Still ist es trotzdem nicht, Dave redet ununterbrochen, als wolle er eine ganze Busladung Rentner wettmachen. Nach zwei Stunden gibt es nichts, was wir nicht über ihn wüssten. Rolf hängt ausgelaugt in den Seilen, ich bin erschöpft. »Ein Reisender soll Augen und Ohren aufreißen, nicht das Maul«, lese ich kurz vor dem Einschlafen in meiner Sammlung afrikanischer Sprichwörter und Weisheiten. Morgen ist Freitag. Liemba-Tag.
Am nächsten Vormittag sitzt der Diktator allein hinter seinem kleinen Klapptisch, wir stehen zu zweit davor.
»Good morning, Sir.«
»Nicht schon wieder.« Rolf verdreht die Augen.
»Wissen Sie, wann die Liemba kommt?«
»Sie wird pünktlich sein, aber niemand weiß, wann das ist.«
»Heute oder morgen?«
»Wenn sie bis 12 Uhr in Kasanga ist, dann heute. Sonst morgen.«
»Und wer …?«
»Niemand weiß das so genau.«
Am Sonnabendmorgen gegen 6 Uhr früh lässt die Liemba endlich von sich hören. Das Schiffshorn ruft laut und durchdringend ihr Publikum. Schaut her, da bin ich. Raus aus den Federn, der Zirkus ist da, die Ruhe vorbei. Wir sitzen kerzengerade im Bett. Der Countdown läuft.
Kapitel 2 | MPULUNGU
Wo ist Mr. Masimba?
»Gepäckkontrolle, Passkontrolle, Hafengebühr.«
»Good morning, Sir«, grüße ich dickköpfig, in der Hoffnung auf eine freundliche Erwiderung.
»Gepäckkontrolle, Passkontrolle, Hafengebühr.« Keinerlei Regung beim Diktator.
»Ich würde Sie gern …«
»Schreib ihm doch später mal eine Postkarte«, mischt sich Rolf ein.
»Gut, wohin zuerst?«
Zur Gepäckkontrolle. Der kleine Raum ist in der Baracke gleich rechts neben dem Hafeneingangstor zu finden. Die üblich kahlen Wände. Ein Tisch in der Mitte. Zwei Uniformierte dahinter. Er begrüßt uns. Sie steht breitbeinig da, die Arme auf dem Rücken verschränkt. Wir wuchten schwungvoll Hab und Gut auf die Tischplatte und beginnen mit der Präsentation unserer Rucksäcke. Ich ziehe den ersten Reißverschluss auf und hole zerknitterten Inhalt heraus. Hosen, Hemden, Pässe. Keine Reaktion. Schuhe, Zahnpasta, Landkarte. Nichts. Also weiter mit Klappmesser, Kompass und Reisemedizin. »Stopp!«
Die Kontrolleurin beugt sich vor und bedeutet mir, das vollgestopfte Täschchen zu öffnen. Pillen, Tropfen und Salben. Unser Medikamentensortiment sorgt für lebhaftes Interesse, alles wird ausführlich begutachtet. Warum nur? Die Inspektorin beginnt den Text auf einer Verpackung zu studieren. Sucht sie etwas Bestimmtes? Ein blödes Gefühl. Um sie zu ermüden, erkläre ich wortreich die Anwendung von Aspirin, Lariam, Loperamid & Co., bis die erhofften Nebenwirkungen einsetzen. Die junge Frau gähnt herzhaft. Einpacken.
Weiter zur Passkontrolle, die in zwei Etappen aufgeteilt ist. Der Diktator schickt uns in ein niedriges Haus, wenige Schritte von seinem Sonnenschirm entfernt. Hier warten vier Bedienstete und ein dickes Buch mit vielen Spalten, das aufgeschlagen auf einem hölzernen Tresen liegt. Eintragen bitte. Namen, Adressen, Passnummern. Woher wir kommen, wohin wir gehen. Es ist immer das Gleiche, überall in dieser Region. Ob in Behörden, Museen oder Hotels, ausnahmslos wird Schreibarbeit eingefordert. Eine unvermeidbare Prozedur, deren Ergebnis wahrscheinlich keinen wirklich interessiert und wohl von niemandem ernsthaft kontrolliert wird. Vielleicht ja erst im nächsten Jahrtausend, wenn Archäologen die Relikte afrikanischer Hochkultur ausgraben? Bücher und Listen mit tausenden handgeschriebenen Datensätzen. Guck mal, Sarah und Rolf waren hier. Die aus Detmold? Nein, aus Berlin. Ein Traum für jeden Wissenschaftler.
