Zwanzig Fässer westwärts. Thomas Staack. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Staack
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844265491
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verrückt geworden?“

       „Warum nicht?“, erwiderte er ein wenig beleidigt. „Du wirst ihm ohnehin von uns erzählen müssen, bevor er es selbst herausfindet. Schließlich geht das mit uns schon vier Monate.“

       „Fünf Monate und zwei Wochen!“, korrigierte sie ihn wütend, „Aber erfahren wird er davon gar nichts. Er würde uns umbringen, erst mich, dann dich. Egal, ob ich es ihm erzähle oder er es auf anderem Weg herausfindet. Du kannst dir nicht vorstellen, wie jähzornig und brutal er sein kann. Du musst sofort gehen!“

       „Weib!“ Die Stimme klang nun schwer verärgert und kam näher. „Bist du im Schlafzimmer? Schläfst du etwa noch? Das darf doch nicht wahr sein! Ich arbeite tagein, tagaus und du liegst hier im Bett herum! Dir werde ich es zeigen!“

       „Verschwinde, verschwinde!“, flüsterte Juliana, so laut sie sich traute. Sie rannte quer durch den Raum und verriegelte die Tür. Lucas sah die Angst in ihren Augen.

       „Bitte, bitte geh!“, flehte sie.

       „Wohin denn? Er steht vor der Tür.“

       Die Schlafzimmertür bewegte sich, es polterte und rüttelte, doch der Riegel hielt stand. „Wach auf, Weib! Mach die Tür auf! Dein Mann befiehlt es dir!“

       „Durch das Fenster natürlich, du Dummkopf!“ Juliana öffnete die Fensterläden und schob ihn dort hin. Dann lächelte sie spitz. „Das kannst du doch besonders gut.“

       Lucas seufzte laut, hielt sich aber rasch die Hand vor den Mund, um das Geräusch zu unterdrücken. „Wann sehe ich dich wieder?“

       „Bald, sehr bald. Morgen Abend vielleicht?“

       „Na gut“, schmollte er, „wenn es denn sein muss.“

       Er schwang sich auf den Fenstersims und schaute hinab. Die Kletterrosen an der Wand waren für seine Zwecke wie geschaffen. Vorsichtig stieg er in die Tiefe.

       Juliana wollte gerade das Fenster schließen, als Lucas' Gesicht noch einmal vor ihr auftauchte. „Versprochen?“

       Sie unterdrückte ein Lachen und küsste ihn, wodurch er beinahe den Halt verlor. „Versprochen.“

       „Gut“, meinte er zufrieden und grinste. „Übrigens, dein Kleid liegt unter dem Bett.“

       „Du Blödmann!“, entfuhr es ihr, und sie drückte seinen Kopf nach unten.

       Die Blätter der Kletterrose raschelten, dann war er verschwunden.

       Pfeifend stieß Lucas die Eingangstür auf und wurde von einem säuerlichen Geruch in Empfang genommen. Die Taverne Zum schwarzen Eber lag in einem der schäbigen Viertel von Ostwall. Davon gab es in der Stadt immer mehr, denn Ostwall entwickelte sich nach und nach in eine Richtung, die weder Lucas noch den vielen Kaufleuten gefiel. Einst eine blühende Handelsstadt am Fuße der Schwarzen Berge, die über die Gebirgspässe mit den Barbarenhorden der Dürren Steppe und den Ländern jenseits der Berge Handel trieb, hatte das Stadtbild begonnen, sich nachhaltig zu verändern. Die Händler aus fernen Ländern blieben fern, die Handelsrouten über die Berge waren nicht mehr sicher. Oft hörte Lucas Gerüchte über rätselhafte Überfälle und verschwundene Wagen und Waren. Von Räubern und bösartigen Geschöpfen war die Rede, von Trollen, Riesen, Kobolden und Schattenwesen, welche die Schwarzen Berge angeblich heimsuchten oder zu ihrer neuen Heimat gemacht hatten. Meist blieben es Gerüchte. Gelegentlich jedoch kam ein einzelner Söldner oder Händler mit zerrissener Kleidung in die Stadt und erzählte, wie er gerade noch mit heiler Haut davongekommen war. Wie die meisten Menschen in Ostwall schenkte Lucas den Geschichten und Gerüchten keinen Glauben, aber es entstand genug Unruhe, um Händler ihre Geschäfte aufgeben und wohlhabende Bürger wegziehen zu lassen. Die meisten zog es gen Westen in Richtung der Hauptstadt Falkenberg. Statt ihrer kamen zwielichtige Gestalten nach Ostwall, die als Söldner für Handelskarawanen, Gold- und Edelsteinjäger oder Handelsvertreter von zweifelhaftem Ruf ihr Glück suchten. Die schleichende Veränderung hatte schließlich nicht nur die Bürger, sondern auch den Herzog von Eberbach, des östlichsten Herzogtums von Falkenstein beunruhigt. Er hatte die Zahl seiner Soldaten verdoppelt, Kasernen am Stadtrand errichten und die Stadt- und Burgmauern verstärken lassen. Bewaffnete ritten die Gebirgspfade ab und begleiteten Handelswagen einen Teil ihres Weges. Der Nutzen war freilich umstritten, denn die Handelsrouten schienen kaum sicherer zu werden und es gab Gerüchte von verschwundenen Soldatenpatrouillen. Obwohl der Herzog stets durch Aushänge und Marktschreier hatte versichern lassen, dass sie nicht der Wahrheit entsprachen, hielten sich die Gerüchte hartnäckig in den Gassen von Ostwall und verunsicherten Händler und Bürger noch mehr. Zugleich hatte der Sold der Truppen ein tiefes Loch in die Kasse geschnitten, bis dem Herzog nichts anderes übrig geblieben war, als die Steuern zu erhöhen. Das Fluchen der Bürger von Eberbach war beinahe bis nach Falkenberg zu hören gewesen. Lucas hingegen war es gleichgültig, denn er zahlte keine Steuern.

