Sharani versuchte ehrlich mit sich zu sein. Anscheinend war sie verliebt. Ganz anders als damals bei Prakash, und wieder ganz anders als… gut, an die Geschichte mit Johnny würde nichts und niemand jemals herankommen. Sowieso und überhaupt.
Bevor sie sich das erste Mal wieder sahen, saß Sharani wieder zwei Stunden auf dem Kissen. Sie atmete das Herzflattern weg, wollte bei sich sein, ganz gesammelt. Und vorsichtig. Verliebt vielleicht, ja, aber nicht identifiziert mit dem Verliebtsein.
Sie saßen beim Italiener, bis die Bedienung zum Abkassieren kam, danach ließ sie sich ein Taxi rufen. Achims Angebot, sie nach Hause zu bringen, lehnte sie dankend ab. Er nahm es mit einem Lächeln, versprach, sie anzurufen. Tat es, als sie sich gerade die Zähne putzte.
„Ich wollte dir nur gute Nacht sagen.“
„Ach, du bist süß. Gute Nacht.“
„Ich bin süß? Und du bist ein Wunder.“
„Ein Wunder? Quatschkopf.“
„Gute Nacht, du Wunder.“
„Gute Nacht, süßer Quatschkopf.“
Es war klar, lange konnte sie ihn nicht hinhalten. Und sie wollte ihn auch nicht hinhalten. Wollte bei ihm sein, wollte ihn spüren. Endlich ihn spüren.
Und hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Enge. Flucht!
Kalter Schweiß brach ihr aus den Poren. Wieder einer, der mich haben will.
Wie Johnny. Wie…
Sie atmete so tief und ruhig, wie sie konnte. Das mit Johnny ist vorbei. Das hier ist etwas ganz anderes. Und doch musste sie sich eingestehen, dass Achim in vielem Johnny ähnlich war. Ein Mann, der Gefühle hatte und darum wusste. Sie nicht nur wegdrängte, sondern spürte. Und zeigte. Ein warmherziger Mann. Mit köstlichem Humor. Und dann war er wieder ganz anders als Johnny. Völlig unmusisch, zum Beispiel. Er hatte keine einzige Schallplatte im Haus, hatte er ihr erzählt. Spielte kein Instrument, konnte nicht singen. Aber er war klug, und er war sexy.
Und er wollte sie haben.
Sie versuchte, nur noch in ihrem Atem zu sein. Alle Gedanken und Fantasien und Befürchtungen loszulassen. Alles, was sie aus der Gegenwart ziehen wollte in eine ferne, belanglose Vergangenheit. In eine nicht existente, offene Zukunft.
Nein, sie wollte nicht schwelgen. Wollte sich nicht bangen. Wollte einfach sein.
Bevor sie sich ins Bett legte, saß sie noch einmal eine halbe Stunde auf dem Kissen. Dann ging es.
Fürs Erste.
***
Achims „ziemliche Krise“ war banal in ihrer Grausamkeit, wie die meisten Lebenskrisen. Mit vierundzwanzig hatte er Lara geheiratet, mit der er schon als Siebzehnjähriger zusammen war. Sie hatten zwei Kinder bekommen, mit achtundzwanzig hatte er sich in Viola verliebt. Hatte es nach ein paar Wochen Lara gestanden. Krach, Ehekrieg. Er wollte die Familie nicht aufgeben, rang sich in heftigen inneren Kämpfen dazu durch, das mit Viola zu lassen. Kehrte zu Lara zurück, da war sie weg. Hatte sich ihrerseits mit einem anderen ein-gelassen, wollte von Achim nichts mehr wissen. Enthielt ihm die Kinder vor, es gab Kämpfe beim Jugendamt, einen schmutzigen Rosenkrieg, den er mit Pauken und Trompeten verlor. Am Ende hatte er nicht einmal mehr das Sorgerecht für die Kleinen, sah sie so gut wie gar nicht mehr.
Schon bis dahin hatte er gern mal ein Bier zu viel getrunken, aber nun wurde es heftig. Er begann mit harten Sachen, zunächst nur abends, dann auch im Büro. Wurde immer unzuverlässiger im Job. Erste Abmahnung, Personal-
gespräch, Gespräch mit dem Chef, zweite Abmahnung, dann war er seinen Job los. Flog aus der Wohnung, lebte ein paar Wochen auf Sofas von Freunden, ein paar Nächte auch auf der Parkbank. Erinnerte sich dann, wie ihn mal einer in der Kneipe angesprochen hatte.
