Los, stachelt sie sich an. Ungeschickt hantieren ihre Finger an dem Knauf der Vordertür herum, doch sie bewegt sich keinen Millimeter. Verschlossen. Mist! Automatisch scannen ihre Augen die direkte Umgebung ab, und später wird sie sich fragen, warum sie eigentlich so sicher gewesen ist, wie das Ganze hier funktioniert. Automatisch ertastet sie an der oberen Türkante einen kleinen Gegenstand aus Metall, der sich als passender Schlüssel zu der Vordertür entpuppt. Sie steckt ihn triumphierend in das Loch und dreht um. Die Tür wehrt sich etwas, als sie ihren Inhalt preisgeben muss, doch der kleine Haupt-Raum, der sich daraufhin zu erkennen gibt, ist auf den ersten Blick leer. Doch die Dunkelheit kann täuschen. Sorgfältig durchleuchtet Kisha mit ihrer Stablampe das Zimmer und die kleine Abstellkammer daneben. Die Schatten lösen sich auf und die Schwärze verschwindet. Sie stockt. Unglaublich! Das müssen Humanoide sein! Dort steht ein Bett, hier ein Tisch, ein paar Stühle, ein deckenhohes Regal, eine Art Kochvorrichtung, ein antikes Waschbecken, ein paar Kissen und all der andere, übliche Kram. All das wirkt ungemein vertraut auf sie, nur viel antiquierter, wie aus einem dieser Geschichts-Features auf dem Display, das von einer Zeit noch vor Nonnas Existenz erzählt. Doch die Größe stimmt. Der Lichtkegel der Stablampe signalisiert selbst bei erneutem Hin-und-Her-Schwenken immer wieder denselben, irritierenden Fakt. Wo bin ich hier nur gelandet?
Die Freude über die unerwartete Überraschung vermischt sich schnell mit der Verwirrung, der Müdigkeit und der Angst. Kisha lässt sich kurz auf das Bett fallen, um sich für die gründliche Inspektion zu stärken. Doch die Erschöpfung wirft sie einfach um. Sie sinkt auf den Plaid, aus dem uralter Staub hoch quillt, und ein tiefer Schlaf hat sie umgehend im Griff, während verwirrende Bilder und Töne in sie eindringen, an die sie sich später kaum noch erinnern können wird.
Summm…..…summm…………summm………..seltsames Geräusch……..auf dieser hohen Frequenz…….summm …….. summm……….. immer lauter…………über diesem Teppich aus Rauschen……..summm…………… summm ……….ganz viele einzelne Töne……..wie ein Chor……. Millionen Stimmen……alle durcheinander………………… SUMMM….……SUMMM..….kein schöner Ton……frisst sich durch die Ohren……….dringt in den Schädel ein…... SUMMM!........er tut weh…………… so weh!…….kann nicht denken…….. SUMMM!...............mein Kopf explodiert!.......SUMMM!!!
Einige Stunden später schreckt sie hoch. Sie spürt ihren Kopf hämmern wie nach einer heftigen Begegnung mit einem Querschläger. Dann realisiert sie, wo sie ist, und befördert sich mit einem Satz aus dem Bett. Besorgt schaut sie sich um. Schatten. Nichts als Schatten. Undurchdringbares Dunkel. Panik kommt in ihr hoch. Es ist noch immer Nacht draußen, genau wie in diesem fremden Raum, in dem sie sich viel zu sicher gefühlt hat, so sicher, dass sie nicht einmal daran gedacht hat, die Vordertür hinter sich abzuschließen. Mit einem Puls, der von null auf hundert in 2,5 Sekunden rast, holt sie es nach.
Der zweite Griff geht zu ihrem Kanister und der Stablampe. Der Wasserhahn gibt selbst nach hartnäckigem Hantieren nichts außer einem gurgelnden Geräusch von sich. Ihr nächstes Ziel ist eines der Geräte, das an eine Kochvorrichtung erinnert. Kurzes Knöpfedrehen. Tot. Wahrscheinlich abgestellt, genauso wie Licht und die anderen Systeme. Weiter. Hinter dem Vorhang zu der kleinen Kammer lauern einige Flaschen, die mit Flüssigkeiten von gelb bis schwarzbraun gefüllt sind. Kisha widersteht dem unmittelbaren Impuls, sie einem Geschmackstest zu unterziehen. Ein paar metallene, geriffelte Dosen, deren Inhalt von außen nicht erkennbar ist, lagern direkt daneben. Vielleicht Vorräte. Neben einem transparenten Brillen-Aufsatz mit einem dunklen Rohr bleibt sie schließlich stehen. Was ist das denn? Zwei dunkle Flossen aus einem sehr biegsamen Material mit je einem Loch darin und ein stromlinienförmiges, weißes Brett, das mit bunten Farben und Formen verziert ist, geben sich zu erkennen.
Schließlich setzt sich die Disziplin in ihr durch. Sie befiehlt dem Multi-Scanner den Inhalt der Flaschen präziser zu analysieren. In zwei von drei Fällen trinkbar, innerhalb des Toleranzbereichs, kaum Toxine enthalten, lautet das Urteil, nur die dritte, schwarzbraune Flüssigkeit wird mit einem Alarmzeichen versehen und fällt somit durch. Sie packt den Multi-Scanner zurück in den Kanister und zählt die Notrationen noch einmal durch: Fünf Tage bei sparsamem Verbrauch, eventuell mehr. Einen der Riegel genehmigt sie sich gleich. Mechanisch und geistesabwesend kaut sie darauf herum, ohne Anzeichen von irgendeinem Genuss, denn im Kopf ist Kisha längst damit beschäftigt, sich einen Plan für die nächsten Tage zurechtzulegen.
In der Zwischenzeit hat es draußen zu dämmern begonnen. Ein bewölkter Himmel mit grauen Vorboten prognostiziert einen ziemlich ungemütlichen Tag. Erste Regentropfen, die an den kleinen Fenstern der Hütte abprallen, bestätigen schnell die intuitive Wettervorhersage. Kishas Augenbrauen ziehen sich hoch, fast wie bei Doc T, wenn ihm etwas absolut nicht in den Kram passen will. Sie denkt scharf nach: Bei den Bedingungen bin ich noch viel langsamer als zuvor. Ein Umstand, der jedoch auch den Boden für eine Alternative bereitet: Was wäre, wenn sie noch einen Tag hier bleiben würde, um sich in Ruhe einen Schlachtplan zu überlegen, sich vorzubereiten und von den hämmernden Kopfschmerzen zu befreien?
Sie macht sich auf, die Hütte noch gründlicher zu untersuchen. Aus dem unteren Teil des Waschbeckens befördert sie ein Seil, mehrere Tücher, einen Stock mit langen Fasern, ein leeres Gefäß mit einem Henkel und ein paar bunte Klammern hervor. Objekte eins und zwei nützlich, der Rest bleibt hier. Eine Schublade gibt ein scharfes Messer, Papierservietten und ein angerostetes Essbesteck zu erkennen. Sie packt sich das Messer ein und verstaut es in ihrem Kanister. Aus einer Ecke neben dem Fenster kommen noch eine leere Plastikflasche und ein Stück, das nach Seife riecht, mit in die Ausbeute. Als sie flüchtig die metallene Front eines Geräts streift, bricht sie ihre Suche abrupt ab. Etwas Seltsames reflektiert ihr entgegen, in dem schwachen Licht, das durch das kleine, quadratische Fenster hindurch fällt. Langsam geht sie näher heran. Etwas klebt auf dieser Front, etwas Flaches. Sie nimmt es ab und inspiziert es in ihrer Hand. Es ist ein Foto, auf so etwas wie glitzerndes Papier gedruckt, nicht etwa holografisch in den Raum projiziert wie Zuhause, nein, antiquiert, auf echtem, richtigem Papier. Doch weitaus interessanter ist das, was darauf zu erkennen ist: ein hochgewachsener Junge mit zwei Beinen, zwei Armen, einem Kopf unter einem Büschel blonder Locken, zwei Augen, zwei Ohren, einer Nase, einem Mund, in einem eng anliegenden Anzug, der die braunen Arme und Beine frei lässt, und mit genau dem stromlinienförmigen Brett aus der kleinen Kammer unter den rechten Arm geklemmt. Im Hintergrund liegt das Meer, dieses Meer, es muss ein Foto von genau hier sein, und das Gesicht auf dem Foto lacht sie an.
Automatisch spiegelt Kisha seine Mimik. Und dann geschieht es Seltsames: Von einer Sekunde auf die nächste verliert sie das Gefühl, an einem lebensgefährlichen Ort zu sein. Ich bin sicher hier, sagt sie sich und lässt sich erleichtert auf das Bett sinken.
Das Netz
„Hey, Mann, wo warst du denn?“, tönt es Yoav vorwurfsvoll aus der hinteren Ecke der Studentenbude entgegen, bereits eine Millisekunde, nachdem er die Haustür hinter sich zugeworfen hat.
„Wieso, hast du mich etwa vermisst?“ Yoav bewegt sich unbeeindruckt in Richtung Küche weiter.
Boyle schlurft ihm in seinem üblichen Rundum-Planlos-Look und mit verdächtig viel Interesse entgegen. „Weiß nicht, ist irgendwie nicht dein üblicher Ablauf, Mann. Hab‘ mir Sorgen gemacht“, sagt er ein wenig leiser, als er Yoav in der Küche abfängt.
Wow, ein Anflug von Sympathie, ich bin gerührt. „Aber dass der Kühlschrank voll ist, hast du schon bemerkt“, entgegnet Yoav ironisch. Soviel Spaß muss sein, wenn das Minimum an Zivilisation schon ganz allein in seiner Verantwortung liegt.
„Klar, Mann, echt nett von dir. Ich hätt‘s sonst später auch noch gemacht, ganz sicher.“