Zwanzig Fässer westwärts. Thomas Staack. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Staack
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844265491
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„Nie, das ist weit weg“, meinte Lucas und sah versonnen zu den Sternen. „Ich höre kaum noch von ihnen.“

       „Wissen sie nicht einmal, dass es dir gut geht und was du machst?“

       „Sie haben nie gebilligt, was ich mache. Mein Vater ist Fischer, ein strenger Mann mit klaren Moralvorstellungen. Meine Mutter hat einen Krämerladen. Ein Dieb passt nicht ins Familienbild. Ihr Nachwuchs hat sie sehr enttäuscht, und ich habe keine Geschwister, die es besser machen könnten.“

       Juliana streichelte seinen Rücken. „Das klingt traurig. Ist es dir peinlich? Haben sie dich verstoßen?“

       „Du willst aber wirklich alles wissen“, grummelte er vor sich hin.

       „Und du lässt dir jedes Wort aus der Nase ziehen. Ich habe dir auch von mir erzählt.“

       Lucas seufzte. „Na schön. Ob es mir peinlich ist, dass ich Menschen bestehle? Nein, warum? Ich mache es gern und kann es gut. Jeder hat seine Talente, denke ich, und das ist meines. Ich zweige etwas von denen ab, die viel haben. Nicht weil ich sonst Hunger leiden würde oder um anderen zu helfen. Ich bin kein Wohltäter. Ich kann es einfach gut, und es kann ein sehr einträgliches Geschäft sein. Ich war schon immer gut darin. Die Anfänge waren dumme Jungenstreiche, mit denen wir die Einwohner von Wasserfall und die Schwestern im Kloster zur Verzweiflung getrieben haben. Wären wir nicht im Dorf geboren worden, hätten sie uns bestimmt schon mit zwölf Jahren gehängt.“

       Er grinste. „Und als wir sechzehn waren, kamen Martin und ich auf die Idee, die Welt sehen zu wollen. Natürlich brauchten wir dafür Geld, das in Wasserfall nicht leicht aufzutreiben war. Also entwickelten wir einen großartigen Plan: Wir erleichterten einen fetten Händler, der regelmäßig ins Dorf kam, um seine Börse. Danach hat der Händler Wasserfall über Jahre gemieden, was uns unsere Verwandten sehr übel genommen haben.“

       „Martin ist doch der Freund von dir, mit dem du jetzt auf Fahrt gehst, nicht wahr?“

       Lucas nickte. „Wir haben uns damals getrennt. Er ging in Richtung Süden, ich gen Osten und landete schließlich hier. Ich habe ihn ewig nicht gesehen, aber ich vertraue ihm. Er war in meiner Jugend stets mein bester Freund.“

       „Pass auf dich auf.“ Zärtlich küsste Juliana seinen Hals. „Es wäre schrecklich, wenn dir etwas zustoßen würde.“

       Er zog sie noch dichter zu sich heran und streichelte ihre Schenkel. „Das mache ich. Wenn alles klappt, werde ich eine Menge Geld haben, und du bekommst vielleicht noch eine Gelegenheit, heimlich mit mir zu fliehen.“

       Juliana lächelte und ihre Augen leuchteten.

       „Vielleicht“, hauchte sie und küsste ihn auf den Mund.

      Zweites Kapitel

       Über Stock und Stein

      Am nächsten Morgen kurz vor Sonnenaufgang trafen sich Martin und Lucas vor dem Gasthaus Zum schwarzen Eber. Martin zog seinen Freund in die Schatten des Eingangs. „Bereit zum Aufbruch?“

       Tief durchatmend nickte Lucas. „Sicher. Ich habe mich schweren Herzens von Juliana verabschiedet. Es gefällt mir nicht, sie so lange nicht zu sehen.“

       Ihm fiel auf, dass Martin erneut den schwarzen Umhang mit allerlei Ausbeulungen trug.

       „Was zur Hölle“, fragte er amüsiert, „hast du bloß unter diesem Umhang? Deinen Reiseproviant?“

       Nervös kratzte sich Martin im Nacken. „Fast. Jedenfalls alles, was ich unterwegs benötige.“

       Lucas runzelte die Stirn, verkniff sich aber eine weitere Stichelei.

       Sie schwiegen, bis sie den Stall für die Fuhrwerke erreichten. Er war an das Westtor der Stadt gebaut und bot reichlich Platz für die Handelswagen der Kaufleute. Zu seiner Beruhigung stellte Lucas fest, dass ihr Auftraggeber bereits vor den Stallungen auf sie wartete. Erasmus hatte alles vorbereitet. Er stand neben einem massiven vierrädrigen Wagen, auf dessen Ladefläche eine Vielzahl von großen Fässern getürmt und mit Seilen befestigt war. Die Pferde waren schon angespannt. Unruhig traten die zwei große schwarze Hengste mit breiten Hufen auf der Stelle und schnaubten durch ihre Nüstern.

