-Ich-
Eine Sache, das muss ich zugeben, trotz meiner Situation, trotz meiner, in manchen Momenten alles übertreffenden Abscheu gegen die virtuelle Welt: Das Erlebnis der Zeit, die Relativierung der Muster von Zukunft und Vergangenheit, dies war mir erst durch die Dauer möglich zu erfahren. Dass ich nicht sagen kann, wann, was bzw. in welcher Reihenfolge bestimmte Dinge in PR2 passiert sind, mag für einen Außenstehen erst Mal bedauerlich klingen. So bedauerlich, wie wenn man einem alten Mann zuhört, der eine seiner Geschichten erzählt und schließlich verzweifelt versucht, diese in den geschichtlichen Zusammenhang zu setzen. Die Zuhörer sitzen dann peinlich berührt, da sie selbst noch zu jung sind, um es miterlebt zu haben und auch zu jung, um den Verlust der Reihenfolge nachvollziehen zu können. Sie blicken in einem solchen Moment auf den Boden vor sich und warten, bis die Verwirrung des Alten durch ein neues Thema endlich ein Ende gefunden hatte. Schließlich übertönt diese Verwirrung die ganze Geschichte und was bleibt ist ein trüber Nachgeschmack, wie der eines faulen Eis, der sogleich durch eine neue Aktion, durch einen Spaziergang oder ein Spiel, zur Milderung gebracht werden muss. Nun, ich bin auch ein Alter Mann, doch ohne den Folgen des gealterten Körpers, wodurch man es mir nicht so nachträgt, nicht der Unfähigkeit des Alters zuschreibt, dass auch ich die Reihenfolge nicht selten verloren habe. Nach einigen Jahren viel es mir zuerst auf, als ich versuchte, zu erzählen, welche aufeinander folgenden Schritte nötig waren, um etwas bestimmtes zu lernen oder als ich darstellen wollte, wann etwas passiert ist und welche Folgen es hatte: Die Folgen purzelten aber schließlich vor das Geschehnis selbst und zurück, da mir die Fähigkeit einen Überblick zu behalten abhanden gekommen war. Anfangs war es mir, wie vielleicht auch zuerst dem alten Mann, der seiner Familie Geschichten erzählte, peinlich gewesen. Je größer aber der Zeitraum wurde, in dem all diese Dinge stattfanden, desto spannender erschien mir genau der Verlust der Reihenfolge. Schließlich: Was kam zuerst: der Samen oder der Baum, die Henne oder das Ei? Pflanzt man als Kind einen Samen ein und lebt das ganze Leben in dem Haus, so kann man den Samen wachsen sehen, bis er zu einem Bäumchen und später zu einem weit verästelten Baum mit grünen Blättern und Blüten herangewachsen ist. Nun aber, wenn man so lange lebt, dass man einen kleinen Wald sieht, weiß man irgendwann nicht mehr, welcher Baum der erste war, und viel später ertappt man sich bei der Geschichte, dass man von dem bereits immer bestandenen Baum den Samen nahm und nebenan anpflanzte, um den Wald entstehen zu lassen. Das Beispiel ist freilich sehr simpel. Bezieht man es auf Menschen, auf zwischenmenschliche Verhältnisse, so pickt man sich gerne einzelne Situationen beim erzählen oder nachsinnen heraus: ein Streit oder das kennenlernen, die Trennung oder auch eine Liebesreise. Schließlich erst, wenn man den Überblick über zahlreiche Beziehungen hat und sie sich von der Ferne der Zeit aus betrachtet, so wird man nicht, wie die meisten annehmen, aufgrund der Vielzahl gefühlstaub, ganz im Gegenteil: Erst wenn man in das Durcheinander der zufälligen Abfolgen eindringt, kann man die Veränderungen, ob gut oder schlecht, als zwangsläufig, als Personen unabhängig (aber in den Personen stattfindend) erkennen und erst die Liebe zu allem, auch dem negativen entdecken. Es spielt keine Rolle mehr, wann etwas war oder was zuerst war, nur dass es war, denn nur durch veränderliche Ereignisse zeigt sich das Leben, die immer wiederholten Natur gebundenen Ereignisse, die einander immer wieder abwechseln und Muster bilden, so wie es die Unendliche Zahl Pi macht. Mal kommt eine Zahl vom kleinen Punkt aus gesehen unendlich oft vor, nur um zu erkennen, dass, wenn man die Perspektive erweitert, sie schließlich doch durch eine anderen abgelöst wird - es bilden sich Muster, Verstrickungen und endlich, zu groß auch noch für mich, kommt einem alles ähnlich oft vor, gleicht sich von der größten Entfernung aus alles wieder einander an. Genauso ist es mit den Abläufen, den Erlebnissen, die zu Mustern werden, gelöst von der großen unübersichtlichen Reihenfolge. Was ich damit sagen wollte steht leider auch zu einem Kontrast zu meiner jetzigen Situation, die ich wie von dem kleinen Punkt irgendwo in einem Muster von Pi aus wahrnehme. Obgleich mir dieses Wissen einer höheren Perspektive gewährt ist, stehe ich im hier und jetzt und es ist mir kaum möglich, die eigentlich daraus resultierende Gelassenheit in meinem Denken umzusetzen.
