Er sah auf.
„Was gibt’s?“
Gabi blickte verkniffen auf ihn herab.
„Ich wünsche, dass du den Umgang mit Tobias einstellst. Sofort und für alle Zeiten.“
„Ach. Und darf man auch erfahren, warum?“
Gabis Bick wurde durchdringend.
„Jetzt tu nicht so, als wüsstest du nicht, was los ist.“
„Was denn?“
Hannes hatte wirklich keine Vorstellung, wie Gabi auf diese Idee kam.
„Stell dich nicht so ahnungslos! Du weißt genau, dass dein verfluchter Freund es mit Männern treibt.“
Hannes blieb der Mund offen stehen. „Also Gabi“, sagte er und musste beinahe lachen. „Dass Tobias schwul ist, weiß ich seit Jahren. Und was ist dabei?“
Gabi ging gar nicht auf seine Äußerung ein. Sie war in voller Fahrt. „Nadine hat ihn gesehen. Sie wohnt in der Klenzestraße, und da hat sie ihn gesehen, wie er aus so einer widerlichen Bar rauskam, mit einem Typen an der Hand, und sie haben sich geküsst. Im Schatten zwar, aber Nadine hat’s genau gesehen. Die schwule Sau! Tut immer schön anständig und hinten rum treibt er Sachen, die man sich nicht mal ausdenken mag!“
„Und? Was ist dabei?“
„Was dabei ist? Dieses schwule Getue ist gegen die Natur und gegen Gottes Gebot und gegen alles, was Vernunft und Anstand gebieten.“
Und plötzlich fixierte Gabi ihn aus schmalen Augen.
„Und es reicht mir, dass du mich mit irgendwelche kleinen Nutten aus dem Kindergarten betrügst. Ich will nicht, dass du auch noch mit dieser Schwuchtel ins Bett gehst!“
Das war arg. Hannes versuchte sich zusammenzureißen. Er stand auf, ging einen Schritt auf Gabi zu. Die wich zurück, ballte die Fäuste, funkelte ihn an. Hannes musste sich beherrschen, nicht loszubrüllen.
„Ich verbiete dir, so über meinen Freund zu sprechen“, sagte er so ruhig er konnte.
„Ich lasse mir in meiner Wohnung nicht das Wort verbieten!“ Jetzt schrie sie.
„Gabi, kein Wort mehr. In dieser Weise redest du nicht über meinen Freund. Über niemand redest du so. Hast du das verstanden!“
Gleich spuckt sie mir ins Gesicht.
„Ich rede, wie es der Wahrheit entspricht. Und du, du deckst den schlimmsten Frevel. Und findest es auch noch gut, was dein Tobias treibt. Wahrscheinlich hat er dich auch schon längst im Bett gehabt!“
Er hatte tatsächlich Lust, ihr eine zu scheuern. Aber noch hatte er sich im Griff.
„Du spinnst, Gabi. Halt einfach die Luft an und lass mich in Ruhe.“
Auge in Auge standen sie einander gegenüber. Hannes spürte, wie heftig sein Atem ging. Der Hass in Gabis himmelblauen Augen, die er einst so geliebt hatte, ließ ihn innerlich eiskalt werden. Er zwang sich immer noch, ruhig zu bleiben, atmete bewusst tief ein und aus. Er machte seinen Blick noch härter. Nein, ich gebe nicht klein bei.
Zehn Sekunden standen sie einander so gegenüber, Hannes kam es vor wie Stunden. Dann wandte Gabi plötzlich den Blick ab, drehte sich weg. „Du wirst schon sehen, was du davon hast“, zischte sie und ließ ihn stehen. Hannes wartete, bis sie in ihrem Zimmer verschwunden war, und schloss dann die Tür. Er ging die paar Schritte zum Sofa. Hatte Lust, sich bäuchlings darauf zu werfen, den Kopf unter ein Kissen zu stecken. Und einfach loszuheulen.
Hannes wusste es noch nicht, aber an diesem Abend ging seine Ehe zu Ende.
22
Achim wohnte in München, keine zwei Kilometer von Sharani entfernt. Und doch lernten sie sich nicht vor ihrer Haustür kennen oder vor seiner, sondern im ICE zwischen Frankfurt und Mannheim. Sie saßen einander gegenüber im Großraumwagen, zwischen sich das Tischchen, nahmen das erste Mal Notiz voneinander, als sie beide die Beine ausstrecken wollten und unter dem Tisch zusammenstießen. Spontan und synchron entschuldigten sie sich, der fremde Mann zeigte ganz kurz ein strahlendes Lächeln, vertiefte sich dann wieder in seine Zeitung. Wieso entschuldigt man sich eigentlich, wenn man sich versehentlich auch nur ein bisschen berührt?