       „Nur zwei“, raunte Lucas in Martins Ohr. „Mit denen müsste ich fertig werden.“

       Der Händler begrüßte die beiden überschwänglich und schüttelte ihre Hände. „Guten Morgen! Guten Morgen! Das hier ist mein Fuhrwerk. Sind es nicht prächtige Tiere?“

       Martin umrundete die nervösen Hengste, sah ihnen in die Mäuler und zurrte am Geschirr. „Es sind kräftige Pferde, aber sie scheinen mir etwas wild zu sein. Hoffentlich werden sie die Reise überstehen.“

       „Natürlich werden sie das! Sie sind zäh und ausdauernd!“, ergänzte Erasmus. „Sie sind aus meiner eigenen Zucht.“

       An Lucas gewandt, fügte er hinzu: „Wollt ihr euch nicht auch von der Güte meiner Hengste überzeugen?“

       „Nicht nötig.“ Lucas strich sich mit der Hand über seine roten Bartstoppeln. „Ich vertraue der Meinung meines Partners.“

       „Ah, ihr habt recht.“ Der Kaufmann rieb sich die Hände. „Vertrauen ist unter Geschäftsleuten unerlässlich. Nun zu euren Anweisungen, damit ihr rasch aufbrechen könnt. Die zwanzig Fässer mit meinem Rum gehen in den Hafen von Falkenberg. Mein Käufer ist Kapitän Scharfzahn. Er betreibt ein Handelshaus im Hafen, wird die Ware mit seinen Leuten entgegen nehmen und weiter verschiffen. Fragt im Hafen nach ihm und liefert die Fässer dort ab.“

       „Und die Entlohnung?“, wollte Lucas wissen.

       „Kein Problem. Kapitän Scharfzahn wird euch den Erhalt der Ware quittieren. Dann fahrt ihr zu meinem Unterhändler Sewolt im Kaufmannsviertel und lasst euch von ihm bezahlen. So ist es vereinbart. Hier ist eure Anzahlung.“

       Er drückte Lucas einen prall gefüllten Lederbeutel in die Hand. Wortlos warf Lucas den Beutel Martin zu, der ihn verdutzt auffing.

       „Wollt ihr etwa nicht nachzählen?“, bemerkte der Händler verblüfft.

       „Nein.“

       Martin blinzelte. „Nicht?“

       „Nein“, brummte Lucas durch die Zähne. „Selbstverständlich nicht, Herr Erasmus. Wir vertrauen euch voll und ganz. Schließlich überlasst ihr uns euer Gespann und die Ware. Da ist es nur fair, dass wir euer Vertrauen erwidern.“

       „Das gefällt mir!“, rief der Händler zufrieden. „Ich wünsche euch eine gute Reise!“

       Lucas nahm auf dem Kutschbock Platz, Martin setzte sich neben ihn, ergriff die Zügel und zog behutsam daran. Unwillig wieherten die Hengste, bäumten sich auf und traten scheu auf der Stelle.

       „Die Pferde müssen sich erst beruhigen, bevor wir losfahren können“, sagte Martin zu Lucas.

       „Das sehe ich“, meinte Lucas ungeduldig. „Vielleicht klappt es hiermit.“

       Aus den Augenwinkeln sah Martin, wie Lucas aufstand, eine Peitsche nahm, die seitlich am Kutschbock angebracht war, und sie in hohem Bogen über den Kopf schwang.

       „Nicht!“, schrie Martin schockiert. „Mach das nicht!“

       Doch es war zu spät. Ohrenbetäubend knallte die Peitsche in der Luft. Das plötzliche Geräusch erschreckte die Zugpferde und ließ sie aus dem Stand lospreschen. Mit einem solchen Ruck setzte sich der Wagen in Bewegung, dass Martin verdutzt die Zügel freigab. Lucas riss es von den Beinen, er purzelte nach hinten und prallte schmerzhaft gegen die vertäuten Fässer. In hohem Bogen segelte die Peitsche durch die Luft und landete im Sand, während das Gespann in halsbrecherischem Tempo um eine Straßenecke und durch das Stadttor hinaus jagte.

       Hustend blieb Erasmus im aufgewirbelten Staub zurück. Er trat vor, sammelte die Peitsche vom Boden auf und betrachtete sie nachdenklich.

       „Möge eure Reise gut und so ereignislos wie möglich sein, meine Herren - in unser aller Interesse.“

       Mit dem verschlagenen Lächeln eines Fuchses sah er der Staubwolke nach, die rasch