„Was willst du?“, fragte sie deprimiert. Sie konnte es sich bereits denken. Er rief nur an, wenn er etwas mit dem Abholen der Kinder ändern wollte. Dies geschah oft, denn er vertrat die Ansicht, er könne sein Leben nicht so lange im Voraus planen und die Besuchsregelung müsse flexibel gestaltet werden. Das bedeutete aus seiner Sicht, er holte und brachte die Kinder, wann es ihm passte und das immer kurzfristig.
„Ich kann morgen nicht schon um neun Uhr die Kinder holen. Ich komme erst um 13.00 Uhr.“ Das war keine Frage, sondern eine Tatsache.
„Und das fällt dir jetzt ein?“
„Ich habe heute Nachmittag versucht sich anzurufen, aber du warst ja nie zuhause.“
„Du weisst genau, dass die Mädchen am Freitag Ballett haben und ich unterwegs bin. Du hättest auf mein Handy anrufen können. Und ausserdem, weshalb fällt es dir immer erst am Freitag ein, dass du am Samstag die Termine nicht einhalten kannst?“ Sie war nun verärgert. Es war jedes Mal dasselbe und die Ausreden klangen immer gleich.
„Ich habe morgen um neun Uhr einen Termin in Basel und bin deshalb nicht vor 13.00 Uhr wieder zurück in Bern.“
„Und das weisst du erst seit heute? Du musstest dich sicher schon früher anmelden, oder etwa nicht?“
„Ja schon, aber ich hatte so viel um die Ohren mit dem neuen Job. Du weisst doch, dass ich wieder arbeite!“
„Trotzdem hättest du mir früher Bescheid geben können. Ich habe es satt, dass du immer im letzten Moment anrufst und die Termine änderst. Ich habe morgen einen Termin um 10.00 Uhr an der Uni.“
„Wenn du etwas flexibler wärst, könnte ich die Kinder auch mal unter der Woche holen. Aber das willst du ja nicht!“, er begann laut zu werden.
„Natürlich! Mir reicht es vollkommen, wenn ich alle zwei Wochen bangen muss, ob du die Kinder zur abgemachten Zeit abholst oder nicht. Das möchte ich nicht jeden Tag!“
„Du willst mir die Kinder nur nicht öfters geben!“, schrie er ins Telefon. „Du weisst ganz genau, dass ich die Kinder mehr sehen möchte. Aber wegen deiner Sturheit geht das nicht!“
„So wie morgen?“ Jessica versuchte ruhig zu bleiben, wusste aber, dass sie ihn mit dieser Bemerkung ganz aus der Fassung gebracht hatte.
„Was soll ich denn machen? Ich setze die Termine für das Vorspielen nicht selber an!“, schrie er weiter.
„Zum Beispiel mir früher Bescheid geben“, sagte sie weiter in einem ruhigen Ton. „Dann könnte ich…“
„Was könntest du dann? Du arbeitest ja nur halbtags und hast genug Zeit um deinen Hobbies nachzugehen!“, fiel er ihr immer noch schreiend ins Wort.
„Lassen wir das. Es hat keinen Sinn mit dir darüber zu diskutieren. Es ist und bleibt so wie es in der Trennungsvereinbarung steht. Also dann bis morgen um 13.00 Uhr.“ Sie legte auf. Jessica hatte das Gespräch beenden müssen, denn sonst wäre sie in Rage geraten. Die Wut hatte schon zu glimmen begonnen. Sie hasste es, wenn das geschah. Es entsprach nicht ihrem Wesen, die Beherrschung zu verlieren und laut zu werden. Das passierte ihr einzig bei ihrem Ex. Nicht einmal die Kinder schafften es, selbst wenn sie noch so quengelten.
Sie legte das Telefon auf den Tisch und trank einen Schluck Tee. Dann atmete sie tief durch, schloss die Augen und konzentrierte sich wieder auf die Musik. Langsam fühlte Jessica, wie sie sich wieder beruhigte. So blieb sie eine Zeit lang sitzen. Dann öffnete sie die Augen und blickte auf das Telefon.
