Gleich nachdem sie den ersten Streit mit Josy im Hubschrauber auf dem Weg nach Hong Kong hinter sich gebracht hatte und auch die anderen sie eher mit Unverständnis gemustert hatten, ging ihre Auseinandersetzung hier zu Hause weiter. Eigentlich hatten die Vampirwölfe sie begrüßen wollen. Hatten sie gedacht es wäre Sarah, wurden sie schwer enttäuscht. Plötzlich hatten sie Carla angeknurrt und ihr war nichts besseres eingefallen, als zu sagen: ››Elendes Pack! Entweder ein edler, reinrassiger Vampir, oder ein stinkender, dummer Werwolf. Ein Zwischending wird nicht akzeptiert! Ich hab´ genug davon!‹‹ Demonstrativ hatte sie nach ihnen getreten. Auch wenn sie nur die Luft getreten hatte, reichte diese Geste aus, Josy zum explodieren zu bringen. Waren doch diese Tiere ihre Schützlinge und keiner durfte sie so behandeln.
Sie schüttelte sich bei der Erinnerung. Ein eisiger Schauer, der ihr über den Rücken lief und ihr wieder einmal aufs neue bewies, wie widerlich sie diese Viecher fand.
Seit diesem Tag glaubte Carla hier nicht willkommen zu sein und ging ihren eigenen Weg. Ständig war sie an die Personen dieses Hauses angeeckt. Warum wollte nur keiner ihre Beweggründe hören, oder einfach mal auf sie eingehen?
Selbst ihre Aussage von damals, dass sie nicht Sarah sondern Carla war, wollte niemand so recht wahrhaben. Josy hatte ihr mehrere Male eindringlich zu verstehen gegeben, dass sie dieses Spiel sein lassen sollte. Es hälfe sowieso nicht so zu tun, als sei man ein andere Vampir geworden, um den Schmerz seines Seelenbissverlustes zu unterdrücken. Sollten doch alle dies denken.
Wut. Mehr empfand sie bei diesem Gedanken nicht. Blanke, brachiale Wut.
Weit lehnte sie sich zurück und kippelte mit dem Stuhl. Was sie im Spiegel sah gefiel ihr. Die roten Katzenaugen waren umspielt von tiefer Schwärze und brachten sie erst richtig zur Geltung. Schade nur, dass sie dies unter einer dunklen Sonnenbrille verstecken musste. Diese Tatsache war sie unendlich leid!
Als sie sich so zurücklehnte und ihr Blick durch das Zimmer schweifte, blieb er beim großen Schrank kleben. Carla wusste, was sich dort drinnen befand. Allerhand von Ausbeutungen der letzten Wochen. Sie hatte Alexanders Kreditkarte zum Glühen gebracht. In San Francisco hatte sie die teuersten Budiken besucht und sein Konto bluten lassen. Geschah ihm ganz recht!
Wie konnte man nur ein Halbwesen lieben? Carla verstand das nicht. Zugegeben, er sah ganz ansehnlich aus, aber für sie war er ein Werwolf. Schließlich war sein Vater ein Held der Wölfe, wie könnte da ihre Abneigung falsch sein? Sein Vater musste tausende von ihrer Art in den endgültigen Tod geschickt haben!
Eines jedoch hatte sie trotz allem nicht gewagt. In diesem Schrank war noch etwas anderes. Etwas, was sie nicht selbst gekauft hatte. Edel. Schön. Unbeschreiblich. Aber dennoch eine Errungenschaft von ihm. Sie hatte es lediglich ein einziges Mal betrachtet; hatte es nur ein Mal berührt. Carla wusste nicht, was sie von dem Kleidungsstück halten sollte. Es war ihr ein Dorn im Auge, denn es berührte etwas in ihr. Trotzdem war es irgendwie ein Teil ihrer selbst. Sie sollte es lieben. Aber andererseits glaubte sie auch, sie müsse es hassen, denn die Angst vor diesem Gegenstand war unglaublich beständig; genauso wie der Respekt davor.
Es handelte sich um ein wunderschönes Kleid, welches Alexander für Sarah hatte anfertigen lassen. Es sollte wohl eine Überraschung werden, doch da sie zu dem Zeitpunkt der Fertigstellung in Tibet bei den Werwölfe gelebt hatte, war dies gründlich misslungen.
In diesem Augenblick regte sich etwas in ihr. Es war eine Bewegung so zaghaft und sanft, wie eine Feder. Man bemerkte sie kaum, es sei denn, man wartete jede Sekunde darauf. Carla zuckte abrupt zusammen. Ihre Augen wurden groß und ihr Herz begann wie wild zu schlagen. Todesangst klammerte sich in ihr fest und zwang sie kurzatmig nach Luft zu schnappen. Schnell fegte sie den Gedanken hinfort, wie ein Blatt, das dem Wind ausgesetzt war. Weit flog es davon und sollte nie wieder den Weg zurück finden. Blitzschnell dachte sie an andere Dinge; nutzlose, langweilige. Hielt den Atem an und verharrte in jeglicher Bewegung.
Sie wollte weiterleben, dieses Leben genießen und nicht mehr zurück ins Nichts, dass sie so lange in den Fängen gehalten hatte. Alles in ihr war messerscharf gespannt und lauerte nur auf diese Regungen, denn sie konnten ihr Ende sein. Ein unachtsamer Augenblick, ein Moment in dem sie sich nicht unter Kontrolle hatte, würde sie in die Dunkelheit zurück reißen können.
Genau aus diesem Grund verspürte sie jedes Mal in diesen Sekunden Angst. Diese war so geballt und mächtig, dass nichts auf der Welt ihr schlimmer erschien. Carla glaubte dem Tode nahe zu sein. Der Adrenalinausschuss war nur ein Anzeichen davon, dass sie sich auf Messersschneide bewegte.
Sie musste einfach alles, was ihre zweite Hälfte dazu brachte, sich zu regen, auf Abstand halten, oder sogar im Keim ersticken.
Kurze Zeit lauschte sie der Stille und ergab sich ihren sinnlosen Gedankenfetzen und Bildern hin. Erst als sie glaubte, der Moment sei an ihr vorüber gezogen, wagte sie es wieder zu atmen. Der Neugier erlegen ging sie in sich.
Tief griff sie in sich hinein, auf der Suche nach ihr, die sie so vehement von sich weisen wollte. Anfangs fand sie nichts. Weiter und weiter schwamm sie in der Schwärze ihres Unterbewusstseins. Sarah hatte sich dort ihre eigene Welt geschaffen. Ein Abgrund aus purer Dunkelheit, der nicht zu enden schien. Irgendwann nach einer fast endlosen Suche, fand sie in der Finsternis einen weiß schimmernden Schemen. So zerbrechlich wie dünnes Glas. Die Frau drückte ihre Beine an die Brust und hatte sich krampfhaft zusammengezogen. Lautlos ergab sie sich ihren Tränen, die sie sich so oft gewünscht hatte, wieder fließen lassen zu können. Die Schwärze verschlang jeglichen Ton und fast jegliches Leben schwand in ihr, wie eine Kerzenflamme im Wind. Dies war Sarahs Heimat geworden. Ein Land aus Dunkelheit und endlosen Tränen.
Carla hasste Sarah nicht, trotzdem verstand sie ihre Zuneigung für dieses Halbwesen nicht. Sie wusste auch nicht, was sie von diesem Anblick halten sollte. Mitleid? Sollte sie etwa Mitleid empfinden? Nein, im Stillen dankte sie dieser Frau.
Carla liebte ihr Leben. Auch wenn sie Sarah nicht dazu verdammt hatte, sich zu verkriechen, dankte sie ihr. Eigentlich hatte sie geglaubt, dass sie Alex noch gebraucht hätte. Er war ein Mittel zum Zweck, den sie nicht ersetzt bekommen hätte, doch nun war es anders gekommen. Das war ihr nur recht.
Mit einem Schwung befand sich der Stuhl wieder auf allen Vieren und sie stand auf. Ihr Magen begann gewaltig zu Knurren und kündigte seinen Unmut an. Es war wieder einmal Zeit den Vorrat der Davenports zu plündern.
Als sie im nächsten Augenblick durch den Flur schritt, musste sie schmunzeln. Sarah hatte zu Letzt nicht so viel Nahrung benötigt. Ständig hatte sie versucht ihre Aufnahme hinauszuzögern. Seit Carla jedoch hier eingezogen war, dezimierte sie die Vorratskammer wie kein anderer. Für sie war die Nahrung wie eine Sucht, der sie sich ohne jeglichen Kommentar hingeben konnte und wollte. Jeder Tropfen war ein Genuss, den sie selbst auskosten durfte und ihn nicht mehr aus einer anderen Perspektive beobachten musste. Vielleicht war Carla aber auch einfach nur ein besserer Vampir, denn sie akzeptierte sich als Raubtier und scheute sich nicht davor. Sie gebrauchte ihre Kräfte auch weitaus gekonnter, als Sarah es vermocht hatte; so war sie jedenfalls der Meinung. Lag es da nicht nahe, dass sie mehr Blut benötigte?
Plötzlich drangen laute Geräusche an sie heran. Leichtes Vibrieren erfasste ihre Fußsohlen und versuchten sie vergeblich zu kitzeln. Ein gewaltiges Orchester aus Schüssen, Schlägen, Geschrei und purer Gewalt erfüllte die Umgebung. Carlas Trommelfell bebte und wollte platzen; forderte sie auf zu fliehen, doch sie widerstand der süßen Versuchung. Wenn man sich auf andere Dinge konzentrierte und sich vor den Geräuschen verschloss, sie weit von sich drückte und begrub, war es kein allzu großes Hindernis mehr. Warum andere Familienmitglieder hiermit ihre Probleme hatten, war ihr nicht klar. Konnten sie sich nicht so gut beherrschen wie Carla? Sie lauschte dem Klappern der Tastatur; nahm sie in sich auf, sodass die anderen Töne dumpf im Hintergrund verschwanden. Ein Wunder, dass das Gerät seinen Schlägen stand hielt.
Marc vergewaltigte wieder einmal seinen Computer. Er war der Einzige in diesem Haus, den Carla interessant fand. Dieser Vampir hatte etwas geheimnisvolles an sich. Auch wenn er sich seinem Spiel hingab, hatte sie, durch Sarahs Augen, gesehen, wie gut er mit seinen Wurfmessern