„Ich weiß, wie das ist. Ich habe selber gesoffen, manchmal fünfzehn Bier am Tag, und dazu eine halbe Flasche Schnaps. Aber jetzt bin ich seit achtzehn Jahren trocken. Wenn du es auch versuchen willst, jeden Donnerstag um sechs ist unser Meeting.“
Natürlich war er der Einladung nicht gefolgt. Doch jetzt, halb tot auf der Parkbank, sagte er sich: Verlieren kannst du nichts mehr. Probier’s. Und ging zum Meeting der Anonymen Alkoholiker. Brauchte noch drei, vier Monate, dann ließ er den nächsten Schnaps stehen. Und lebte seither ohne Alkohol. Jeden Tag von neuem: Heute nicht. Und: Das nächste Glas lasse ich stehen.
Er hatte Glück, ein Studienfreund gab ihm eine Chance, einen Job als Controller, er fasste wieder Fuß. Gerade noch rechtzeitig. Ein paar Jahre mehr im Suff, und ich wäre weg vom Fenster gewesen. Seit fast zehn Jahren war er jetzt trocken. Feierte den Tag, an dem er zum ersten Mal nicht getrunken hatte, als seinen zweiten Geburtstag.
Aber auch wenn er nicht mehr trank, der Schmerz blieb. Der Verlust seiner Kinder tat einfach nur weh, auch noch nach Jahren. Er hatte gelernt, dass der Versuch, den Schmerz mit Alkohol zu betäuben, nicht half, ihn nur langsam umbrachte. Er ging jede Woche ins Meeting und begegnete dort immer wieder dem Ausdruck der Anonymen Alkoholiker: „Gott, wie wir ihn uns vorstellen“. Sagte sich immer wieder, dass er sich doch einmal etwas mehr mit Religion beschäftigen sollte, brachte dann aber doch das Interesse nicht auf. War es wirklich mangelndes Interesse? Oder, wovor hatte er Angst?
Das alles erzählte er Sharani an dem Abend beim Italiener. Sharani hielt es fast nicht aus, die Traurigkeit zu spüren, die ihn beim Erzählen immer noch packte. Sie musste sich ein paarmal rüde ermahnen, bei sich zu bleiben, sonst hätte sie sich über den Tisch geworfen und ihn in die Arme geschlossen. Aber dann spürte sie auch die Stärke, die er durch den Weg der Genesung von der Sucht, durch die regelmäßige Teilnahme am Meeting gewonnen hatte. Eine Stärke, die ihn die Trauer jetzt aushalten ließ. Er musste nicht mehr fliehen. Er konnte den Schmerz spüren, durchlässig sein, ohne sich mit dem Schmerz zu identifizieren. Und das ging bei ihm sogar ohne Meditationspraxis.
Beim Erzählen wirkte er reif und erwachsen und Sharani empfand eine tiefe Zuneigung zu ihm. Ja, er war ein erwachsener Mann, wie es wenige gab. Die meisten Männer waren doch nur kleine Jungs mit ihrem Spielzeug, ob es nun Fußball und Autos waren oder Aktien oder Vorstandsposten oder neuerdings Computer. Oder Frauen. Die meisten Männer flohen vor jedem tieferen Gefühl in irgendwelche hoch wichtigen Aktivitäten oder in irgendwelche Beziehungen, nur um den Schmerz nicht fühlen zu müssen oder das Glück. Das war ja das Perverse. Auch das Glück hielten sie nicht aus.
Achim dagegen war wirklich durch den Abgrund gegangen und das hatte ihn reifen lassen, Sharani spürte es deutlich. Er hatte es nicht mehr nötig, zu verdrängen, was das alltägliche Gleichgewicht stören konnte. Und gleichzeitig fand er immer wieder die Balance – genau deswegen, weil er die Gefühle wahrnehmen und zulassen konnte, ohne sich darin zu verlieren.
Und er konnte davon erzählen, ohne larmoyant zu wirken oder – umgekehrt – damit zu prahlen. An diesem Abend, und erst recht nach dem abschließenden nächtlichen Telefonat, beschloss Sharani, sich einzulassen. Koste es, was es wolle.
Und es kostete sie viel. Mehr als sie ahnen konnte.
***
Sharani packte den Stier bei den Hörnern. Für Samstagabend lud sie Achim zum Essen ein, zu sich nach Hause. Den ganzen Tag tigerte sie nervös durch die Wohnung wie eine Vierzehnjährige vor ihrem ersten Date. Sie brachte die ganze Wohnung auf Hochglanz, lüftete zwei Stunden alles durch und gab dann Rosenöl in die Duftlampen im Wohnzimmer und, ja, auch im Schlafzimmer. Ließ sie eine halbe Stunde ihr Aroma verströmen, löschte sie dann wieder. Nur ein Hauch davon sollte in den Räumen zu ahnen sein.
Sie bezog ihr Bett neu, auch eine zweite Decke, ein zweites Kissen. Stopfte beides in den Schrank, griffbereit. Stellte die hohe, schlanke Vase mit einer einzelnen Mohnblüte auf die Kommode, zwei Kerzen daneben. Wie zufällig.
Sie plante