Mitternachtswende. Melanie Ruschmeyer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Melanie Ruschmeyer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738044980
Скачать книгу
Leidwesen so echt wirkte und seinen Körper forderte, dass es weh tat. Er hasste und liebte diese Situationen zugleich. War sie doch nicht anwesend, das wusste er, so war sie dennoch als Scheinwesen da. Wie süß und heiß waren die Berührungen ihrer Wange gewesen...

      Voller Inbrunst jaulte er auf, sprintete und sprang an die Felswand. Tief grub er seine mächtigen Pranken in das Gestein und ertrug das widerliche Knirschen, dass seine empfindlichen Ohren erreichte. Der Ton hallte wider und erfüllte die Umgebung mit Gewalt.

      Seine Schulterblätter drückten sich weit hervor, als er begann Silas zu folgen. Die Kraft des Wolfes war sein und um nichts in der Welt wollte er seinem vermeidlichem Lehrer einen Hauch von Schwäche zeigen. Niemand durfte seinen Schmerz sehen. Niemand den Zwiespalt seiner Seele erkennen. Sie machte ihn angreifbar und schwach. Eigenschaften, die er sich nicht leisten konnte.

      Doch war es wirklich niemand, der sein Leid bemerkte? Traurig schauten die Augen des Tieres zu dem schwarzen Fellbündel empor.

      Doch. Eine Person in diesem spärlich besiedelten Gebirge Tibets wusste um seinen Schmerz. Und wenn er sich es eingestand, war er auch sehr froh darum.

      Sie war in seiner Nähe; hörte zu und gab ihm einen Hauch von Halt. Ganz alleine wäre er hier verkümmert, aber seine langjährige Freundin Flora war nicht von seiner Seite gewichen.

      Dass er eben dieser Person gestern ein Versprechen gegeben hatte, was er gebrochen hatte, tat ihm unbeschreiblich leid. Es war nichts weltbewegendes gewesen, lediglich ein kleiner Spaziergang. Jedoch hatte er ihr nicht einmal mitteilen können, dass dieser verschoben werden musste. Ohne ihm auch nur eine Minute zu gewähren, war Silas aufgekreuzt und hatte ihn mit sich genommen. In diesen Augenblicken fühlte er sich wie ein Sklave. Er musste gehorchen und alles stehen und liegen lassen, was ihm wichtig war.

      Zwar war Alexander ihm auf der einen Seite auch dankbar, schließlich half er ihm dabei sein geteiltes Leben zusammen zu fügen, aber auf der anderen Seite, machte dieser Mann mit ihm, was er wollte.

      Seinen Gedanken erlegen versuchte er Silas zu überholen. Denn wenn er erst einmal bewies, dass er ihn nicht mehr brauchte und den Wolf in sich bezwungen hatte, glaubte er, diesen überheblichen Asiaten vorerst losgeworden zu sein.

      Währenddessen saß Flora in ihrem Zimmer.

      Das Papier, welches sich auf dem Tisch vor ihr befand, war zerknüllt und rissig. Wie ein aus Wut und Frust geformter Ball lag er anklagend vor ihr. Ungewollte sackte ihr Kopf nach unten und die blonden Strähnen fielen noch weiter über ihr rechtes Auge. Grimmig brummte sie. Warum tat sie sich das an? Tag für Tag, Zeile für Zeile und Brief für Brief. Langsam war sie es leid ihr Leben in Worte zu fassen und sie an eine Person zu schicken, die ihr wohl keine Beachtung mehr schenkte. Anfangs hatte sie sich noch gefragt warum, doch mittlerweile war diese Frage in Vergessenheit geraten.

      Gedankenverloren blickte sie aus dem Fenster vor sich und stützte ihren Kopf ab. Es war ein schöner Wintertag. Nur wenige Wolken tanzten über dem blauen Himmel. Flora wusste, dass die Stadt, die von ihrer Position gerade nicht zu sichten war, unter einer leichten Schneedecke begraben lag. Bald würde sie durch die einstigen Felder und Äcker spazieren gehen.

      Bei dem Gedanken heiterte sich ihr Gemüt auf und der Gesichtsausdruck wirkte verträumt.

      Der Stift in ihrer rechten Hand kratzte durch ihr kurzes, blondes Haar. Sollte sie weiterschreiben und den Papierball von ihrem Wutanfall befreien?

      Sie seufzte. Mit energisch zusammengepressten Lippen glättete Flora das Papier. Irgendwie konnte sie dieser einen Sache nicht entsagen. Es war eine regelrechte Droge geworden die Briefe an Sarah zu schreiben. Zwar war sie von ihrem eigentlichem Ziel abgewichen, ihrer Freundin eine falsche Liebe zu offenbaren, aber sie hatte vor Wochen damit begonnen, sich eine andere Lüge aufzubauen. Und so schrieb sie auch jetzt weiter.

      Tagesabläufe mit Alexander, die nicht stattfanden. Sie schilderte von Spaziergängen, gemeinsamen Abendessen und Besorgungen. Flora glaubte Sarah auf eine andere Weise zeigen zu können, dass Alex auch ohne sie leben konnte. Dass er sie einfach nicht brauchte, um glücklich zu sein.

      Vielleicht war es gerade diese Erkenntnis, die bei ihr angekommen war und sie antwortete ihr aus diesem Grunde nicht.

      Allerdings ging mit den Briefen auch eine tiefe Traurigkeit einher, die Flora oft zum Weinen brachte. Schmerzlich war das Wissen, dass diese Zeilen nur Lug und Trug waren. Eine Welt, die sie sich wünschte, aber für sie wohl unerreichbar blieb. Alexander hatte kaum Zeit für sie. Stets wurde er vom König oder Silas vereinnahmt, musste üben, die Zeremonien der Werwölfe verstehen lernen und am Hofe des Königs an dessen Politik teilhaben. Wo blieb da noch Zeit für sie?!

      Doch dies war nicht das Schlimmste: Wenn Alex dann doch einmal seinen Pflichten entgehen konnte und sie aufsuchte, erzählte er viel zu oft von ihr. Fast jedes Mal nahm sie sich vor, ihm zu sagen, dass es ihr weh tat. Dass sie das nicht hören wollte, aber sie schaffte es nie. Irgendwie war ihr auch schweren Herzens bewusst, dass er dieses brauchte, um es zu verarbeiten. Daher ertrug Flora es.

      Dennoch fühlte sie sich schlecht. Sie mochte Sarah und versteckte sich hinter einem Trugbild, was ihr unendliche Schmerzen bereitete.

      Wie oft sie schon versucht hatte aus diesem Teufelskreis auszubrechen und wieder klar sehen zu können, wusste sie nicht mehr.

      Ein Seufzer folgte dem Nächsten. Die Konzentration war schon vor unzähligen Minuten an ihr vorbei gerauscht.

      Dann klopfte es am Rahmen der dünnen Schiebetür. Tiefe Freude quoll in ihr auf und breitete sich aus wie ein Lauffeuer. Hitze erfasste ihre Wangen. Der Kopf wurde nach hinten geworfen und drehte sich schnell in Richtung Tür. Heiter sagte sie: ››Herein!‹‹

      Ihr Herz klopfte unermüdlich. Endlich war es so weit und Alexander war ihr wieder nah.

      Doch stutzte Flora, als sie hinter der Schiebewand eine zierliche Silhouette ausmachte. Diese passte so gar nicht zu Alexander.

      Mit einem leisen Zischen schob sich die Tür über den Boden und entblößte einen Besucher, den sie gerade weder erwartet, noch sich sehnlichst herbei gewünscht hatte. Königin Fen drückte die Handflächen aufeinander und nickte ihr begrüßend zu. Heute trug sie ein langes, blaues Kleid. Ein großzügiges Band schnürte ihre Taille zu und ließ sie extrem schmal erscheinen. Ihre schwarzen Haare waren zu einem strengen Dutt gebunden, wodurch ihr schönes Gesicht noch besser zur Geltung kam.

      ››Guten Tag, Flora‹‹, sagte sie und lächelte.

      Floras hoffnungsvolle Erwartung verflog. Obgleich sie Fens liebevolle Art mochte, war sie trotzdem nicht die Person, die sie sich jetzt gewünscht hatte.

      Schlaff sackten ihre Schulter nach unten. Auch ihre Mundwinkel taten es ihnen gleich. Unhöflich wandte sie den Blick von der Königin ab und starrte auf den Teppich vor ihrem Tisch.

      ››Du hast jemand anderen erwartet, stimmt das?‹‹, fragte Fen.

      Flora nickte.

      ››Es tut mir sehr leid, dir das sagen zu müssen, aber Alexander ist heute bereits sehr früh mit Silas zum Training aufgebrochen. Ich glaube gestern mitbekommen zu haben, dass ihr spazieren gehen wolltet‹‹, einen kurzen Moment hielt sie inne und Flora glaubte, dass sie sie abschätzend musterte. Doch nachdem die Königin keine Reaktion bemerkte, sprach sie weiter, ››Ich dachte mir, vielleicht könnten wir beide ein Stückchen zusammengehen?!‹‹

      Der Stich ins Herz war kurz, aber standhaft. Wie eine dünne Stecknadel, die sich in den Stoff bohrte und stecken blieb. Allmählich musste sie diese Enttäuschungen gewohnt sein, so glaubte Flora, doch aus irgendeinem Grund wollte die Gewohnheit nicht siegen. Es war wohl die Hoffnung, die ihr ständig im Wege stand.

      Über ihre Schulter linste sie zu dem zerknitterten Brief. Die Konzentration hatte sie verlassen und ihr Schuldgefühl drückte sie regelrecht von diesem Papier weg. Was blieb ihr also? Vielleicht würde Flora etwas Ablenkung gut tun. Schließlich würde es ihre Zeit bis zum täglichen Familienabendessen dezimieren.

      Ohne den Blick von dem Stück Papier abzuwenden, antwortete