Von GOETZEN bis LIEMBA. Sarah Paulus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sarah Paulus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Учебная литература
Год издания: 0
isbn: 9783737527675
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Kolonisten ihr mobiles Hab und Gut zusammen und flohen mit der Eisenbahn ostwärts an den Indischen Ozean. Als Letzte blieben die Militärs zurück, um alles Kriegswichtige in letzter Sekunde zu zerstören. Sie versenkten die Goetzen und sprengten den Stromgenerator sowie die Poststation. Dann waren da noch die Verwaltungsakten – Unterlagen von Polizei, Zoll, Militär. Die durften nicht dem Feind in die Hände fallen, denn der Amtsschimmel ist schon immer eine mächtige Waffe gewesen, in Zeiten des Kriegs wie in Zeiten des Friedens. Der Oberkommandierende ließ alle Akten zu einem Haufen zusammentragen und wollte sie schon in Brand stecken, als ihn doch Skrupel befielen. Was wäre, wenn das Kriegsglück sich wenden würde und man nach Kigoma zurückkehrte? Wie sollte die Verwaltung arbeiten, nachdem sie ihre eigenen Akten vernichtet hatte? Da hatte der Kommandant die rettende Idee. Er ließ sämtliche Akten in leer geschossene Kanonenhülsen stopfen und diese an markanten Punkten in der Landschaft vergraben – bei diesem oder jenem Affenbrotbaum, unter dieser oder jener Felsnase. Dann stieg er mit den letzten Soldaten in den letzten Zug und machte, dass er ostwärts davonkam, bevor der allerletzte Mann die Bahntrasse in die Luft jagte.

      Als nun die britischen Kolonialbeamten in Kigoma die Verwaltung übernahmen, fehlte es ihnen an allem. Sie wussten nicht, wie viele Untertanen sie überhaupt hatten, und schon gar nicht, wer wann rentenberechtigt war, und sie hatten keine Ahnung, wo die Wasserleitungen im Boden verliefen und wie viel Zoll man üblicherweise auf ein Bushel Baumwolle erhebt. Und weil Verwaltungsleute ohne Akten nicht arbeiten können, fragte nach dem Friedensschluss von Versailles der britische Sieger beim deutschen Verlierer demütig an, ob sich nicht ein ehemaliger deutscher Kolonialbeamter herbeilassen würde, unter britischer Übernahme sämtlicher Reisekosten nach Kigoma zu fahren und anzugeben, unter welchem Affenbrotbaum die Messinghülsen mit den Akten vergraben waren.

      Das geschah dann wohl, woraufhin die britischen Beamten mit den deutschen Akten eine Weile ihrer Ämter walteten. Und als auch die britische Herrschaft am Tanganjikasee zu Ende ging, wurden die Akten, mittlerweile veraltet und nutzlos, ins Staatsarchiv nach Dar es Salaam gebracht.

      Dort liegen sie nun, übrigens sehr hübsch geordnet und klassifiziert. Eine Abschlussklasse der deutschen Archivschule Marburg hat es sich vor vielen Jahren zur Aufgabe gemacht, Ordnung in die Papierstöße zu bringen. Wer sich für die Goetzen interessiert und diese Bestände durchgeht, wird reich belohnt. Man findet Angaben zum Wiederaufbau des Schiffes und sogar einen handschriftlichen Brief des Chefmonteurs Anton Rüter aus Papenburg. Er hatte eine schöne, fein ziselierte Handschrift, und er schrieb, weil Krieg herrschte und wohl die Tinte ausgegangen war, mit lila Farbstift. Dann liegt da auch ein militärischer Einsatzbefehl, der mit dem Namen »Göring« unterzeichnet ist, und man denkt sich: Was jetzt – Hermann? War der auch da? Weitere Abklärungen ergeben dann, dass das Papier nicht vom nachmaligen Fliegergeneral stammt, sondern nur von dessen Bruder. Aber immerhin.

      Das anrührendste von allen Zeitzeugnissen aber habe ich im belgischen Staatsarchiv in Brüssel gefunden. Es datiert vom 9. Juni 1915 und ist der Rapport des belgischen Sergeanten Stéphane Dequanter, der am kongolesischen Ufer des Tanganjikasees Wache schob und ostwärts in Richtung Deutsch-Ostafrika übers Wasser schaute. Da tauchte aus dem Nebel auf dem Binnensee leise und ungeheuer groß ein gewaltiges deutsches Schiff auf, das unglaublicherweise ganz die Form eines Hochseedampfers hatte. Zum Greifen nah zog es am Ufer vorbei. Der Soldat zückte sein Notizheft und erstellte in aller Eile eine Bleistiftskizze – es war, auch hundert Jahre später noch zweifelsfrei erkennbar, die Goetzen, die in jener Nacht zum ersten Mal auf großer Fahrt am belgischen Ufer war.

      Alex Capus

      Mai 2013

      Berlin. Ein Nachmittag im August 2010. Ich las einen letzten Satz und schlug das Buch zu. Fertig. Ausgelesen. Ab in den Bücherschrank. Erledigt? Nein. Die Geschichte hatte mich so gefesselt, dass ich unbedingt jemandem davon erzählen musste. Allein zu Haus. Also telefonieren. Wen anrufen? Rolf.