-Erzähler-
Die Frage ob Erleben nur durch aktives Leben im Sinne von Teilhabe möglich ist, ist durchaus berechtigt und wird noch genauer erörtert. Man stelle sich aber zunächst vor, was schleichend eintraf: Die Entwicklung, die bereits im Internet begann und die durch einige soweit genutzt wurde, dass die Zeit, die sie in diesem Medium verbrachten, von längerer Dauer war als die außerhalb.
Ein Aspekt, der in Bezug auf virtuelle Welten einige Beachtung fand, ist der der Gewalt. Körperliche Gewalt ist schon immer ein Problem gewesen, dass oftmals sehr einseitig beschrieben wurde. Zeitungsartikel rügten mindestens jeden Montag die Gewalttaten Jugendlicher und Betrunkener, die vor der Diskothek oder auf den Bahnsteigen stattfanden. Skandale wurden ausgerufen, als Messer mit im Spiel waren. Natürlich wurden auch Kriege benannt, wobei dabei meist nur noch die Anzahl der Toten genannt wurde.
Gewalttätigkeit als Intimität? Die häufigste Gewalt, das immerhin konnte ausgesprochen werden, war die häusliche – es wurde auch in den jährlich erscheinenden Statistiken angesprochen, das schon – viele fühlten sich doch peinlich berührt, alle gaben sich schockiert, niemand sprach aus, dass auch er bzw. sie - ich benutze einfach immer er, nicht weil ich Frauen nicht genauso achte oder als ebenso gleichwertig betrachte, sondern der Form halber, ich finde es schrecklich dieses Querstrich in, durch das der Lesefluss komplett angehalten wird - in die Statistik gehörte. Daher die Intimität – niemanden gingen kleine Ausrutscher etwas an. Das sahen auch die Familienmitglieder so – ist die Schwelle überstiegen, dann gibt es nun mal kein Zurück mehr. Was folgt nach einem ersten, nach einem zweiten Schlag, einer kleinen Überschreitung? Der Versuch, es ungeschehen zu machen, beinhaltet selbstverständlich auch die Vertuschung, denn je weniger davon wissen, desto mehr können alle Beteiligte selbst daran glauben, dass der kleine Ausrutscher wieder nur ein Versehen war. Warum? Der Mann, manchmal freilich auch die Frau, dem Menschen tut es danach Leid, er ist fassungslos über den eigenen Kontrollverlust – so fassungslos, dass die Beteiligten Mitleid für die Person, die eben noch in unaufhaltsamer Rage und durch Worte nicht mehr aufzuhalten war, empfinden. Das Mitleid, das Mitgefühl für diese Fassungslosigkeit, sie ist es, die die Intimität hervorruft.
Was passiert nun also mit der Gewalt? Virtuelle Spiele besaßen meist viele Gewaltkomponenten und wurden auch für Attentate verantwortlich gemacht – sie gerieten in der Öffentlichkeit, vor allem unter Lehrern, Sozialpädagogen und andere, die immerzu Erklärungen für das widerspenstige Verhalten einer Jugendlicher suchten, Erklärungen, welche nicht das System in Frage stellten und auf die man leichter mit dem Finger zeigen konnte, sehr in Verruf – dabei wurde vergessen, dass alle Bilder, die die Gewalt zeigten, was in erster Linie im Fernsehen, das Massenmedium, in welchem der berichtende Journalismus zu einer Ausstoßung aneinandergereihter Sensationsbilder verstümmelt wurde, der Fall war, aber unter dem Begriff der News und Nachrichten dann wiederum erlaubt, da es als Wahrheit propagiert wurde. Das Fernsehen zeigte oft erst, was möglich war und machte es vor, die Videospiele machten daran meist nur einen Bruchteil aus. Die Frage des Gewalt Erlebens und der eigentlichen Ausführung muss in den Mittelpunkt gesetzt werden. Das Darstellen von Gewaltszenen mit Kämpfen, wie sie auch Kinder beim Spielen simulieren, führen nicht zwangsläufig zu realer Gewaltausführung, sondern stehen oft symbolisch für die Darstellung des Kräftemessens. Auch Schattenkämpfe und Kriegstänze hatten lange Traditionen in der Menschheitsgeschichte und führten nicht zu ständigen Gewaltausbrüchen bzw. für Gewaltexzesse verantwortlich gemacht. Persönliche Aggression, die aus Wut entspringt, ist also Voraussetzung für Gewalt.
Die Verlagerung des Mittelpunkts des Lebens in die virtuelle Welt und die schleichende Vernachlässigung der realen Welt konnte erst in einer Gesellschaft, deren sozialen Systeme wie Familien genug