Rolf steht bereits vor dem Immigration Office und fächelt sich mit dem Pass Luft zu. Mein Beamter drängelt in die enge Kabine, vorbei an einem weiteren Offiziellen. Er schiebt sich auf einen kleinen Stuhl, rückt an den Tisch heran und beginnt, umgeben von Formularstapeln, mit dem Vollzug. Zwischendurch wirft er einen Blick durch die Kabinentür, überlegt und zeigt auf das ferne Ufer. »Kalambo River.« Die Flussmündung, vom Schiff aus kaum zu erkennen, bildet die natürliche Grenze zwischen Sambia und Tansania.
»Haben Sie den Wasserfall gesehen?« Wir nicken. Ja, haben wir. Wenige Kilometer von der Flussmündung landeinwärts stürzen die Kalambo Falls 235 m in die Tiefe. Genau genommen keine Fälle, sondern ein einziger, der zweithöchste Afrikas. Ohne Übertreibung kann die Anreise als beschwerlich bezeichnet werden. Da sich der Wasserfall auf sambischem Staatsgebiet befindet, sollte die Tour der Einfachheit halber dort begonnen werden. Zwei Routen bieten sich an. Von Mpulungu aus gilt es mit einem Bötchen die Flussmündung zu erreichen, um danach einen zweistündigen, schweißtreibenden Fußmarsch anzutreten.
Ebenfalls von Mpulungu aus, mit entsprechender Ausrüstung jedoch unbestreitbar bequemer, startet die Alternativroute. Ein Landweg, den wir vor ein paar Tagen gewählt haben. Nach etwa der Hälfte der insgesamt rund 80 km langen Strecke, gleich hinter dem kleinen Nest Mbala, mündet die elegante Teerstraße in eine üble Sandpiste. Schon auf den ersten Metern fühlten wir uns wie auf einem Truppenübungsplatz, der üblicherweise nur von Panzern befahren wird. Eine Herausforderung für Mensch und Material, beide sollten unbedingt geländetauglich sein. Ein Hinweis, den wir offen gestanden ignoriert hatten, und Edwin, einen charmanten lokalen Taxifahrer mit betagter Limousine, aus dem Stand engagierten, um den schönen Ausflug mit uns zu unternehmen.
Auf und nieder, nimmer wieder. Ein Höllenritt. Kurz vor dem Wasserfall wären wir um ein Haar in einer steilen Neigung stecken geblieben. Unser Gefährt ächzte unter der tödlichen Belastung und konnte trotz beherzter Anstrengungen des Fahrers nur schwer befreit werden. Edwin blieb äußerlich gelassen, seine für einen kurzen Moment freie Hand prüfte dennoch unauffällig die Wasservorräte. Und während wir mitten im Überlebenskampf steckten, surrte ein schnittiger Geländewagen mir nichts, dir nichts an uns vorbei. Allrad, ein Segen für den Nutzer. Der Leopard überrundete unseren Go-Kart aufreizend leichtfüßig, um gleich darauf wieder im Busch zu verschwinden. Natürlich nicht, ohne eine Wolke aus Staub und roter Erde zu hinterlassen.
Kurz darauf war klar, dass wir uns verfahren hatten. Verschämt prüfte auch ich nun die Wasservorräte, um nebenbei festzustellen, dass es keinen Handy-Empfang gab. »Wenn man den Weg verliert, lernt man ihn kennen«, heißt es in Afrika. Edwin muss das genauso gesehen haben, er blieb weiter völlig entspannt, pufferte eine Zigarette und lenkte das Gefährt betont lässig mit einer Hand. Mit mehr Glück als Verstand erreichten wir unser Ausflugsziel und besichtigten den Wasserfall auf einer hastigen Wanderung zu den verschiedenen Aussichtspunkten. Wer mag, kann sich am Ziel der Tour in einem Becken erfrischen, das sich unmittelbar am Wassersturz aufstaut. Kein Geländer trennt den Badenden vom Abgrund. Dennoch ein beliebter Treffpunkt für Einheimische diesseits und jenseits der Grenze. Die einen planschen, andere waschen ihre Wäsche.
Der Beamte wirft einen letzten Blick in unsere Pässe. Die Ausreise ist ordentlich dokumentiert. Der Stempel schnappt. Wir dürfen einreisen. Zeitgleich erscheint an der Kabinentür ein unscheinbarer, älterer Mann. »I am Mr. Masimba«, sagt der verschollen geglaubte Schlüsselmann, Kabinenchef, Vertrauensoffizier. Im Ort sei er gewesen, um Einkäufe zu erledigen, lässt er den Stempelbeamten übersetzen. Wir erhalten unseren Kabinenschlüssel. Das Schloss gibt nach, Sesam öffne dich.
Doppelstockbett. Waschbecken, Schrank und Tisch. Davor ein Stuhl. Dazu ein Ventilator und vier Fenster. Die etwa fünf Quadratmeter sind schnell überblickt. Schlichte Funktionalität mit dem Charme einer Jugendherberge vor dreißig Jahren. Wir klappen die Fenster auf, sorgen für Durchzug und testen kurz die Betten, um anschließend richtig einzuziehen. Die Habseligkeiten werden überall in der Kabine verteilt. Nach wenigen Minuten gleicht die winzige Herberge einem Wühltisch beim Sommerschlussverkauf.