Nach der umfänglichen Auflistung unserer Daten geht es weiter zur zweiten Etappe. Wir werden gebeten, links neben dem Tresen eine unscheinbare Tür zu passieren und uns sofort ein weiteres Mal links zu halten. Leichter gesagt als getan. Die Tür lässt sich schwer öffnen, da direkt dahinter eine Gruppe Menschen steht. Ausreisewillige? In einem engen Flur ohne Tageslicht? Wir drehen uns fragend um. Alles in Ordnung. Anstellen, warten, die Augen auf Halbdunkel einstellen. Gerade als wir am Ende des kurzen Flurs eine weitere Tür erspähen, wird diese aufgerissen. Zwei junge Männer schieben sich an uns vorbei. Eine Frau betritt den Raum. Die Tür schließt sich kraftlos hinter ihr. Wir Schlange machen einen Schritt vorwärts. Warten. Das Prozedere wiederholt sich. Nach 15 Minuten sind wir an der Reihe und dürfen einen kleinen Raum betreten, in dem uns zwei Beamte empfangen und nach den Pässen fragen. Stempel hier, Stempel dort. Bitte zurück zum Tresen. Dort liegt ein weiteres Buch. Erneut werden Name, Adresse, Passnummer abgefragt. Der Sinn der wiederholten Schreiberei ist nicht erkennbar. Aber egal. Nun steht der Ausreise wohl nichts mehr im Wege.
»14 000 Kwacha«, verlangt der Beamte.
»Was?«
»Die Hafengebühr.«
Charity hatte uns vor einer Departure Fee gewarnt. Höchstens 8000 Kwacha für uns zwei. Beunruhigt durchwühlen wir den Geldbeutel und finden einen letzten Schein. 10 000 Kwacha.
»Ist es möglich …«
»M’am?«
»Ist es, ähm, dürfen wir ausnahmsweise in Dollar zahlen?«
Der junge Mann wirkt unglücklich, schaut fragend einen Kollegen an und holt Verstärkung. Fred Kapongo erscheint. »Bitte folgen Sie mir«, fordert er uns staatstragend auf. Rolf wirft sich stirnrunzelnd den großen Rucksack auf den Rücken. Im Gänsemarsch stiefeln wir quer über das Hafengelände. Die Ankunft der Liemba hat bereits viele Akteure angezogen. Hafenarbeiter transportieren Kisten, Händler bauen ihre Waren auf, Schaulustige spazieren ziellos herum. Die Sonne steht schon recht hoch am Himmel und lässt die Temperatur spürbar steigen. Wir kämpfen uns hinter Fred durch das Menschengetümmel. Niemand nimmt Notiz von uns.
Keine hundert Meter vom Liegeplatz der Liemba entfernt bittet uns Fred, eine Art Lagergebäude zu betreten. Es geht einige Treppen hinauf, einen schmalen Gang entlang, dann nach rechts. Et voilà, ein Büro. Platz nehmen, bitte. Fred schließt die Tür und lässt die Jalousien herunter. »It’s so hot«, begründet er und nimmt erwartungsvoll hinter seinem Schreibtisch Platz. Auf einem Stapel ungeordneter Dokumente kopulieren zwei Fliegen, ihre Artgenossen schwirren träge durch die klebrige Luft. Es war einmal in Sambia. Würden wir hier erschossen werden, es fiele niemandem auf. Wir schwitzen, atmen tief ein und schildern das Problem. Verständiges Nicken fredseitig. Und jetzt? »14 000 Kwacha durch 5000 gleich 2,8. Sagen wir drei Dollar?« Ich tippe aufgeregt auf den Taschenrechner ein und gucke Mr. Hafengebühr fragend an. Der guckt gutmütig zurück. »That’s okay. No problem. You’re welcome.« Drei Dollarnoten verschwinden in seinem Schreibtisch. Geschafft. Wir dürfen an Bord.
Nicht oft im Leben hat man die Chance, einer Legende zu begegnen und für kurze Zeit sogar Teil von ihr zu werden. Ich spreche von echten Legenden, nicht von solchen, die mit inflationären Botschaften geschmückt und von übereifrigen Marketingmanagern erfundene Klischees erfüllen. Legenden, die das Herz berühren. Die von Höhen und Tiefen, Freude und Schmerz berichten können. Die Geschichte geschrieben, Geschichten zu erzählen haben. Von Versenkung, Auferstehung und beinahe ewigem Leben. Legenden wie die Liemba, die mit dem Tanganjikasee, auf dem sie seit Jahrzehnten ihre Runden fährt, untrennbar verbunden ist. Für die wir aus dem fernen Deutschland hierher gereist sind.
Unerwartet groß ist das Schiff, mit weißem Anstrich und dicken Schornsteinen, die hoch über das Geschehen hinausragen. Gleich werden unsere Füße das Deck betreten. Wir haben seit Langem davon geträumt, Bücher verschlungen, im Internet recherchiert. Noch einmal müssen wir uns durch Menschengewühl kämpfen. Entlang an Maissäcken und Trockenfisch. Vorbei