Sex & Gott & Rock'n'Roll. Tilmann Haberer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tilmann Haberer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742775788
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eher hager. Außerdem trug sie nicht, wie üblich, Jeans und ein blaues oder schwarzes Top, sondern ein schreiend rot-grün gemustertes, kurzes Sommerkleid.

      Sie schien überhaupt nicht überrascht, ihn zu sehen. Begrüßte ihn fast freundschaftlich. Aber Hannes war irritiert über ihre hektische Art, über die fahrige, etwas hysterische Aura, die sie umgab. So war sie in den ersten Jahren ihrer Ehe manchmal gewesen. Das waren die Tage, an denen sie die Küchenstühle grün angestrichen oder ellenlange To-do-Listen angelegt, laut und lange mit ihren Freundinnen telefoniert und genau diese hyperaktive Atmosphäre verbreitet hatte.

      „Ah, Hannes“, sagte sie, machte dann auf dem Absatz kehrt und verschwand im Schlafzimmer – in dem, was einmal ihr gemeinsames Schlafzimmer gewesen war. Die Kinder ließen ihre Rucksäcke fallen und rannten ins Wohnzimmer. „Rucksäcke aufräumen“, rief er ihnen nach. Lukas rief von drinnen zurück: „Du bist hier nicht zu Hause! Du hast hier nichts zu sagen!“

      „Na warte, du Schlawiner“, drohte Hannes, halb erbost, halb belustigt. Aber er ließ die Rucksäcke Rucksäcke sein und ging die paar Schritte zur Schlafzimmertür.

      „Gabi, ich möchte etwas mit dir besprechen.“

      Sie kruschtelte im Kleiderschrank herum. „Was ist?“ fragte sie in den Schrank hinein.

      Hannes kam sich etwas blöd vor. Kann sie mich nicht mal anschauen? Dann dachte er: Was soll‘s, immerhin hört sie mir zu.

      „Du hast tatsächlich vor, für zwei Jahre oder länger wegzugehen?“

      „Hab ich dir doch gesagt“, kam es aus den Tiefen des Schrankes.

      Okay, du willst es so. „Dann werde ich hier wieder einziehen. In meiner Wohnung ist nicht genug Platz für drei Personen auf Dauer.“

      „Moment“, antwortete Gabi, tauchte aus dem Schrank auf.

      Bevor sie Luft holen konnte, schob er ein weiteres Argument nach. „Für die Kinder wäre es auch am besten, wenn sie in ihrer Umgebung bleiben könnten.“

      Gabi sah ihn an, ihr Blick flackerte leicht. „Du willst hier einziehen?“

      „Ganz recht. Ich finde, es ist am besten so. Für die Kinder und überhaupt.“

      Gabi kratzte sich an der Nase. Dann schien sie nach innen zu lauschen, bewegte leise murmelnd die Lippen. Hannes verstand kein Wort. Auf welchem Planeten lebt sie?

      Auf einmal richtete Gabi ihren Blick wieder auf ihn. Aus dem fast unhörbaren Murmeln wurden klare Worte. „Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über die, so ihn fürchten.“

      Hannes verstand gar nichts. Was sollte jetzt dieser Satz, der nach einem biblischen Psalm klang?

      Gabis Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln und sie fuhr fort, den Psalm oder was es war aufzusagen. „So ferne der Morgen ist vom Abend, lässt Er unsere Übertretungen von uns sein.“ Sie sah ihn aufmunternd an. Er verstand gar nichts.

      „Hannes, verstehst du nicht? Der Herr gibt uns Antwort. Erbarmst du dich über die Kinder?“

      Jetzt bloß nichts Falsches sagen! Aber wovon sprach sie überhaupt? Zögernd nickte er. „Ja, klar…“ Ist mit dem Vater, der sich erbarmt, nicht Gott gemeint?

      „Eben! Verstehst du nicht? Du erbarmst dich über die Kinder, Hannes, so habe ich das noch gar nicht gesehen. Und wenn das so ist, lässt Gott deine Übertretung ferne von dir sein.“ Sie strahlte, aber ihm war gar nicht wohl. Was kommt als Nächstes?

      Noch einmal schien sie zu lauschen, runzelte kurz die Stirn, lief dann ans Fenster. Schaute hinaus, beachtete ihn scheinbar gar nicht mehr, doch plötzlich winkte sie ihn zu sich. „Da, schau“, rief sie aufgeregt und deutete hinaus. „Schau doch!“

      Er tat ihr den Gefallen, trat neben sie ans Fenster. Roch ihren Duft, der ihn einmal so betört hatte. Folgte dann mit dem Blick ihrem ausgestreckten Zeigefinger. Nichts Besonderes zu sehen, die Straße sah aus wie immer. Parkende Autos, Leute mit Aktentaschen und Einkaufstüten auf dem Nachhauseweg. Ein Mann, der zwei Kinder in ein Auto verfrachtete.