Nach zehn Minuten legte der Fremde seine Zeitung beiseite, wand sich aus dem Sitz, lächelte ihr wieder kurz zu, ging den Gang entlang Richtung Speisewagen. Sharani war einen Moment geschockt. Dieser Blick! Da war etwas wie die freudig erschrockene Frage: Du hier…? Als wäre er ein uralter Bekannter; dabei hatte sie ihn noch nie gesehen, da war sie sicher. Aber wer wusste schon, woher sie sich kannten – aus wie vielen früheren Leben… Weniger esoterisch gesagt: Sein Lächeln berührte Sharani. Tief drinnen. Es hatte etwas Vertrautes, obwohl sie sich nicht kannten, gerade mal zwanzig Minuten im selben Zugabteil gesessen hatten.
Sharani schüttelte den Kopf, zog ihr Buch aus dem Rucksack. Seit langem wieder einmal etwas von Osho. Sie hatte das Buch in Köln entdeckt und gleich mitgenommen. Jesus – Mensch und Meister. Mit etwas Wehmut erinnerte sie sich, wie es sie anfangs empört hatte, dass ihr geliebter Bhagwan so viel über Jesus sprach. Dann aber hatte sie allmählich begriffen, dass Jesus, der Mann aus Nazareth, der Meister, der Revolutionär der Liebe, etwas ganz anderes war als die blasse, moralinsaure Gestalt, die die Kirche aus ihm machte. Osho… Ein Schmerz, jäh und scharf. Auch Liebe kann wehtun, wer wüsste das besser als sie, Sharani alias Jeannie. Vor mehr als fünf Jahren hatte Osho diese Welt verlassen – niemals geboren, niemals gestorben, nur zu Besuch auf diesem Planeten. Doch sie trug seine Liebe im Herzen. Und nun las sie seine Worte, hörte durch die Übersetzung hindurch seine Stimme, sein langsames, überlegtes Sprechen, sah ihn vor sich, wie er auf seine Hände schaute, dann wieder auf seine Jünger, wie er mit einem feinen Lächeln die ungeheuerlichsten Provokationen aussprechen konnte.
Der Fremde kam zurück. Sie schätzte ihn auf Mitte vierzig, er war ziemlich groß und kräftig, hatte eine hohe Stirn und einen tief schwarzen, kurz gestutzten Vollbart. Trug ein lässiges Cordsakko zu weißem Hemd und Jeans. Gar nicht ihr Stil. Aber als er sie noch einmal kurz anlächelte, bevor er sich seiner Zeitung widmete, war es wieder wie ein vertrautes Zublinzeln. Da war wirklich etwas, als kennten sie sich seit Äonen. Sharani legte das Buch zur Seite, schaute aus dem Fenster. Langweilige deutsche Industrielandschaft – lange schon hatten sie das spektakuläre Rheintal hinter sich gelassen, Sankt Goar, die Loreley. Hatte die seltsame Unruhe, die sie erfüllte, tatsächlich etwas mit dem Mann ihr gegenüber zu tun? Volle zwei Jahre hatte sie mit keinem Mann mehr gesprochen, außer natürlich in der Praxis. Volle zwei Jahre, seit sie sich zum letzten Mal von Johnny abgewandt hatte – diesmal aber wirklich zum letzten Mal! –, zwei Jahre war sie so gut wie nie ausgegangen. Hatte die meiste Zeit zu Hause verbracht, am Zeichentisch, wenn die Arztbriefe diktiert waren, und vor allem auf ihrem Meditationskissen. War ganz in sich gekehrt. Nur mit Lakshmi, mit der sie sich die Praxis teilte, ging sie einmal in der Woche aus. Die offizielle Version war, dass sie nicht nur noch als Kolleginnen zusammenarbeiten,
sondern Freundinnen bleiben wollten. Inoffiziell wusste Sharani genau, dass Lakshmi hoffte, ihre beste Freundin doch einmal mit einem ordentlichen Mann zu verkuppeln. Aber da biss sie auf Granit. Das Kapitel war für Sharani abgeschlossen. Oder, nicht ganz so kategorisch, im Moment einfach kein Thema. Sie brauchte keinen Mann, wollte keinen Mann – und nun saß ihr gegenüber dieser Fremde und versetzte sie in Unruhe.
Und dann sprach er sie an.
Sie hatte ihr Buch wieder zur Hand genommen, versuchte sich auf die Zeilen zu konzentrieren, durch die gedruckten Buchstaben hindurch Oshos Stimme zu vernehmen. Da räusperte sich der Fremde leicht, dann, zögernd: „Entschuldigen Sie bitte, darf ich Sie etwas fragen?“
Durch die Praxis war Sharani daran gewöhnt, von Fremden gesiezt zu werden. Warum kam es ihr bei diesem Mann so unpassend vor? Sie ließ das Buch sinken,