierentheater mitsamt der Scheißkiste zum Fenster rauswerfen.

      Also begann ich zu lesen… Und hörte auch nach meiner Genesung damit nicht auf… Nach und nach arbeitete ich mich durch die gebundenen Romane meines Vaters und Großvaters, unter denen man alles Mögliche zwischen Hoch- und Unterhaltungsliteratur fand, und, weil das Leben noch nicht schrecklich genug war, nahm ich mir den einen oder anderen Horroroman