Der Casta-Zyklus: Initiation. Christina Maiia. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christina Maiia
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844264579
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und ein weites, brachliegendes Gelände breitet sich vor seinen Augen aus. Gras hat sich teilweise der alten Industrieanlagen bemächtigt und heroisch durch das jetzt nutzlose Metall gekämpft. Alte Schienen erinnern noch an den Gütertransport von und zu dem alten Schlachthof hin, dessen wenig ruhmvolle Vergangenheit nun unter Staub und wucherndem Grün vergraben liegt. Alte, herumliegende Matratzen lassen vermuten, dass sich hier nachts ein paar von der Stadt ausgespuckte Seelen ausruhen und etwas Frieden zu finden versuchen. Zur Linken hat sich wacker eine Reihe einfacher Läden und Kioske gehalten, welche von sehr billigen Mieten und von zwangsweisen Sparern zu jeder Tages- und Nachtzeit profitieren.

      In vielerlei Hinsicht ist dies hier das echtere, ehrlichere Bild der Stadt, sinniert Yoav, als er direkt auf Tonys Bude zusteuert. Die wirklich gefährlichen Ecken liegen woanders, in den großen Türmen, in denen so ungleich mehr Glamour und nur vermeintlicher Anstand haust, oder aber in den Ghettos voller blanker, archaischer Überlebens-Brutalität, dem blinden Fleck dieser Stadt. Aber hierher kommen diese Leute nicht. Auch Yoav hätte Tony und seine Bude nie gefunden, wäre da nicht die Zeit gewesen, da er um jeden dazuverdienten Penny und um jede Chance eines Zuhauses dankbar gewesen war. Nein, nicht nur Tonys Offenbarung von einem Burger treibt ihn immer wieder hierher. Er wird auch niemals seine Freundlichkeit, Gastfreundschaft und Güte vergessen, egal was auch in seinem Leben noch passieren mag.

      „Hey Yoav!“, tönt es ihm herzlich entgegen, während er zeitgleich mit einem magischen Klingeln in den kleinen, hellen Imbissraum fällt. Ich bin Zuhause, denkt er sich zufrieden und tritt hungrig ein.

      Boyle

      Es ist schon spät, als er vor der Tür seines Zimmers in den Untiefen seiner Hosentasche nach dem Schlüssel kramt. Die Stadt liegt unter dem surrenden Licht der Reklametafeln, Hochhausbeleuchtungen und Shop-Transparente, dem zweifelhaften Glanz der Straßen-Spots, Ambulanzsirenen und Autoscheinwerfer. Elektro-Smog vom Allerfeinsten, folgert Yoav. Dann stöbert er endlich auf, wonach er gegraben hat, und die Tür gibt mit einem Knarzen den Weg frei. Sofort kommen ihm der synthetisch erzeugte Soundtrack eines Computerspiels und der Geruch einer Billig-Pizza entgegen, von deren Sorte sich Boyle, sein Mitbewohner, wohl ausschließlich ernährt.

      „Gehst du eigentlich jemals raus?“, schreit Yoav um die Ecke zum Geruchs- und Geräusch-Epizentrum hin.

      Eine seltsam kratzige Stimme dröhnt von dort lautstark zurück: „Hey, Kumpel, was geht?“

      Ich weiß echt nicht, ob es an dem ganzen Gras liegt, das sich Boyle reinzieht und dessen Geruch wir wohl nie wieder aus den Möbeln rauskriegen werden, aber wenn ich ihn höre, muss ich immer an einen 12-Jährigen im Stimmbruch denken, reflektiert Yoav, als er auf Boyles Reich zustapft. „Schon mal in die Küche geschaut heute?“, wirft er ins Zimmer, während er entspannt am Türrahmen lehnt.

      „Ja, Mann, hab‘ extra was von der Pizza für dich übrig gelassen, wenn du magst“, gibt Boyle unter Kauen von sich. Er dreht sich dafür nicht einmal von seinem Screen weg.

      „Ich hatte da eher an den Abwasch gedacht“, versucht es Yoav mit Ironie. Im Regelfall geht sie aber an den Gehirnzellen seines Mitbewohners komplett vorbei. So auch heute. „Du wärst mal wieder dran.“

      „Alles klar, Kumpel, mach‘ ich gleich morgen.“ Noch immer sind die Augen von Boyle keine Nanosekunde von seinem Laptop abgedriftet.

      Sprich‘ mit meinem Rücken, kommentiert Yoav gelassen und lädt seinen Lederbeutel in seinem Zimmer ab. Boyle ist echt in Ordnung, man kann sich kaum beschweren, beschließt er zum x-ten Mal, seit er ihn kennt. Ein guter Typ mit dem Herz am richtigen Fleck und einem akzeptablen Maß an Hirn, mit dem man zuweilen anregende, ziemlich abgedrehte Diskussionen haben kann. Aber diese heftige Abneigung gegen Körperhygiene und die exzessive Schwäche für dieses Kraut sind schon eine echte Herausforderung. Yoav versucht sich zu erinnern, wie eigentlich der richtige Name seines Kumpels ist. Boyle war einfach schon immer da, bereits als er das Zimmer von der Uni zugewiesen bekommen hat, und dem Hörensagen nach gehört er so etwas wie zum Campus-Inventar, vermutlich dank eines satten Treuhandfonds oder ausnehmend toleranter Eltern, worüber er allerdings nie ein Sterbenswort verliert. Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn in Yoavs Gegenwart irgendjemand schon einmal einen anderen Namen als Boyle benutzt hätte, inklusive Boyle selbst.

      Der Name stammt übrigens von seinem Lieblingsbuch, wie Yoav aus erster Hand erfahren durfte. Es befindet sich unter den ausgesucht seltenen Exemplaren an richtiger, echter, gedruckter Hardware und thront in Boyles Zimmer einsam auf dem schiefen Regalbrett, stabilisiert durch ein paar geklaute Pflastersteine und geschätzte drei bis vier Wäscheklammern. „Meine Bibel“, gurrt Boyle jedes Mal verliebt, wenn er mit einem breiten Grinsen über das abgenutzte Cover streicht, auf dem die verblassten Buchstaben von T.C. Boyle zu erkennen sind.

      „Mann“, erklärt er dann, „das ist Grün ist die Hoffnung, kennste das etwa nicht? Ein total abgefahrenes, mega-geiles Buch! Magste mal lesen? Ich geb‘s dir gerne. Also, pass auf: da sind so ein paar Typen, die wollen Gras irgendwo auf der anderen Seite der Grenze anbauen und richtig fett Kohle damit machen, alles natürlich total geheim, und dann geht irgendwie alles schief, Mann, und dann kommt dieser Bär, der sich das ganze Zeug reinzieht, stell‘ dir vor, und der ist dann total breit, und dann......“ Yoav kann sich nicht mehr an alles erinnern, was Boyle darüber geschwafelt hat, aber die Sache ist auch so klar: T.C. ist sein großer Held. Völlig ok. Wir brauchen alle einen davon in dieser wahnsinnigen Zeit.

      Apropos wahnsinnig: Heute ist Yoav etwas Verrücktes passiert. Ein komischer, alter Typ ist ihm über den Weg gelaufen und will ihm seitdem seltsamer Weise nicht mehr aus dem Kopf. Eigentlich absurd, denkt er sich, die meisten Penner in der Gegend um den alten Schlachthof herum sind ziemlich scheu und zurückgezogen oder aber zu besoffen und zugedröhnt, um noch einen klaren Satz formulieren zu können. Doch dieser hier ist anders gewesen. Es war gleich, nachdem er aus Tonys Bude heraus gekommen ist und es schon dunkel wurde. Tony hat ihn heute ungewöhnlich lange belabert, sie haben sich über den Burger hinweg warm geredet und sind dann irgendwie bei Yoavs Zukunftsplänen gelandet. Dann hat Tony für sich ungewöhnlich heftig auf Yoav eingeredet, so von wegen er solle doch sein Talent nicht vergeuden und zu diesen Spießern und verdorbenen Geldheinis gehen, das wäre doch eine Schande, und er, Tony, könne das nicht zulassen, nach all dem, was gewesen sei, und so weiter. Yoav erinnert sich noch, dass er gleichzeitig verwundert und etwas angefressen war, denn Tony ist sonst immer das Verständnis und die Güte selbst, aber hier ist er dann plötzlich ganz dickschädelig und leidenschaftlich geworden und hat Yoavs Argumente einfach nicht gelten lassen wollen. Guter Tony. Wie könnte er es ihm übel nehmen.

      Und dann dieser Alte, der unter den ziemlich verranzt riechenden, abgetragenen Klamotten und der alten, löchrigen Wollmütze so einen klaren, fokussierten Blick gehabt hat. Und erst diese seltsam tiefe, hypnotische und weiche Stimme! Noch nie hat er zuvor auch nur annähernd so etwas gehört. Zuerst hat er sich nichts dabei gedacht, als der Alte sich aus dem Schatten der Häuserwand plötzlich herausgelöst und mit der typische Handbewegung nach einer Fluppe gefragt hat. Er ist in Gedanken noch ganz bei Tony und seiner Moralpredigt gewesen und hat automatisch in seine Jackentasche gegriffen, um sein Päckchen heraus zu ziehen, so wie er es eigentlich immer tut, wenn ihn einer der Penner darum bittet. Aber dann diese Augen, und diese Stimme erst!

      Der Alte hat sich bedankt, mit klaren, wohlformulierten Worten, mit dieser langsamen, tiefen Stimme, die sich wie ein Balsam auf sein Gemüt gelegt hat. Dann noch dieser Blick unter der dicken Wollmütze hervor, der sowohl durchdringend, als auch sehr warmherzig auf ihn gewirkt hat.

      „Was bringt Sie hierher, an diesen Ort?“, hat Yoav unwillkürlich fragen müssen.

      Der Alte hat daraufhin mit einem seltsam ernsten Unterton geantwortet: „Die Wahrheit. Und die Zukunft dieser Welt.“

      Yoav erinnert sich, dass er nicht wusste, was er daraufhin entgegnen sollte. Doch der Alte hat einfach seine Hand genommen und gedrückt und zu ihm gesagt: „Wenn dich beides auch bewegt, dann weißt du, wo du mich findest.“ Dann ist er mit einem Lächeln zum alten Schlachthof abgezogen.

      Ein Verrückter, der nicht mehr alle Beutel im Becher hat? Einer diese Method-Schauspieler