0 oder 1. Franziska Thiele. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franziska Thiele
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847690788
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möglich sei, die Welt, so wie sie ist zu sehen. Befürworter der virtuellen Welt, die freilich seltener waren, da die meisten damit beschäftigt waren, die Vorzüge dieser Welt zu genießen, sagten das Gegenteil, dass nämlich die Möglichkeiten vervielfältigt worden seien und wir schließlich nicht mehr unter fehlerhaften Sinnestäuschungen leiden würden, sondern ein jeder das gleiche aufnehmen könnten, unabhängig von seinen Stärken und Schwächen – dem Argument, dass Schwächere damit gleichgestellt wurden, wollten auch die wenigsten widersprechen.

      Die Verwehrung des Einlasses in die PR2 konnte auf zweifache Weise geschehen: Das implantierte Programm konnte durch einen erneuten Eingriff unwirksam gemacht werden, denn die überwiegende Mehrheit schaffte es nicht, den Einstieg in die parallele Welt nur durch eigene Konzentration zu erreichen. Die zweite Möglichkeit lag darin, einen Zugang zu all den Programmen zu schalten, um das gewünschte Programm, ähnlich, wie es im Netzwerk des Internets funktionierte, ferngesteuert zu verändern oder abzuschalten. Dass diese zweite Methode gewählt wurde, wurde von offizieller Seite in der Öffentlichkeit mit der Einfachheit des Systems für die Betroffenen und der Möglichkeit der schnelleren wieder Einschaltung begründet. Dass dieses System in kürzester Zeit mit allen Programmen vernetzt war, blieb für die meisten unbemerkt und warf keine Fragen auf. Manchen fiel es auf, doch sie sahen darin vor allem die unglaubliche Geschwindigkeit der Entwicklung, die Möglichkeiten der Vernetzung aller Menschen. Andere betrachteten eine solche Vernetzung realistischer und kritischer: Die Daten mussten längst vorhanden gewesen sein und in das System eingespeist, denn es handelt sich nur um eine Begründung für eine angeblich legale Art und Weise, um Zugriff auf die Programme und somit auf die umliegenden Nerven aller Menschen zu erhalten.

      Was hat das mit Geschichte zu tun?

      Die Auslegung und Deutung dessen, was wahrgenommen wurde, ist die Geschichte, nicht das, was wahrgenommen wurde – dies konnte man in früheren Zeiten, da die Geschichtsbücher noch in jedem Land unterschiedlich waren, zum Beispiel an den Darstellungen der Kriege beobachten. Ein jedes Land stellt ihn, den Krieg, aus einer anderen Perspektive und so, wie er gesehen werden soll, dar. Später, durch das Internet, trat der Journalismus, der noch stärker durch Meinungen beeinflusst war und wissend propagierte, an Stelle des Geschichtswissens - die minütlich wechselnden Neuigkeiten führten schließlich dazu, dass die Menschen das Denken beim Überfliegen dieser News, denn als Lesen konnte m an es nicht mehr bezeichnen, vergaßen und einfach zu manipulieren waren. Der Schutz der Menschen durch staatliche Maßnahmen bis hin zur Intervention wurde bereits bei der Überwachung des Datenverkehrs im Internet als Grund für die Überwachung und das Eindringen in die Privatsphäre genannt – und gegen Schutz hatten die meisten Menschen nichts einzuwenden. Der Journalismus wurde eingesetzt, um den Menschen die Gefahren angeblicher Terroristen zu verdeutlichen, um sie ängstlicher, weicher und gefügiger zu machen, sowie man Knetgummi erst einige Zeit bearbeiten muss, um ihn dann nach belieben Formen zu können. Im Hintergrund wurde freilich nicht erst seit dem 21 Jahrhundert schon an der Möglichkeit zur Massenüberwachung durch ein übergreifendes Datennetz wie das des Internets gefeilt, bis schließlich sämtlicher Datenverkehr offen lag. Den Menschen, die zum großen Teil aufgrund des wirksamen Journalismus, der mit Panik-Schlagzeilen und Angstverbreitung arbeitete, nahmen dies in Kauf oder gaben sogar freiwillig alle persönlichen Informationen – aus Angst vor einem nicht und nie da gewesenen Feind, dessen Bild und Name stetig gewechselt wurde, um ihr Angstpotential aufrecht zu erhalten. Als nun erwähnt wurde, dass die Kontrolle über das Programm die Menschen auch vor terroristischen Hackerangriffen schützen sollte, gab es kaum noch Widerstand - die Menschen hatten sich an die Überwachung längst gewöhnt.

      Die Bildung, die Geschichtsschreibung, sie gab es freilich noch immer, vereinheitlicht in Büchern oder in der parallelen Welt auch einfach als Gedankenpakete, die eingespeist und übernommen werden konnten. Menschen, die sich diese Arten von Bildung aneigneten, waren nicht selten jene, die sich früher zu den oberen Klassen gezählt haben, denn sie sahen sich selbst als gebildet, doch dachten sie, was sie denken sollten und hatten keinerlei kritisches Potential, sie waren bereits weich genug, um fertig geknetet zu werden.

      -Ich-

      Ich verbringe viel Zeit damit, mich zu erinnern. Bereits meine Eltern, die ein hohes, aber natürliches Alter erreicht haben, fingen mit fortgeschrittenen Jahren mehr und mehr an, aus ihrem Leben zu erzählen. Jedes Jahr, das man erlebt, fühlt sich, je älter ein Mensch ist, kürzer an als das vorherige. Das hängt mit den Relationen zusammen: Für ein vierjähriges Kind besteht die Hälfte seiner Lebenszeit aus zwei Jahren, für einen achtzig Jährigen aus vierzig Jahren. Dabei ist ein Jahr für den Vierjährigen schon ein Viertel des Lebens, während für den achtzig Jährigen ein Jahr nur ein Achtzigstel ausmacht. Da uns nach und nach Einzelheiten aus unserem eigenen Leben abhanden kommen, erzählen viele daraus, um sich selbst und andere davon zu vergewissern, dass es wirklich sie waren, die das erlebt haben. Manche Momente erscheinen noch glasklar und können, besonders bei Tagträumen noch in ihrer Intensität empfunden werden, andere verschwimmen zu einer Mischung aus Zeitgeschichte, Erlebten und Erfahrung. Die Distanz, die sich zwischen dem jetzigen nachsinnenden alten Menschen und der agil handelnden Person, die er einmal war, geschoben hat, lässt zwischen dem wirklich erlebten und der Vorstellung über die eigene Person eine Diskrepanz entstehen, sodass die Nacherzählung durch die Zeit zwangsläufig verändert wird, um diese wieder in einen Einklang mit der jetzigen, anders denkenden Person zu führen. Erzählt jemand eine Geschichte, direkt nachdem er sie erlebt hat, wird sie anders klingen als fünfzig Jahre später, wo sie durch ihre Resultaten nicht selten zuerst bewertet wurde.

      Warum ich mir so viele Gedanken darüber mache?

      Ehrlich gesagt empfinde ich die steigende Angst, meine Erinnerungen zu verlieren und gleichzeitig durch sie erstickt zu werden. Dass das nicht gerade logisch klingen mag, ist mir durchaus bewusst, aber man muss meine Lage bedenken: Ich und die meisten Menschen um mich herum sind nun wesentlich älter als jeder eines natürlichen Todes gestorbene Mensch – das heißt natürlich auch, dass jeder von uns so viele Erinnerungen in sich trägt, dass sie wieder verschwimmen. Es ist wie mit der Suppe, einem früher beliebten Nahrungsmittel, in die man Kartoffeln, Fleisch, Brühe, Bohnen, Erbsen und noch viel mehr hinein rühren konnte. Wenn man nun alles nimmt, was einem einfällt und es dann lange köcheln lässt, so kann man später beim Essen das Fleisch noch an der Konsistenz erkennen, weniger am Geschmack. Erbsen oder Bohnen, Möhren oder Kartoffel, wir können es kaum noch herausschmecken, fast nur erahnen. Nun, ich dachte immer, ich hätte ein gutes Gedächtnis, aber es scheint doch wie mit der Suppe zu sein: Köchelt man zu lange zu viel zusammen, so bleibt ein Brei aus Allerlei kaum definierbaren Klumpen, eine etwas zähflüssige Brühe übrig. Nun, manchmal, ich gebe es zu, wenn ich mich mit alten Bekannten unterhalte und sie über die gemeinsamen Erlebnisse erzählen, bei denen auch ich dabei war, dann wühle ich in meinem Erinnerungsbrei, teste das eine oder andere, aber finde doch nicht das passend schmeckende Stück, ich kann mich nicht mehr in meinen Erinnerungen zurecht finden, es sind so viele, sie sind so alt. Ich gebe zu, das mir solch ein Verlust widerfährt, ist keine Seltenheit. Die Gesichter der Menschen sind freilich nicht mehr die gleichen, denn natürliche Haut hätte sich nicht so lange regenerieren können und so wurden auch die Gesichter mit künstlicher Haut überzogen, was dazu führte, dass jeder anders aussah als zuvor und dass sich die Menschen mehr und mehr anglichen. Und das ist manchmal auch mein Glück, denn wenn ich mich wieder einmal nicht an ein Gesicht erinnere, dann versuche ich dies auf ein verändertes Aussehen zu schieben.

      Es geht nicht nur mir so, wie ich in vorsichtigen Gesprächen herausgefunden habe, denn freilich sprechen die meisten Menschen nicht gerne über ihren Gedächtnisverlust, der meiner Meinung nach nicht recht ein Verlust, sondern mehr ein Zusammenkochen ist, weil irgendwann die Nerven ausgelastet sind. Manche sprechen davon, dass es nur zum Guten ist, denn was wäre, wenn man sich an alle Einzelheiten erinnern könnte? Ich aber empfinde Angst, wenn mir jemand anderes aus meinem Leben erzählt und ich nicht einmal mehr beurteilen kann, ob es war ist oder nicht. Es macht mich traurig, wenn ich selbst schöne Momente nicht mehr nachfühlen kann.

      Nun, es gäbe da Möglichkeiten, sich einem Teil seines Breis zu entledigen, um wieder mehr Platz für die übrigen Erinnerungen zu haben. Das Prinzip ist das gleiche, das man bei mit Daten vollgestopften Computern anwendet: Man