Sarah löste den Blick von Thomas, den sie bis jetzt angesehen hatte.
Wie groß ist die maximale Abweichung?
Schwarz neigte den Kopf hin und her und zog Luft durch die Zähne.
Da ist im Moment noch relativ viel möglich, sagen wir plus/minus fünf bis sieben Tage. Ich schätze, dass ich es Ihnen nach Auswertung aller Daten aber auf ein, zwei Tage genau werde sagen können.
Thomas nahm Sarah die leere Kaffeetasse ab und stellte sie zusammen mit seiner auf das Tablett am Schreibtisch. Sarah nahm diese ungewohnte Geste erfreut wahr.
Ok, sagte er, dann erst mal danke. Wenn Sie noch etwas rausbekommen oder die Ergebnisse der Tests da sind...
... dann rufe ich sofort an, wie immer.
Schwarz drückte Thomas den vorläufigen Obduktionsbericht und den Stapel mit den Fotos in die Hand.
Dann wünsche ich Ihnen beiden einstweilen einen schönen Tag und grüßen Sie Herrn Dr. Gröber.
Er zwinkerte Sarah zu und hielt den beiden Ermittlern die Tür auf.
Sarah und Thomas warteten vor dem Aufzug, um zum Sitzungssaal zu gelangen. Die erste Besprechung, die Gröber persönlich leiten wollte, stand an. Da zum derzeitigen Zeitpunkt kaum konkrete Hinweise oder Spuren vorhanden waren und der Großteil der medizinischen und labortechnischen Befunde noch ausstand, diente die Besprechung hauptsächlich dazu, die Kollegen, die dem Fall zugeordnet wurden, zu informieren. Auf der Fahrt von der Gerichtsmedizin hatte Thomas Sarah bereits mitgeteilt, was er für ein Bild von der Todesursache, der Täter-Opfer-Beziehung und den möglichen Hintergründen hatte. Sarah fand es ganz wichtig, dass sie beide vor solchen Meetings den gleichen Wissensstand hatten, damit nicht einer von ihnen vor den Kollegen und vor allem vor Gröber in eine peinliche Situation geriet. Außerdem war ihr gegenseitiger Austausch immer sehr fruchtend gewesen. Thomas hatte Sarah von Beginn ihrer Zusammenarbeit an immer in seine Theorien eingeweiht und ihr kritisches Feedback eingefordert. Der erste Austausch, den er immer mit ihr alleine machte, und die darauf folgenden Diskussionen hatten meist zu sehr interessanten Ansätzen geführt und sie im Laufe der Zeit besser und eingespielter werden lassen. Außerdem waren die Sachverhalte dann schon von zwei Personen mit durchaus unterschiedlichen Standpunkten beleuchtet und dadurch gefiltert oder weiterentwickelt worden. Das versetzte sie in die Lage, die Kollegen nur mit fundierten und plausiblen Theorien zu konfrontieren. Auch nach außen gaben sie so ein äußerst kompetentes Duo ab. Letzten Endes war auch das mit ein Grund, warum Gröber trotz seiner offensichtlichen Abneigung Thomas gegenüber diesen fast immer zum Leiter der zusammengestellten Kommissionen machte. Und das, obwohl er mit seinen 36 Jahren noch zu den jüngeren Ermittlungsbeamten gehörte.
Als sie im Sitzungssaal ankamen, saßen dort bereits Hans Pfefferle und sein Partner Thorsten Neubauer sowie Karen Polocek und Nico Berner. Sarah sah auf die Uhr: absolut pünktlich. Gröber würde mindestens 15 Minuten später kommen, nur um seine Wichtigkeit zu demonstrieren.
Sarah und Thomas begrüßten ihre Kollegen und setzten sich auf die freien Plätze am oberen Ende des Tisches.
Und, wollen wir schon anfangen oder lieber warten, bis der Chef da ist?
Pfefferle war ein gemütlicher, ziemlich übergewichtiger Kollege von 52 Jahren, der, den Vorruhestand bereits im Blick, in Bezug auf Gröber eine ähnlich lässige Haltung hatte wie Sarah und Thomas. Auch Karen Polocek und Nico Berner konnten gut mit Gröber umgehen, sie, ähnlich wie Sarah, mit einer eher souveränen Art, er, fast im Stile von Gröber selbst, mit einem gehörigen Schuss an Überheblichkeit und Arroganz. Allein Thorsten Neubauer, der leptosome, kurzhaarige Neuling, den Pfefferle unter seine Fittiche hatte nehmen müssen, war geradezu panisch, wenn Gröber einen seiner Ausbrüche bekam. Wenn Gröber erste Anzeichen von Missbilligung erkennen ließ, trat bei Neubauer sofort der Schweiß auf die Stirn, er begann zu stammeln und sogar seine Pickel traten auf der blassen Haut weiter hervor und schienen an Farbe zuzunehmen. Er war wohl der einzige, der Gröber beflissen mit Herr Doktor anredete ohne zu wissen, dass er ihm damit bitterbösen Spott entgegenbrachte.