Sollte sie nochmals versuchen bei ihrem Vater anzurufen? Sie schaute auf die Uhr. Halb elf. Normalerweise ging er nie so früh zu Bett. Er arbeitete meist bis Mitternacht oder noch länger. Es kam ihr vor, als ob ihr Vater seit der Pensionierung noch mehr arbeitete als zuvor. Wenigstens hatte er begonnen Urlaub zu machen und entspannte sich dabei. Obwohl sie wusste, dass er auch dort nicht ohne seine Arbeit sein konnte. Vielleicht hatte er sich heute wegen der Zeitverschiebung früher ins Bett gelegt. Nein, überlegte sie, in Hawaii wäre es jetzt erst Mittag. Bestimmt hat er noch viel an Post nachzulesen. Der Stapel, der sich während seiner Abwesenheit angesammelt hatte, hatte beträchtliche Ausmasse angenommen.
Sie nahm das Telefon und wählte die Nummer aus dem Speicher. Es klingelte. Nach dem fünften Klingeln meldete sich der Anrufbeantworter. Jessica stutzte. Warum hob ihr Vater nicht ab? Er liess nie den Beantworter an, wenn er zu Hause war. Er hatte immer Angst etwas Wichtiges zu verpassen, wenn er nicht jedes Mal ans Telefon ging, wenn es klingelte. Dafür opferte er gerne etwas Schlaf.
Was war nur los? Ist er noch nicht zuhause angekommen? Hatte er seine Pläne wieder einmal kurzfristig geändert und vergessen es ihr mitzuteilen? Vielleicht hatte er sich auch schon wieder in seine Arbeit gestürzt und verfolgte irgendwelche Spuren oder prüfte irgendwo etwas nach.
Am liebsten wäre sie sofort nach Sumiswald gefahren um nachzusehen.
Irgendetwas beunruhigte sie.
Rührte es noch vom Telefongespräch mit ihrem Ex-Ehemann her? Sie wusste es nicht. Doch in ihr drin nagte etwas und lies sie nicht zur Ruhe kommen.
Nach einigen Minuten Grübeln beschloss Jessica, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Sie konnte die Kinder sowieso nicht alleine in der Wohnung lassen, dafür waren sie noch zu klein. Jessica versuchte sich einzureden, dass ihr Vater wohl zu erschöpft von der Reise war und deshalb den Anrufbeantworter nicht ausgeschaltet hatte.
Auch das half nicht.
Sie nahm das Buch vom Tisch und begann zu lesen. Nach einer Seite wurde ihr klar, dass sie gar nicht wusste, was sie soeben gelesen hatte. Ihre Gedanken weilten nicht im neunten Jahrhundert, sondern in Sumiswald. So beschloss sie, schlafen zu gehen.
Aber auch im Bett liessen sich die Gedanken nicht aus ihrem Kopf verbannen. Erst spät fiel sie in einen unruhigen Schlaf.
4.
Immer noch unschlüssig stieg Major Lock die Stufen hoch. Die Informationen waren noch sehr vage. Eine zum Teil verschlüsselte Mail, die sie bis jetzt noch nicht dechiffrieren konnten, sowie ein Gerücht über einen aussergewöhnlichen Fund. Das war alles, was sie bis jetzt vorweisen konnte.
Lock hatte in den letzten fünf Jahren gelernt, wenn sie zu früh Meldung erstattete, dies meist mit einem Wutausbruch des Alten endete. Berichtete sie allerdings erst, wenn hieb und stichfeste Beweise vorlagen, beschuldigte sie Franks jedes Mal, eigenmächtig gehandelt zu haben. Wie sie es auch anstellte, richtig handelte sie für ihn nie.
Sicher, dachte sich Lock, der Empfänger der Mail wurde von ihnen ständig überwacht. Schliesslich hatte er fast zwanzig Jahre für die NASA gearbeitet und aufgrund der heiklen Themen in seinen Büchern war es unumgänglich ihn im Auge zu behalten. Dadurch rechtfertigte sich eine Meldung, auch schon bei geringen Verdachtsmomenten.
Sie hatten schon einige seiner Mails abgefangen und ausgewertet. Meist handelte es sich um Nachrichten, die von irgendwelchen Phantasten verfasst worden waren und ihm sensationelle Enthüllungen versprachen. Doch diese Leute machten sich nicht die Mühe ihre Schreiben zu verschlüsseln. Solche Informationen meldete Lock nie.
Bei dieser Mail kam allerdings hinzu, dass der Absender bei ihnen bisher noch nicht registriert gewesen