Der Casta-Zyklus: Initiation. Christina Maiia. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christina Maiia
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844264579
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ersten Erkundungsgangs hat sie sich ungewöhnlich erschöpft gefühlt und trotz Meditation und künstlicher Abschirmung deutliche Lücken in ihrer mentalen Steuerung registriert. Dieser Fakt irritiert sie mehr als sie es sich zu diesem Zeitpunkt schon eingestehen will. Beginnt diese seltsame Atmosphäre auf sie abzufärben? Oder liegt es an der Notlandung und sie hat mehr abbekommen als es ihr bewusst ist?

      Entschlossen macht sie die 180 Grad-Wende zurück zur Raumkapsel. Eine goldfarbene, frühe Planeten-Sonne wirft einen langgezogenen, giraffenartigen Schatten vor ihr auf den Grund. Die Temperaturen steigen spürbar an und hinterlassen ein leichtes Flirren am Horizont. Ein trockener Wind fegt über die Ebene und wirbelt einige Körner auf, um sie vor ihr tanzen und dann wieder verschwinden zu lassen. Die Arme der pflanzenartigen Struktur scheinen sich noch gieriger gen Himmel zu recken und in Kishas Kopf formt sich ein erster, beunruhigender Gedanke: Ich hoffe, ich werde dieses Zeug nie essen müssen. Ich hoffe, ich bin spätestens in acht Tagen hier weg.

      X

      Langsam gleitet die winzige Empfangseinheit aus seiner Hand auf die gläserne, hohe Konsole herab. Sein Blick heftet sich nachdenklich auf die halb geschlossenen, silbergrauen Lamellen der Außenjalousie, die das Licht der Stadt gnädig vor ihm abschirmen. Noch immer regnet es in diesem Teppich aus Geräuschen, Stimmen, Vibrationen und Transmissionen, in diesem Moloch aus Maschinen, Lebewesen und Hyperbauten, in der die Menschen auf Ameisenfunktion reduziert sind und es offensichtlich nicht einmal mehr bemerken. Noch immer regnet es, sagt sich X in Gedanken.

      Nach so vielen Jahren in dieser vertrauten Fremde bereitet es ihm zu große Anstrengung, sich selbst noch hören zu können und seine eigene Schwingung wiederzuerlangen. Jeden Morgen und jeden Abend muss er sich deshalb seinen Meditationen und seiner Stimme widmen, präzise wie ein Uhrwerk und stoisch wie ein Mönch, muss diese hämmernde Schnelligkeit drosseln, die nur wenige Zentimeter vor seinen Augen tobt und scheinbar niemals ein Ende kennt. Wie lange noch? Wie lange noch geht das gut? Sie haben keine Geduld, weder für sich selbst noch für andere, kein Hören, kein Anhalten, dafür aber so viel Ausdauer im Getrieben-Sein, stellt er jetzt nüchtern fest.

      Seine blasse, hellhäutige Stirn offenbart feine, doch zu oft geformte Falten, als er sich eingesteht, dass dieser Planet für ihn wohl immer ein Mysterium bleiben wird. So viele Jahre und er wird es niemals begreifen können. Vielleicht will er es auch einfach nicht. Er hat den Punkt längst überschritten, an dem sein anfängliches Mitleid in ein schwächeres und vielleicht besseres Mitgefühl mutiert ist, an dem er die dünne Linie zwischen der großen, schönen Idee der Mission und der Macht des eigenen Willens hinter sich gelassen und letztlich resigniert hat. Man kann niemanden zwingen. Manch einer möchte nicht aufwachen, möchte nicht wachsen, will am Bestehenden festhalten, egal wie sehr er noch daran leidet, und auch darin liegt ein tieferer Sinn, wie in allem, das ist. Nach dem Glauben, dem Xavier, seit er denken kann, sein ganzes Leben und seine ganze Energie gewidmet hat, hat kein Wesen im Universum das Recht, einem anderen die Freiheit zur Selbstbestimmung zu nehmen - gleichgültig, wie dessen Wahl auch ausfallen mag. Und diesem Prinzip ist er immer noch treu, trotz allem, was seitdem hier geschehen ist.

      Heute verrät ihm nur noch der sanfte, feuchte Glanz auf den Lamellen, dass Regen gefallen ist. Die Geräusche der Natur sind für ihn in dem unbarmherzigen Rhythmus der Metropole untergegangen, in dieser Stadt, die alles und jeden erstickt wie ein hungriges Ungeheuer. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie es sich anhört, zuhause, wenn der Regen sanft auf die Gräser fällt, sinniert er, wenn dieses beruhigende, gleichmäßige Rauschen einsetzt und der Geist in diese magische Musik einfließt und sich ganz darin verliert. Ich kann mich einfach nicht mehr erinnern.

      Abrupt dreht er sich von der Fensterfront weg, von dem halbblinden Auge im 31. Stock des Millennium Towers, aus dem er auf die immerwache Metropole schaut, weil die Sehnsucht ihn überkommt wie ein ziehender Schmerz, der seine ganze Brust in sich verkrampft. Der Raum um ihn herum liegt im Dunkeln, die wenigen, einfachen Lichtquellen sind auf das Minimum gedimmt, und nur vage lassen sich eine schwarze, lederartige Couch und eine kleine Herdplatte ausmachen, auf der ein Teller und eine Teekanne ruhen. Relikte, denkt er sich, ausrangierte, alte Erinnerungen. Ich bin wie dieser Teekessel ein Relikt in dieser Stadt, zu antik, zu langsam, zu schwerfällig. Ein Anachronismus, eine seltsame Gestalt aus vergangener Zeit, oder aus einer neuen, die noch in unerreichbar weiter Ferne liegt.

      Er lächelt bitter. Er weiß nur zu gut, dass es für seine Rolle in dieser Mission - für die Verkleidung, die er sich dafür ausgesucht hat wie Schauspieler und Gaukler es tun - von Vorteil ist, wenn er ein unpassendes Kuriosum verkörpert. Niemand würde erwarten, dass ein obdachloser Bettler die neuesten Spielereien besitzt, im Gegenteil, es würde ihn nur verdächtig aussehen lassen oder sogar abwegige Gedanken bei dem einen oder anderen Zeitgenossen hervorrufen. Und Verdacht und Habgier sind so ziemlich das Letzte, das er an diesem Ort gebrauchen kann, auf dieser Bühne des Wahnsinns. Eine fast vergessene Stimme in seinem Kopf meint ihm dazu jetzt „morgen und morgen und morgen“ rezitieren zu müssen, woraufhin er in sich hinein lächeln muss angesichts dieser Referenz an eine ganz andere Bühne.

      Noch vor ein paar Minuten hat er mit Todd auf der abhörsicheren Frequenz diskutiert, ungewohnt heftig, gemessen an der Art, wie beide Männer üblicher Weise miteinander sprachen. Er hat zwischen den Zeilen verstanden, dass Todd sehr nervös sein muss, dass er offensichtlich Druck von unbekannter Stelle bekommen hat, den er nun ungeachtet seiner sonst so ausgeglichenen Art an ihn weitergeben muss. Möglicher Weise ist es aber genau das, was X jetzt für sich braucht, bevor es zu spät ist: einen Grund zu kämpfen, irgendeinen Sinn inmitten dieses kollektiven Unsinns, der ihn umgibt, jemanden, für den es sich noch lohnt, sein Wissen und seine Weisheit zu teilen, weil er mit ganzem Herzen wachsen und leben will.

      Du musst sie finden, Xavier, ermahnt er sich eindringlich, du, Xavier Yun Tam, Gesandter von Casta 3, zweiter Meister des Ordens der Weisheit und vor einer halben Ewigkeit einmal Mitglied der Sternenakademie, du allein hast die Aufgabe, sie zu finden. Und wenn du es nicht schaffst, dann sieht es sehr düster für uns alle aus. Hoffentlich hat meine Stimme nicht schon so sehr gelitten, als dass sie sie nicht mehr erreichen kann.

      Der glatte, seidige Stoff seines Kimonos gleitet über seinen sehnigen, noch immer trainierten Körper, als er sich in der Mitte des Raumes niederlässt und die Beine für seine Meditation ineinander verschränkt. Ein konzentrierter Blick, ein klarer Gedanke, und die Jalousien schließen sich lautlos zu einem dunklen, hermetisch abgeriegelten Raum, aus dem kein Flüstern nach draußen dringen kann.

      Eve

      Die Tür schwebt lautlos beiseite. Sie bleibt in der Mitte des offenen Wohnraums stehen, um ihren Gast zu empfangen. Wie ein Zeitportal, denkt sich Eve, diese Tür ist wie ein Portal, hinter dem die Vergangenheit auf mich lauert und mich in einer einzigen Sekunde wieder einholen kann. Doch dieses Wagnis ist sie eingegangen, als sie sich entschlossen hat, nach ihm zu suchen. Wegen Kisha. Und nur wegen Kisha, bestärkt sich Eve, während die große Silhouette den vom schwächer werdenden Licht des Nachmittags beschienenen Raum betritt.

      „Hallo Sal“, empfängt sie ihn, als er zögerlich auf sie zugeht. Ihre Welt verdichtet sich plötzlich auf die Größe eines Sandkorns. Fast zwanzig Jahre Abstand und doch so vertraut. Eve widersteht dem ersten Impuls, ihn so zu begrüßen als sei nichts geschehen.

      „Hallo Eve“. Der Schatten der Vergangenheit bleibt nur wenige Meter von der Tür entfernt stehen, als spüre er die Barriere, die ihn von ihr und von der Gegenwart trennt.

      „Komm doch herein,.... bitte“. Sie weist auf den gedeckten Tisch. „Ich habe uns einen Kuchen gebacken, du erinnerst dich vielleicht, Zitrone, und eine Tasse Tee?“

      „Gerne.“ Sal sucht sich die Tischseite zur Wand hin aus und lässt sich in einen der ergonomisch geformten Stühle fallen. Er rückt unentschlossen darin herum. Während Eve in ihrer offenen Küche das Tee-Wasser aufsetzt, suchen seine Augen nach ihrem Gesicht. Sie bleiben einen Augenblick dort liegen, neugierig, behutsam, wie eine sanfte Berührung, die er ihr unbemerkt stehlen kann, ohne um Erlaubnis fragen und diese Distanz überbrücken zu müssen, die zwischen ihnen jetzt existiert. Es fühlt