      „Da! Siehst du? Der Mann? Das ist auch ein Vater, der sich über seine Kinder erbarmt.“ Sie wandte sich ihm zu, packte ihn an den Oberarmen, schüttelte ihn. „Hannes! Das ist doch ein eindeutiges Zeichen von Gott!“

      Ihm wurde immer unwohler. Was redet sie?

      Gabi ließ ihn wieder los. Ihr Blick wurde leer, noch einmal schien sie irgendwohin zu lauschen, auf Stimmen, die er nicht hören konnte. Dann sah sie ihn wieder an, ihre blauen Augen blitzten wie früher. Feierlich verkündete sie: „Hannes, es ist Gottes Wille, dass du mit den Kindern hier wohnst. Wir haben eindeutige Beweise für seinen Willen gesehen. O, wie wunderbar ist Gott, dessen Barmherzigkeit groß und dessen Name heilig ist, dessen Barmherzigkeit groß und dessen Namen heilig ist, dessen Barmherzigkeit groß und dessen Name heilig ist.“ Die dreimalige Wiederholung klang wie eine rituelle Beschwörung. Hannes schauderte. Was ist in sie gefahren?

      Hannes war nicht sicher, wie lange ihre Zustimmung anhalten würde, aber immerhin hatte sie hiermit offenbar ja gesagt. Abgesehen davon lief der Mietvertrag immer noch auf sie beide und er zahlte über den Unterhalt praktisch die ganze Miete. Sie konnte eigentlich gar nichts dagegen haben. Er würde eben ihre Sachen in den Keller bringen und seine wieder aus der kleinen Wohnung holen. Die konnte er dann auch aufgeben.

      Er verabschiedete sich von den Kindern. Wieder mal schlug das Schicksal eine ziemliche Volte. Vorausgesetzt, Gabi blieb bei ihrem Plan, kam nun ein neuer Lebensabschnitt, als allein erziehender Vater. Öfter mal was Neues!

      ***

      Vier Monate später war es tatsächlich so weit. Hannes zog wieder in der Familienwohnung ein. Brachte alles, was er zweieinhalb Jahre vorher unter Nadines Argusaugen abgeholt hatte, zurück. Schaffte das ehemalige Ehebett in den Keller, stellte das Ikea-Bett ins Schlafzimmer und den Schreibtisch da auf, wo einmal Gabis Arbeitsplatz gewesen war, räumte seine Kleider in den Schrank und füllte auf der Post einen Nachsendeauftrag aus. Mit viel Glück bekam Lukas einen Platz im Hort, Judith ging nach dem Kindergarten mit zu ihrer Freundin Martha, im letzten Kindergartenjahr fand er für sie einen Ganztagesplatz.

      Er staunte selbst, wie schnell sich alles einpegelte. Die Kinder brauchten etwas Zeit, um sich umzugewöhnen, vor allem Lukas. Das erste halbe Jahr war schwierig. Seine Leistungen in der Schule stürzten ab und hin und wieder zettelte er auf dem Schulhof eine Schlägerei an. Zwei-, dreimal musste Hannes zur Lehrerin, die viel Verständnis hatte, aber doch deutlich machte, dass es so nicht ging.

      Hannes versuchte, liebevoll, aber konsequent zu sein, und irgendwie schafften sie es. Im neuen Schuljahr, nach drei Wochen Urlaub auf dem Bauernhof, hatte Lukas sich gefangen. Fragte kaum noch nach Gabi. Er schien jetzt zufrieden damit, dass er in seiner gewohnten Umgebung bleiben konnte und nicht jedes zweite Wochenende seinen Rucksack packen musste.

      Mit Hort und Ganztagesplatz war es machbar. Die Wohnung war nicht immer picobello aufgeräumt und manchmal gab es nur Miracoli, aber insgesamt war die kleine Familie auf einem guten Weg.

      Im April 1989, kurz bevor Gabi nach Afrika aufbrechen sollte, erhielt Hannes einen Anruf seines Ex-Schwiegervaters. Gabi war mit einer schweren Depression in die Psychiatrie eingeliefert worden. Diagnose: bipolare, besser bekannt als manisch-depressive Persönlichkeitsstörung mit psychotischen und wahnhaften Symptomen. Sie würde wohl einige Wochen oder gar Monate stationär behandelt werden müssen. Nach Afrika könne sie auf gar keinen Fall. Und er solle den Kindern nichts sagen, das würde sie nur verstören.

      Mit einem eigenartigen Gefühl im Magen legte Hannes auf. Ein Schmerz um Gabi, die er einmal geliebt, die ihm seine zwei Kinder geschenkt hatte. Ein plötzliches Verstehen. Die Puzzleteile fielen an ihren Platz. Er besorgte sich eine kurze, populärwissenschaftliche Einführung in die Krankheiten der Psyche und fand Gabi in jeder Zeile wieder, die er über die bipolare Störung las. Hätten sie miteinander leben können, wenn ihre Krankheit erkannt und behandelt worden wäre? Aber diese Gedanken waren müßig.