       „Herzlich willkommen“, begrüßte ihn der Wirt des Schwarzen Ebers, und schob ihm einen Metkrug über die Theke, „aber mach mir keinen Ärger.“

       Lucas grinste breit. „Ich doch nicht! Du kennst mich, Josef.“

       „Eben.“ Der Wirt rümpfte die Nase, während Lucas einen Schluck Met trank, sich mit dem Rücken zum Tresen stellte und umsah. Das Gasthaus war ungewöhnlich voll, fast jeder Tisch schien besetzt und mindestens ein Viertel der Anwesenden war Lucas unbekannt. Dabei war er Stammgast.

       „Warum ist es heute so voll? Wer sind die ganzen Leute?“

       Josef grunzte und ließ dadurch erahnen, wer dem Gasthaus seinen Namen gegeben hatte. „Neues Gesocks aus allen Himmelsrichtungen. Händler, Glücksritter, Abenteurer, Goldsucher. Noch nicht gehört? Es soll Gold und Edelsteine in den oberen Schichten der Schwarzen Berge geben. Jetzt kommen Leute her und wollen es finden. Und reich werden über Nacht.“

       „Das Gerücht habe ich schon gehört, als ich noch zehn Jahre alt war und als Fischer gearbeitet habe“, meinte Lucas. „Von damals bis heute ist mir niemand begegnet, der beim Goldschürfen in den Bergen irgendein Vermögen gemacht hat. Dass sich beim Fischen ein Goldklumpen in meinem Netz verfangen hätte, wäre wahrscheinlicher gewesen.“

       Überrascht hob Josef eine Augenbraue. „Du hast früher gearbeitet und dein Geld auf ehrliche Weise verdient? Kaum zu glauben!“

       „Reden wir lieber nicht darüber“, seufzte Lucas. „Ist heute sonst etwas passiert?“

       „Nein“, sagte der Wirt und bohrte gelangweilt mit einem Stück Holz in seinen Zähnen herum. „Nicht wirklich. Abgesehen von dem Kerl, der nach dir gefragt hat.“

       „Wer hat nach mir gefragt?“

       „Der seltsame Vogel da hinten am Tresen.“ Mit dem Holzstück deutete Josef in die entsprechende Richtung. „Er wollte wissen, wo du bist, ob du noch oft hierher kommst, ob es sich lohnt, auf dich zu warten. Er war mir ein bisschen zu neugierig, deshalb habe ich behauptet, dass ich dich lange nicht mehr gesehen habe. Eine glatte Lüge.“

       Besorgt reckte Lucas den Hals. Am Ende des Tresens stand eine hochgewachsene Gestalt mit einem langen braunen Umhang, der den gesamten Körper bedeckte. Die Ausbeulungen am Rücken und an der Seite ließen Lucas vermuten, dass der Fremde nicht unbewaffnet war. Das Gesicht war hinter einer großen Kapuze verborgen. Vor der Gestalt auf der Theke stand ein leerer Metkrug.

       „Das könnte interessant werden.“ Lucas wollte auf den Fremden zugehen, doch Josef ergriff seinen Arm und hielt ihn zurück.

       „Überleg es dir gut. Vielleicht haust du lieber ab.“

       Sanft lächelnd löste Lucas seinen Arm aus der Umklammerung. „Dafür bin ich viel zu neugierig.“

       Vorsichtig schritt er die Theke entlang und legte eine Hand um den Griff des Dolchs an seinem Gürtel. Der Unbekannte schien ihn nicht wahrzunehmen.

       „Fremder“, sagte Lucas und bemühte sich um eine sichere Aussprache. „Ich hörte, du suchst jemanden?“

       Die Gestalt wandte ihm den Kopf zu und nickte stumm. Lucas versuchte, in der Schwärze der Kapuze etwas auszumachen, aber er konnte nichts erkennen. Plötzlich riss sich der Fremde die Kapuze vom Kopf und rief: