Sex & Gott & Rock'n'Roll. Tilmann Haberer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tilmann Haberer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742775788
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Eiskalt fährt es durch sie hindurch. Ein Mann. Neben ihr liegt ein Mann. Wieso ist da ein Mann? Die alte Botschaft steht glasklar im Raum: Nie wieder. Nie wieder einem Mann vertrauen. Es würgt sie. Sie kriegt keine Luft mehr. Sie muss fliehen. Aber ohne ihn zu wecken, sonst… Hastig, aber so leise wie möglich setzt sie die Füße auf den Boden, steht, schleicht mit fliegendem Atem aus dem Zimmer, die Tür steht halb offen, aus dem Wohnzimmer gedämpftes Licht.

      Sie steht im Flur. Wohin? Nackt, wie sie ist, kann sie nicht aus dem Haus.

      Sie spürt, wie sie atmet. Flach, hektisch.

       Sharani! Was machst du!

      Der Kontakt zum Atem bringt sie näher zu sich.

      Auf bloßen Füßen tappt sie zum Badezimmer, macht kein Licht. Durchs Fenster fällt ein fahler Schein, ist es die Straßenlampe, ist es der Mond, sie weiß es nicht. Steht nun vorm Waschbecken, hält sich fest. Beugt sich vor. Sucht im Halbdunkel ihr Gesicht im Spiegel. Starrt in immer noch schreckgeweitete Augen. Ich habe mich nicht einmal abgeschminkt.

      Dieser Gedanke brachte sie endgültig in die Wirklichkeit zurück. Mechanisch zupfte sie ein Wattepad aus der Rolle, tränkte es mit Remover, rieb sich über die Augen, wie jeden Abend. Drückte einen kleinen Strang Waschcreme auf die Hand, spürte die körnige Paste auf Stirn und Wangen, spülte mit lauwarmem Wasser nach. Wie jeden Abend. Wie jeden Abend. Alles ist gut. Alles ist normal. Nur dass ein Mann in ihrem Bett lag, das war nicht normal. Es ist Achim. Ein zärtlicher, respektvoller, liebevoller, ein guter Mann. Ihr Atem fand seinen Rhythmus wieder. Sie löste den verwilderten Zopf, bürstete die Haare glatt. Alles normal. Zum Zähneputzen hatte sie dann doch keine Lust.

       Verdammt, Sharani, was ist los! Woher kommt diese Panik! Wovor hast du solche Angst!

      Achim lag auf dem Rücken, als sie ins Schlafzimmer zurückkehrte, die Augen offen. Er war wieder der Mann, den sie… liebte? Konnte sie das schon sagen, nach wenigen Tagen? Egal. Liebe ist auch nur ein Wort. Es war, was es war.

      Er sah ihr entgegen. Sie schlüpfte zu ihm, seine Schlafwärme vertrieb ihr Frösteln, sein starker Arm hielt sie gut. Mit der freien Hand strich er ihr durchs Haar. Alles war in Ordnung. Alles. Erschöpft kuschelte sie sich an ihn, spürte, wie sein Griff erschlaffte, wie er hinwegglitt in seinen nächsten Traum.

      So müde sie war, sie konnte nicht schlafen. Was ist das! Jahrelang meditierte sie, die Zeugenposition war ihr innig vertraut, sie fühlte sich darin fast mehr zu Hause als im Alltagsbewusstsein. Jeden Schmerz, jede Traurigkeit konnte sie aus dieser Position betrachten, völlig unbeteiligt, bestenfalls interessiert. Und trotzdem. Trotzdem konnte sie die Panik nicht verhindern, die Panik, die sich jetzt eben zwischen sie und Achim hatte schieben wollen. Die Panik, die ihren grausamsten Ausdruck fand in dem Albtraum, der sie seit fünfundzwanzig Jahren immer wieder heimsuchte.

      Im Moment war es wieder gut. Sie lauschte auf Achims Atemzüge und fragte sich, wie sie fast ein ganzes Leben ohne dieses Geräusch hatte verbringen können, dieses Zeichen, dass da jemand war, zu dem sie und der zu ihr gehörte. Sie spürte, wie sich die letzte Anspannung löste, wie sie schwerer wurde, ihr Atem tiefer, und dann spürte sie nichts mehr bewusst, tauchte ab in Träume, die bunt waren und lebendig und nichts mehr hatten von der drückenden Schwere des immer wiederkehrenden Albtraums. Schlief tief und friedlich wie lange nicht mehr, neben dem Mann, den sie seit zwei Wochen erst kannte und der ihr schon so ungemein vertraut war.

      ***

      Als sie aufwachte, war das Bett neben ihr leer. Aber sie dachte keine Sekunde, dass Achim gegangen sein könnte. Sie tappte ins Wohnzimmer, sah, dass der Tisch abgeräumt war. Aber Achim war nicht zu sehen. Sie tappte weiter in die Küche und da stand er, hatte gerade Teller, Gläser und Besteck in die Spül-maschine geräumt.

      Als er sie hörte, richtete er sich auf und kam ihr entgegen. Wie konnte das sein, dass er sich so unbefangen benahm – als sei er in diese Wohnung hineingeboren! Bei seiner Umarmung wurden ihr die Knie weich, sie spürte seinen Herzschlag. „Komm doch noch mal ins Bett“, flüsterte sie, und als er sie an der Hand nehmen wollte, fügte sie hinzu: „Trag mich, das war so schön.“

      ***

      Und keinerlei Befangenheit beim Frühstück. Sharani konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal mit einem Mann gefrühstückt hatte. War es tatsächlich schon fünfzehn Jahre her? Seit Prakash hatte sie mit keinem Mann mehr die Nacht bis zum Morgen verbracht. Doch, natürlich. Mit Johnny, die ein-, zweimal. Natürlich. Mit wem sonst. Aber das mit Johnny war endgültig vorbei, ein für alle Mal.

      Sharani fühlte sich wie ein neuer Mensch. Was war das nur! Zum ersten Mal, wirklich zum allerersten Mal in ihrem vierzigjährigen Leben war es einfach nur gut, nach einer gemeinsamen Nacht zu frühstücken. Der Albtraum war vergessen, kein Schatten trübte die Morgensonne, die in ihrem Herzen schien, obwohl es draußen eher grau und nieselig war. Kein Gedanke an Flucht. Keine Panik. Keine Enge.

      Nach dem Frühstück schlug Achim vor, spazieren zu gehen. Sie schlenderten durch den Nieselregen, händchenhaltend wie zwei Siebzehnjährige. Sharani fühlte sich rundherum glücklich. That’s bliss, ging ihr durch den Kopf, das ist Glückseligkeit.

      Später am Nachmittag sagte Achim: „Morgen früh muss ich nach Frankfurt. Ist es okay, wenn ich ein paar Sachen hole und wieder komme?“

      Sharani schüttelte entschieden den Kopf. „Gar nicht okay! Du willst mich allein lassen? Ich komme natürlich mit!“

      Achim lachte nur und sagte: „Wenn du wirklich meine Junggesellenbude sehen willst…“

      ***

      Unter einer Junggesellenbude hatte Sharani sich etwas anderes vorgestellt. In Wahrheit handelte es sich um eine hübsche Zweizimmerwohnung, im sechsten Stock eines Wohnblocks gelegen, hell, mit großem Fenster nach Südwesten. Der Himmel im Süden hatte aufgerissen, unter den Wolken schoss die Abendsonne ihre Strahlen direkt ins Zimmer. Die Alpenkette war deutlich zu sehen. Sharani blickte sich um. Cremefarbener Teppichboden, viel helles Holz, Stahlrohr, ein penibel aufgeräumter Schreibtisch mit Computer, ein modernes und trotzdem gemütlich aussehendes Sofa. Durch die offene Schlafzimmertür sah sie ein breites Bett. Nur eine Decke, ein Kissen.

      Achim packte seinen kleinen Koffer, sammelte ein paar Akten ein und holte aus dem Schrank eine Tasche, die aussah, als befinde sich darin ein Laptop. Topmodern ausgerüstet, der Gute… Aus dem Bad holte er einen Kulturbeutel, dann sagte er wie entschuldigend: „Ich muss morgen etwas seriöser erscheinen.“ Er nahm einen dunkelblauen Anzug, Hemd und Krawatte aus dem Schrank, verschwand kurz im Bad und kam als perfekt gestylter Geschäftsmann wieder heraus. Sharani hätte es nie für möglich gehalten, dass ihr ein Mann im Business-Anzug so gut gefallen könnte, aber in diesem Augenblich konnte sie sich keinen appetitlicheren Anblick vorstellen als Achim in diesem Outfit.

      ***

      Mitten in der Nacht wacht Sharani auf. Wieder schweißgebadet, wieder mit Herzrasen. Wieder der Albtraum. Wieder die Panik, als sie neben sich den Umriss eines Körpers sieht. Wieder die Flucht aus dem Bett.

      Diesmal landet sie im Wohnzimmer, öffnet das Fenster, steht nackt und frierend in der Kälte, die von draußen hereindringt. Das kann ja heiter werden. Wenn ich jetzt jede Nacht diesen Traum habe…

      Sie kann noch nicht zurück ins Bett. Sie muss erst diesen Traum abschütteln Was ist das, Jeannie! Und wie kommt sie plötzlich auf diesen alten Namen!

      Sie hat das Fenster wieder geschlossen, die Decke vom Sofa um die Schultern gelegt, sieht hinaus auf die verlassene Straße. Plötzlich Schritte in ihrem Rücken. Das Herz springt ihr wieder in den Hals, ein Stromschlag durch den ganzen Körper, alle ihre Haare richten sich auf. Aus weiter Ferne ein wütender, seltsam krächzender Ruf: „Na warte, du Luder!“

      „Sharani?“

      Das ist nicht der Vergewaltiger. Sie schüttelt sich. Will diese Erinnerung nicht. Schiebt sie weg. Dreht sich um.

      „Um Himmels Willen,