Wie würde er das aufnehmen, wenn wir ohne ihn anfangen würden?, fragte er und es war klar, dass er alles vermeiden wollte, was Gröbers Stimmung bereits zu einem so frühen Zeitpunkt könnte kippen lassen.
Der doppelte Konjunktiv verdeutlichte seine Unsicherheit.
Nun machen Sie sich mal nicht ins Hemd, Neubauer. Er wird Sie schon nicht auffressen, brummte Pfefferle.
Andererseits können wir die Zeit nutzen und noch einen Kaffee trinken. Ziehen Sie doch mal los und besorgen Sie uns sechs schöne Becher Automaten-Cappuccino.
Und wenn Gröber vor mir da ist?, entgegnete Neubauer und seine Nasenspitze begann schon etwas weiß zu werden.
Alle verdrehten die Augen, nur Nico Berner ignorierte die Situation völlig und betrachtete gelangweilt die Decke. Doch bevor jemand eine bissige Bemerkung in Richtung Neubauer machen könnte, öffnete sich die Tür und Gröber trat ein. Wie auf Kommando blickten alle mit mehr oder weniger gut verstecktem Erstaunen auf ihre Armbanduhren. Eine Sekunde Stille im Raum.
Uhrenvergleich, kommentierte Thomas lautstark und unverhohlen grinsend die komisch anmutendende Situation. Während Sarah „Rado“ sagte, Pfefferle „Citizen“ einwarf, Karen Polocek ihre leeren Unterarme hob und Berner ob des billigen Spaßes ein leicht angewidertes Gesicht zog, war von Thomas Neubauer ein „13.04 Uhr“ zu hören.
Naturgemäß hatte auch Gröber den Witz nicht verstanden oder gab das zumindest vor und ging ohne eine Reaktion oder einen Gruß zum Thema über, während Sarah, Thomas und Pfefferle noch den verwirrten Ausdruck auf Neubauers Gesicht genossen. Dieser blickte unsicher und nervös von einem zum anderen.
Legen wir gleich los! Bierman, die Fakten. Und, wie immer, zuerst nur die Fakten. Rückschlüsse und Theorien später.
Thomas nickte. Ohne in seine Unterlagen zu sehen begann er, die bisherigen Ergebnisse zu referieren.
Wir haben eine bisher nicht identifizierte männliche Leiche. Körpergröße etwa 165 Zentimeter. Mit großer Sicherheit Asiate oder asiatischer Abstammung. Opfer eines Gewaltverbrechens. Todesursache ein einziger sauberer aufwärtsgerichteter Schnitt unter dem rechten Rippenbogen, der die Lunge massiv verletzt hat. Keine Abwehrverletzungen oder Folterspuren. Todeszeitpunkt in etwa vor drei Wochen. Die Leiche sauber in einer Gewebefolie eingebunden und einem Reisetrolley verpackt. Dazu wurden dem Opfer posthum die Hüftgelenke gebrochen. Des Weiteren wurden die Fingerkuppen an allen zehn Fingern mit einem scharfen Gegenstand abgeschnitten, ohne die darunter liegenden Knochen zu verletzen. Das geschah nach Einschätzung des Rechtsmediziners auch nicht aus Zwecken der Folter, sondern ebenfalls nach Eintritt des Todes. Die Verstümmelung dürfte dazu dienen, die Identität des Opfers zu verschleiern.
Er griff zu dem Stapel von Fotos, den Schwarz seinem vorläufigen Obduktionsbericht hinzugefügt hatte, und warf die Bilder nacheinander für alle sichtbar mitten auf den Tisch. Dann griff er zu dem Umschlag der Spurensicherung, den sie auf dem Weg ins Besprechungszimmer noch abgeholt hatten, und entnahm diesem einen Packen ausgedruckter Digitalbilder vom Fundort. Er breitete auch diese für jeden sichtbar aus.
Der Koffer wurde mit einigem Aufwand in einem abgelegenen Stück Wald in Günterstal versteckt. Kleidung und amtliche Dokumente wurden vom Täter, analog zu den abgeschnittenen Fingerkuppen, zur Erschwerung der Identifizierung entfernt. Aufgrund der fortgeschrittenen Verwesung ist kein Lebendbild zu erstellen. Der Abgleich mit der bundesweiten Vermisstendatenbank, den wir gestern trotz der wenigen Fakten über Körpergröße, Geschlecht, Zeitpunkt des Verschwindens und möglicher Abstammung durchgeführt haben, hat zu keinem vielversprechenden Ergebnis geführt. Pharmakologische und toxikologische Befunde, DNA-Analyse, Gebissschema, Analyse des Mageninhaltes, Abstriche jeder Art, sowie die Ergebnisse der erkennungsdienstlichen Untersuchung von Koffer, Folie, Seil und des gesamten Tatortes stehen noch aus. Das ist im Wesentlichen alles, was wir zu diesem Zeitpunkt an Fakten haben.
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