-Erzähler-
Es war natürlich eine Frau, die Markus noch mehr an allem zweifeln ließ. Die Anziehung einer bestimmten Person ist häufig am größten, die Begierde nach ihr am heißesten, je weiter die Person entfernt und je stärker die Trennung ist. Es liegt wohl an den Träumen: Ob bei Tage oder bei Nacht, die Vorstellung des Aufeinandertreffens allein kann zig Male auf unterschiedliche Weise erfolgen: Ob schüchtern, still und langsam auftauend, ob mit einer ergreifenden Umarmung, die eine Ewigkeit dauern mag oder durch gierige Küsse; alle Möglichkeiten werden erdacht, mit Details geschmückt, die einem die Glut im Körper empor schießen lässt, um schließlich von neuem, mit neuen Ideen das Wiedersehen einzuleiten. Jede Nacht wird zu einem Erlebnis, denn bereits am Tage suchen die Träume einen heim, die in der Nacht die Zeit erhalten, aus den Abschnitten eine Erzählung, eine Geschichte zu schaffen. So bleibt es nicht nur bei der Begegnung, die Nacht wird zu einem Bonny & Clyde Spiel, denn wenn alle Welt erst gegen einen ist, so ist der Zusammenhalt noch einmal stärker. Die Grenzen, die überwunden werden müssen, die zu überwinden nur der Traum möglich macht. Nun bleibt die Frage, wie lange sollte man, wie lange darf man diesen Träumen, diesen Illusionen nachhängen? Die Frage nach den Träumen, die Wachträume im Zentrum, hat bereits seit Jahrtausenden die Menschen in ihren Bann gezogen: Was ist es denn, wenn zwei Menschen, allein durch gedankliche Konzentration der Meditation vertieft, zusammen etwas erleben können und beide hiernach getrennt von einander genau das gleiche erzählen, die gleiche Geschichte gemeinsam erlebt haben? Nun, was für die einen Weisheit und Segen ist, wird für die anderen zu einer Illusion. Die Rationalisten verwarfen alle nicht materiell nachweisbaren Phänomene, die Wissenschaft, sie musste nach ihren Grundsätzen die Traumwelt verbannen. Jetzt, da das offensichtliche, die Möglichkeit, durch Gedanken in eine andere Welt vorzudringen und in dieser vorrangig zu leben, von jedem genutzt wurde, hielt das alte Dogma trotzdem in vielen Köpfen an. Man kann es als dumm bezeichnen, denn es ist, wie wenn ein Mensch läuft, aber das Vorhanden sein der eigenen Beine nicht zugeben möchte, doch ist es im Grunde wie mit allen Grundsätzen: Von der Mehrheit angenommen, von der Obrigkeit durch Werbung, Wissenschaft und Medien vermittelt, glauben die meisten lieber an ein verbreitetes und vorgekautes Weltbild, als mit ihrer eigenen Meinung konträr zu der aller anderen zu stehen. Schließlich ging es auch Markus so, dass er in den Träumen um die Frau seines Herzens nach schwelgte, vielleicht gerade weil sie so unerreichbar war. Die Frau, die sich für einen natürlichen Tod entschieden hatte, für ein Leben in Armut, eine der wenigen, die noch einige menschliche Körperteile trug, die sich nicht auf die virtuelle Welt einlassen wollte, eine von den vergessenen, die ohnehin aussterben werden.
Freilich hatte auch Markus seine Frauen in der parallelen Welt gehabt und es fühlte sich alles beinahe echt an, die Liebe, das Zusammensein, sie war gut gemacht, diese Welt, nur das Wissen, das nichts echt und vor allem nicht veränderlich, nichts beeinflussbar war, dieses Wissen kam des öfteren dazwischen.