Kaffee wäre jetzt schön. Die Steckdose funktioniert, der Tauchsieder heizt. Das braune Pulver schäumt im brodelnden Wasser. Ein behaglicher Duft von Luxus, den ich Rolf verdanke. »Ich hab dir da was mitgebracht«, so der Allerbeste bei unserer Ankunft in Dar es Salaam. Den kleinen Miniheizer und ein Päckchen Kaffee. Genüsslich ziehe ich an einer Zigarette. Wie lange fahren wir? Nur zwei Tage? Schade, ich könnte ewig bleiben. Heimat Liemba.
Wir machen Halt im Hafen von Kasanga, am Fuße eines kleinen Hügels, dem Adadoberg, an einer Landzunge unweit des Dorfes, das sich weitläufig entlang einer malerischen Küste erstreckt. Blickfang ist eine breite Piste, die zu vereinzelten Steinhäusern und Holzhütten hinaufführt und dem kompletten An- und Abreiseverkehr dient. Warentransporte erfolgen ausschließlich über diesen Weg. Unseren Liegeplatz einen Hafen zu nennen, fällt schwer. Ja, es gibt eine Art Kai, und ja, etwa hundert Meter vom Schiff entfernt befinden sich sogar echte Lagerhallen. Und es trifft ebenfalls zu, dass tonnenweise Säcke auf ihren Weitertransport warten. Dennoch ist der vermeintliche Hafen nicht mehr als ein sperriger Betonklotz, der aussieht, als sei er versehentlich am Ufer des Tanganjikasees abgekippt und danach vergessen worden. Lastkräne und Container, die untrüglichen Insignien industrialisierter Nationen, sucht man vergebens.
Eine Schar junger Männer, zum Großteil mit gelben Arbeitsanzügen bekleidet, trifft ein und beginnt mit der Tagesaufgabe. Geschäftig schleppen sie die Fracht Sack für Sack in Reichweite des Schiffskrans. Einen Meter von der Liemba entfernt sind auf dem Boden grobmaschige Netze ausgebreitet. Die gelben Arbeiter werfen im Sekundentakt ihre Last darauf. Immer zwanzig Säcke, dann werden die Netzenden an einen eisernen Haken gehängt. Der Schiffskran surrt. Die Seile spannen sich, das schwere Bündel schwebt in Richtung Frachtdeck, um dort von anderen Männern entladen zu werden. Während unten im Halbdunkel des Frachtraums, tief im Rachen des Schiffs, die Säcke ordnungsgemäß verstaut werden, ist an Land schon das nächste Netz bereit zur Verladung.
Drum herum lungert jede Menge Volk, dicke Frauen und drahtige Männer. Einige beaufsichtigen ihre Waren oder beschriften Säcke mit Namen und Bestimmungsorten. Andere versuchen ein Nickerchen auf dem Frachtgut oder stehen in Gruppen zwischen den übermannshohen Sackreihen zusammen. Wieder andere reden auf Mande Mangabi Mwambila ein. Der Erste Offizier der Liemba beaufsichtigt den Verladeprozess. »Überwiegend Trockenfisch. Dazu Mais und Zement. Vier bis fünf Stunden wird die Verladung ganz sicher dauern«, schätzt er, wirft einen prüfenden Blick auf seine gelben Jungs und nickt zufrieden. Ununterbrochen versinkt Fracht im Bauch des Schiffs.
Am Rande des Geschehens tummeln sich übermütige Kinder. Den kleinen Quälgeistern wird der Spielplatz mit Zuschauertribüne nicht oft geboten. Laut johlend jagen sie über die Hafenanlage und hangeln an Tauen, die die Liemba mit dem Land verbinden. Anfangs folgen sie noch schüchtern den Warnungen der Erwachsenen. Nicht unter den Lastkran! Wehe, ihr stört das Verladen! Nicht auf das Schiff! Doch nach und nach gibt es kein Halten mehr. Die Mutigen entern allen Ermahnungen zum Trotz das Schiff, rennen kreischend über die Decks und stürzen sich kopfüber in den See. Unablässig wird um Aufmerksamkeit gerangelt. Hilfsweise auch ohne Badehose.
Ich entdecke Rolf, der auf dem Hafenvorplatz steht und mich zu sich winkt. Gemeinsam stiefeln wir den Hang hinauf, um ein Erbstück deutscher Kolonialträume zu besichtigen. Am Ende der Landzunge kämpfen die Ruinen der ehemaligen Militärstation und des Bezirksamtes Bismarckburg auf erhabener Position gegen Verfall, Bäume und Gestrüpp. Die 1888 von Ludwig Wolf gegründete Forschungsstation wurde später zum Sitz der Verwaltung des gleichnamigen Militärbezirks ausgebaut, dem zweitgrößten in Deutsch-Ostafrika. Hier residierten Beamte und Mitglieder der deutschen Schutztruppe. Im Ersten Weltkrieg galt sie aufgrund ihrer strategischen Lage als einer der wichtigen Stützpunkte der Westtruppen unter Generalmajor Kurt Wahle. Dieser hatte 1910 den Armeedienst quittiert. Als er im Rahmen einer privaten Reise zu Kriegsbeginn in Deutsch-Ostafrika eintraf, unterstellte er sich freiwillig einem Rangniederen, dem Kommandeur der Schutztruppe Oberstleutnant Paul von Lettow-Vorbeck,