Von GOETZEN bis LIEMBA. Sarah Paulus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sarah Paulus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Учебная литература
Год издания: 0
isbn: 9783737527675
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Wissmannhafen konnte von kleinen Dampfern wie auch der Liemba angefahren werden. Im Juni 1915 war Bismarckburg das Ziel ihrer ersten großen Fahrt. Damals hieß sie noch Goetzen, doch auch dazu später mehr.

      Heute ist von der einstigen Boma nicht mehr viel zu erkennen. Auf dem Hang angekommen, stiefeln wir in flirrender Hitze über einen trostlosen Platz direkt auf die Burgruinen zu. Rechts von uns leblose Häuser, die perfekte Kulisse für Billy the Kid. Davor ein Lkw-Gerippe, das Rolfs Aufmerksamkeit magisch anzieht. MAN. Dahinter verrotten zwei Container in hohem Gras.

      »Restricted Area«, murmelt einer, der in Schlabberhose und Flip-Flops herbeischlurft und sich als »Private« vorstellt. Was? »Army«, erklärt ein Zweiter, dessen unrasierter Habitus ebenso wenig auf Militär schließen lässt. Hinter ihnen, im Schatten großer Bäume an die Mauerreste gelehnt, sind Zelte zu erkennen. Wohl die Unterkünfte dieser verlotterten Jungs. Der Haupteingang des Stützpunkts liegt zehn Meter vor uns. Dahinter erahnen wir weitere Behausungen aus Zelttuch. Eine dürre Antenne stakt über allem in den Himmel. Was, wenn wir einfach weiterlaufen? Gibt es ein Minenfeld? Haben uns bereits Scharfschützen ins Visier genommen? Wir geben eine Weile unser Bestes. Reden, scherzen, gurren. Kein Durchkommen.

      Dann eben kein Sightseeing. Stattdessen ein kühles Bad auf der anderen Seite der Landzunge. Hier öffnet sich ein echtes Idyll. So als wolle er ein Weltmeer sein, schwappt der Tanganjikasee ansehnliche Wellen ans Ufer, dunkelblau, mit weißen Schaumkronen bis zum Horizont. Wir sind allein. Raus aus den Klamotten und rein in den See. Die Wellen rauschen, waschen den Staub der vergangenen Tage von der Seele. Beim Abtrocknen ist der Strand noch immer menschenleer. Seltsam, normalerweise bleibt ein Reisender in dieser Region keine Sekunde allein. Oft ist es schwer, sich unbeobachtet im öffentlichen Raum zu bewegen. Die Nachricht von der Ankunft eines Fremden verbreitet sich meist in Windeseile, Neugier treibt unweigerlich Jung und Alt herbei. Erst ein verwittertes Schild, das wir auf dem Rückweg entdecken, gibt eine schlüssige Antwort. »Restricted Area!« Wir haben im militärischen Sperrbezirk gebadet.

      Das schlechte Gewissen hält sich in Grenzen, wir haben Durst. Rolf will eh nicht sofort zurück zum Schiff, wir schauen uns um. Oberhalb des Hafengeländes entdecken wir windschiefe Hütten, bei denen sich einiges Volk zusammengefunden hat, um die Ankunft der Liemba gebührend zu betrinken.

      »No cold«, informiert die geschäftige Frau hinter einem Holzverschlag und präsentiert ihr Angebot. Kein Kühlschrank und warme Getränke, die auf wackligen Holzbrettern an den Wänden aufgereiht sind. Rolf interessiert sich für die Softgetränke. »No Cola.« Dann halt Bier, warmes Bier. Bekanntlich ist Durst schlimmer als Heimweh. Wir ordern zwei Wärmflaschen Kilimandscharo Premium Lager und warten vor der Bretterbude. Die Ladenbesitzerin zählt das Geld und verlangt »Deposit«. Pfand? Schon in Mpulungu hatten wir leere Flaschen zurückgeben müssen, die Verkäufer waren ganz wild darauf. Ökologischer Fortschritt in Afrika? Ökologie statt Ökonomie? Keine Wechselstuben, dafür ein funktionierender Sekundärrohstoffkreislauf im Buschland. Kein Strom, aber Mehrweg. Ade du schöner Schlendrian, ade geliebte afrikanische Freiheit.

      Wir hinterlegen den geforderten Betrag und öffnen die Flaschen. Sofort schießt warmer Schaum heraus. Als sich die Situation beruhigt hat, ist Rolfs Flasche nur noch halb voll. Wir hocken uns in den Schatten und nuckeln verdrossen am Hopfen, die Hände vom Bier verklebt. Missmutig machen wir es den Einheimischen nach. Trinken und gucken. Kein Lüftchen weht. Der See breitet sich vor uns aus, auf dieser Seite der Landzunge ohne jede Welle, platt wie eine Flunder. Auf die erste folgt eine zweite Flasche. Der Bauch gluckert. Die trockene Kehle verlangt Nachschub. Trinken und gucken. Auf das Treiben um die Liemba unten im Hafen. Auf Arbeiter und Säcke. Mit jedem Schluck mehr Säcke, wie es scheint. Noch drei Stunden bis zur Abfahrt. Wohin mit all der Zeit? Gegenüber der Bucht ragt ein Kirchturm über das tropische Grün. Dort liegt die Antwort. Im Dorf Kasanga, etwa einen Kilometer vom Hafen entfernt, zwischen Palmenhainen, Feldern und einem munter plätschernden Flüsschen.

      Wir folgen dem Schotterweg, später einer Abkürzung querfeldein. Rolf ist die Vorhut, leicht betrunken stolpere ich hinterdrein. Das ist doch nicht Afrika, denke ich irritiert. In der Ferne schimmern sumpfige Wiesen, über die eine Herde Rinder watet.

      »Büffel«, kichere ich aufgekratzt. »Und Reisfelder.«

      »Wohl eher Schilf«, befindet Rolf besorgt.

      »Vietnam.«

      »Was?«

      »Vietnam«, wiederhole ich und gehe in Deckung.

      Neben mir hockt Captain Willard und bringt sein Gewehr in Stellung. Das Patrouillenboot Erebus haben wir im nahen Delta versteckt. Black Hawks dröhnen am Himmel. Jeden Moment können wir auf Marlon Brando stoßen. Die vorbeilaufenden Menschen scheint das nicht zu stören. Dass sie schwarze Gesichter haben, ist zwar irgendwie komisch, kann im Moment aber nicht hinterfragt werden.

      »Komm jetzt.« Colonel Rolf E. Kurtz versucht mich in die Wirklichkeit zurückzuholen.

      »Aber da vorn, die Do-Lung-Brücke …«

      »Hör auf zu spinnen. Wir sind gleich im Dorf.«

      Das Zentrum der Ortschaft, eine Ansammlung strohgedeckter Steinhütten, befindet sich unter eindrucksvollen Mangobäumen entlang der sandigen Hauptstraße. Wir überqueren ein zugewachsenes Flussbett. Die Brücke wirkt wie der Haupteingang des Dorfes. Kinder bleiben stehen, bestaunen den ungewohnten Besuch und winken. Ein alter Mann humpelt tief nach vorn gebeugt an uns vorbei. Die Sonne hat ihr Nachmittagsaquarell begonnen, tüncht rote Erde röter und Bäume noch grüner. Nach und nach schärft sie die Kontraste der vielen Farbtupfer. Gelb, orange, blau, grün. Ein breites Sortiment bunt ineinandergestapelter Plastikeimer türmt sich vor einem der ordentlich durchnummerierten Häuser. Tücher, Kleider und Hemden schaukeln selbstvergessen an Wäscheleinen.

      Wir kaufen etwas gegen den Durst, diesmal warme Pepsi, und setzen uns auf einen umgekippten Baumstamm. In Sichtweite hängt ein Schild. »Sumbawanga«, lässt die Aufschrift wissen. Nicht das Ende der Welt, nur eine Bushaltestelle.

      »Irgendwo muss doch die Kirche sein.«

      »Wie spät ist es eigentlich?«

      »Keine Ahnung.«

      »Was machen wir, wenn wir zurückkommen und die Liemba abgelegt hat?«

      »Früher als geplant?«

      »Ja, mit unseren Pässen.«

      »Dem ganzen Geld.«

      »Den Handys.«

      Unruhig rutsche ich hin und her. Rolf hingegen blättert sich seelenruhig durch den finanziellen Handbestand. 10 000 tansanische Schilling. Das reicht, wenn überhaupt, gerade mal für den Bus nach Sumbawanga. Danach müssten wir einen Job finden oder uns offenbaren. Zwei bankrotte Marsmenschen auf einem fremden Stern. Schweigend sitzen wir die Unsicherheit aus.

      Niemand im Dorf interessiert sich für uns. Keiner spricht mit uns oder will etwas verkaufen. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht ein stattlicher Billardtisch. Mitten im Dorf aufgebaut, drum herum spielen die erwachsenen Männer des Ortes. Ein selbst geschnitzter Stock wandert von Hand zu Hand. Kugeln jagen über den Tisch. Teenager balgen um die beste Aussicht. Manche wollen mitspielen, andere stibitzen Kugeln. Ein plumper Dieb wird gefasst, alles lacht. Er muss das Gut herausgeben und darf weiter zugucken.

      »Haben die nichts Sinnvolles zu tun?«

      »Was machst du denn so an einem Sonnabendnachmittag?«

      »Fernsehen.«

      Unter dem Billardtisch sitzen derweil die ganz Kleinen und buddeln friedlich im Sand. Alte hocken vor den Häusern und palavern. Die Früchte eines Wurstbaumes baumeln lässig im Geäst. Das Busschild quietscht im Wind. Ein dickes Schwein wackelt grunzend vorbei.

      Der schwarze Fleck

      »Auf dem See soll es Piraten geben«, sinniert Frank. Der Franzose reist mit seiner Freundin Audrey durch Afrika. Seit beide an Bord gekommen sind, hat sich die Liemba keinen Meter bewegt. Es ist 23.30 Uhr. Noch immer liegen wir im Hafen von Kasanga, schleppen Hafenarbeiter