Es heißt: Die Zeit heilt alle Wunden. Doch ist es nicht auch die Zeit, die kleinere Wunden erst zu öffnen vermag? Kann eine Beziehung für eine Ewigkeit, nicht die Ewigkeit, die man sich früher noch in der Kirche geschworen hatte, denn da war sie ja noch endlich, noch durch den Tod begrenzt, sondern einer Dauer, die noch viel länger war, bestehen? Wie oft hatten Ehe über 25, über 50 Jahre lang oder noch länger gehalten? Nun waren die Menschen gealtert, doch was, wenn die Menschen agil bleiben und nicht ohnehin durch das zunehmende Alter das begehrende Interesse am anderen Geschlecht verlieren? – Schon das wurde immer seltener. Bis jetzt zumindest haben sich die meisten Ehegelübde nicht gehalten, denn schließlich sahen zu viele ein, dass die Ehe für ein endliches, abschätzbares Leben mit einem Alterungsprozess durchaus möglich war, doch nun, mit der gegebenen Zeit bröckeln irgendwann auch sehr feste Beziehungen. Natürlich gibt es auch Ausnahmen, wenige, denn manche bleiben auch in der parallelen Welt stets zusammen und halten sich aneinander. Bei vielen hält es dreißig, sechzig, vielleicht sogar neunzig Jahre, doch schließlich, wenn erst einmal erkannt ist, dass der Tod einen nicht trennen wird und auch keinerlei Altersschwächen einen zwangsläufig zusammenhalten, dann irgendwann trennen sich die meisten doch wieder. Man konnte es bereits im endlichen Leben feststellen: Junge Beziehungen endeten meistens wesentlich früher, nach einigen Jahren schon, während ältere wesentlich länger andauerten. Die Schmerzen einer Trennung blieben noch immer, wie auch die Freude über eine neue Liebe, das blieb dem Menschen erhalten. Manche Menschen blieben schließlich lieber alleine, wenn sie zu viele Trennungen, zu viele neue Liebschaften hinter hatten und kein Ende hin und her durch eine bleibende Partnerschaft absehen konnten, doch war dies auch nur für einige Zeit, denn wenn sie, die Zeit, die Wunden wieder geheilt hatte, war früher oder später doch wieder Zeit für neues. Wie eine Kurven zog sich das alleine sein, kennen lernen, auf dem Höhepunkt, der 1 sein und das anschließende Fallen der Kurve, die schwieriger werdende Beziehung und schließlich wieder die Trennung, der Nullpunkt, das alleine sein - die Länge einer Kurvenperiode war bei jedem abhängig von den Beziehungen unterschiedliche, ansonsten konnte man ein Kurvenschema bei allen Menschen erkennen. Die Dauer zeigte also, dass die Zeit nicht nur Wunden heilt, sondern auch Wunden öffnet.
-Ich-
Es war auch mein Fehler, der ich die individuelle Arbeit im Internet damals in meinem Umfeld gefördert habe, aber mit einem anderen Hintergrund – ich wollte den Menschen, die dem Druck der Karriere, der ewigen Vergleiche nicht mehr stand hielten, einen anderen Weg aufzeigen. Was ich mich jetzt, nachdem ich wieder tagelang nur gewandert bin, frage, ist: Wie leben die Menschen miteinander, da sie in keinem Abhängigkeitsverhältnis mehr zueinander stehen? Die Frage ist natürlich nicht neu, doch hier, wo die Menschen nicht mehr auf sich angewiesen sind, keine Lebensmittel benötigen, unabhängig von einer Unterkunft sind und kein Lebensende in näherer Zeit, sondern ganz im Gegenteil, ein unbestimmt langes Leben erwarten, wird die Frage nach dem sozialen Miteinander noch viel aufdringlicher.
Ich selbst war vielleicht schon immer mehr der Alleingänger, klar, mal mit einer Lebensgefährtin, mal ohne, doch hatte ich selten einen festen Freundeskreis, bei dem ich jeden Tag zu finden war. Natürlich war mir meine Familie