      Ich plapperte munter drauflos, dann referierte Rolf Schlaumeier. Die Goetzen. 1913 auf Kaisers Befehl in Papenburg gebaut. Benannt nach, na, wie hieß er doch gleich, Gustav Adolf Graf von Götzen, dem ehemaligen Gouverneur von Deutsch-Ostafrika. Ein Dampfschiff, das der kolonialen Präsenz am Tanganjikasee Ansehen und Stärke verleihen sollte. Noch heute schippert es da irgendwo herum. Wie bitte? »Eine Frage der Zeit«, das Buch, das ich gerade gelesen hatte, ist mehr als ein Produkt reiner Fantasie? Ja doch, ein historischer Roman vor echter Kulisse. Jetzt war ich völlig vom Hocker.

      Wer schreibt, sucht Geschichten. Alex Capus hatte sie vor uns gefunden. Eine Reihe anderer Autoren, Journalisten, Künstler und Dokumentarfilmer wiederum vor und nach ihm. Nun stand ich selbst im Bann der Liemba, wie das Schiff heute heißt, einem verbeult-rostigen Kahn mit hundertjähriger Geschichte. Im Verlauf des restlichen Tages lief der Draht heiß. Bis feststand, dass wir uns der Liemba vor Ort nähern und unbedingt mit ihr reisen müssten. Feierlich beschlossen wir den Plan.

      Wir? Pardon, ich vergaß, uns vorzustellen. Rolf G. Wackenberg, auf das G. legt er Wert. Und Sarah Paulus. Während ich mich als freie Autorin verdinge, fuchtelt Rolf ständig mit seinem Fotokram herum. Wir arbeiten oft zusammen, beschreiben und porträtieren Menschen wie Situationen aus allen Teilen des Universums. Lifestyle, Szene und Kultur kommen uns dabei ebenso häufig in die Quere wie Reisen durch Afrika, den Nahen und Mittleren Osten. Unsere Reportagen wurden u. a. in der Welt, Welt am Sonntag, der Süddeutschen Zeitung, der FAZ, im Tagesspiegel, bei Spiegel Online sowie in diversen Magazinen und Unternehmensbroschüren veröffentlicht. Gemeinsam sind wir ein unschlagbares Team.

      Wir reisen immer mit bescheidenen Ansprüchen und kleinem Gepäck, wobei Rolfs Fotoausrüstung den größten Brocken darstellt. Das muss halt so sein. Wo sonst kämen die vielen Bilder her? Die anderen Posten des Reisepackzettels sind genauestens abgezählt und limitiert. Nur bei Schwimmwesten habe ich dieses Mal lange überlegt. Dazu später mehr.

      Es heißt, die Fahrt mit einem Schiff ist wie eine Pilgerreise, man kommt als anderer Mensch zurück. Dem stimmen wir uneingeschränkt zu. Zweimal haben wir mit der Liemba den Tanganjikasee durchmessen. An- und Weiterreise glichen einem Vagabundendasein. In greisen Bahnen und klapprigen Bussen, die anderswo längst aussortiert worden wären. Über holprige Schienenbetten, durch tiefe Schlaglöcher und dichten, roten Staub. Entlang des afrikanischen Alltags mit viel Armut und unbeschreiblichem Lebensmut. Wir lieben Afrika für all seine Unwägbarkeiten jenseits von Luxussafaris und Palmenstränden.

      Sie halten nun ein Buch in der Hand, das unsere Reisen mit der Liemba beschreibt. Wir haben erlebt, gefühlt und gelitten. Gefeiert, gesoffen und überlebt. Auf den folgenden Seiten wird bewusst subjektiv erzählt. Eingeflochten haben wir die schier unglaubliche Geschichte der ehemaligen Goetzen und ihrer Wegbegleiter, samt Mythen und Märchen, die sich seit Jahrzehnten um das Schiff ranken, sowie Informationen über die jüngsten politisch-diplomatischen Bemühungen rund um eine dringend notwendige Generalüberholung. Wir sind keine Historiker, dieses Buch ist kein historisches Sachbuch. Dennoch glauben wir, alle wesentlichen Fakten zusammengetragen zu haben.

      Die alte Dame Liemba haben wir tief in unser Herz geschlossen. Dieses Buch wurde somit zu einer echten Herzensangelegenheit.

      Sarah Paulus und Rolf G. Wackenberg

      Juni 2013

      Christus, Cholera und Fegefeuer

      »Na, das nenne ich doch mal Architektur.« Rolf winkt mich heran. Wir kommen im Haupteingang zum Stehen, staunen herum und behindern die Nachrückenden. Sicher hundert Meter breit und zwanzig hoch, so empfängt uns die farblose Bahnhofshalle in Dar es Salaam. Kein Schnickschnack, kein schmückendes Beiwerk stört den Blick. Groß, schlicht und karg, wie ein überdimensionierter Schuhkarton. Vollgestopft mit Hunderten von Menschen, die auf eine baldige Abfahrt des Zuges hoffen. Ein Ameisenhaufen inmitten chinesisch-praktischer Bauweise.

      Unsacht werde ich nach vorn gestoßen, stolpere unschlüssig in den Schlund und finde an einem Geländer Halt. Von hier öffnet sich der Blick in die untere Etage mit Gängen zu den Bahnsteigen und diversen Schaltern für Tickets und großes Gepäck. Im Halbdunkel einer Nische plaudern Träger, entspannt und ohne Hektik. Staub tanzt im Licht der Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg