Die Kiste Gottes. Stefan Gämperle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Gämperle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738081503
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glaube gesehen zu haben, wie er eine Kiste im Arbeitszimmer auf den Tisch gestellt hat.“

      „Und bei der Übergabe? Konntest du dort auch nichts erkennen?“ Die Stimme des Obersten klang ungeduldig.

      Carpaun wollte dem Obersten nicht mitteilen, dass er Oberhofer nicht bis zur Übergabe hatte folgen können. Er begann mit der Ausrede, die er sich während der Wartezeit auf dem Parkplatz zurechtgelegt hatte. „Die Übergabe fand auf einer Autobahnraststätte statt. Ich konnte deshalb nicht nahe genug ran, ohne bemerkt zu werden“, log er deshalb und hoffte das ihm der Oberste die Geschichte abkaufen würde. „Ich wollte unsere Organisation nicht in Gefahr bringen und ausserdem hat unser Informant ja gesagt, dass die Kiste zu Oberhofer unterwegs sei“, fügte er noch schnell hinzu.

      „Da hast du richtig gehandelt“, antwortete der Oberste mit ruhiger Stimme. „Aber wir müssen wissen, ob die Kiste bei ihm angekommen ist. Es könnte sein, dass sie an jemand anderen gegangen ist. Unser Mann vor Ort hat lediglich spekuliert. Sicher lassen die Verbindungen zwischen Deutz und Oberhofer eine solche Vermutung als wahrscheinlich erscheinen, aber wir brauchen Gewissheit. Danach können wir weitere Schritte planen. Erst dann wissen wir wie ernst die Lage ist.“

      „Ich kann leider nicht genau in das Zimmer sehen, in dem sich Oberhofer im Moment aufhält. Es ist auch schwer ungesehen zu seinem Haus zu gelangen. Es liegt abgelegen am Waldrand. Jeder der auf der Strasse zum Wald fährt, muss zwangsläufig zum Haus gelangen. Von dem Turm, in dem Oberhofer sitzt, kann er die gesamte Zufahrt überblicken. Es fiele ihm sicher auf, wenn sich jemand seinem Anwesen nähern würde.“

      „Was schlägst du also vor?“, fragte der Oberste fordernd.

      „Wie wäre es, wenn ich in sein Haus einbreche um nach der Kiste zu suchen?“, schlug Carpaun vor.

      Es entstand eine kurze Pause. „Ja, mach das. Wenn er schläft, brichst du ins Haus ein und holst unser Eigentum für uns zurück.“

      „Wäre es nicht besser, wenn wir warten bis er das Haus verlässt?“ Carpaun hatte noch nie einen Einbruch begangen und wollte es lieber versuchen, wenn sich niemand im Gebäude befand.

      „Und was geschieht, wenn er die Kiste mitnimmt?“, fragte der Oberste wütend. Er war es gewohnt, dass seine Befehle ausgeführt und nicht hinterfragt wurden. „Ausserdem können wir es uns nicht leisten noch länger zu warten. Je mehr Zeit vergeht, desto grösser ist die Gefahr, dass noch weitere Leute von der Kiste erfahren. Das darf nicht geschehen! Es sind schon zu viele Gerüchte im Umlauf. Alleine, dass von der Kiste gesprochen wird, ist schon zu viel! Seit langem lag sie in Ruhe gebettet und von der Menschheit unbeachtet, so wie es sein muss. Was zurzeit geschieht, darf nicht sein. Die Zeit ist noch nicht reif. Wir brauchen die Kiste für unsere Organisation. Sie wird uns eines Tages dazu verhelfen, endlich das Ansehen und die Wertschätzung zu erhalten, die uns zusteht. Wir werden diejenigen sein, die der Menschheit die Augen öffnet! Wir alleine werden die Überbringer der Wahrheit und Weisheit sein! Wir werden denjenigen an die Spitze setzen, der laut der Überlieferung dorthin gehört! Doch ist noch zu früh, die Welt nicht bereit. Wie müssen weiter geduldig warten und die Geheimnisse bewahren. Unsere Stunde wird kommen und dann werden wir bereit sein.“ Er predigte mit einer Stimme, mit der er Zuhörer in seinen Bann zu schlagen vermochte.

      „Jawohl Oberster, ich werde noch heute Nacht den Auftrag erledigen!“, antwortete Carpaun mit brennendem Eifer.

      „Und vergiss nicht“, erinnerte der Oberste Carpaun eindringlich, „es gibt nichts, was wichtiger ist als unsere Organisation. Für den Ruhm und die Anerkennung in der Gesellschaft ist kein Preis zu hoch!“

      Die Leitung wurde unterbrochen. Der Oberste hatte aufgelegt. Carpaun wusste, was er mit der letzten Bemerkung meinte. Er griff in das Handschuhfach und nahm die geladene Magnum und das Messer heraus, steckte beides in seine alte Winterjacke und stieg aus dem Honda Civic. Er streckte seine starren Glieder und begab sich entschlossen auf den Weg zu Oberhofers Haus. Er wollte das Eigentum der Organisation zurückholen: Koste es was es wolle.

      3.

      Mozarts kleine Nachtmusik, gespielt von den Berliner Philharmonikern, erfüllte den Raum. Die Klänge schienen sich in der modern eingerichteten Dachwohnung wohl zu fühlen. Der dunkle Holzboden und die Deckenbalken spielten harmonisch mit dem Weiss der Wände, an denen wenige Gemälde hingen. Die Möbel verteilten sich locker im Raum.

      Jessica Neumann holte die Tasse Earl Gray aus der Küche, nahm das Buch von der silbernen Anrichte im Esszimmer und legte beides auf den kleinen gläsernen Salontisch im Wohnzimmer. Als die Duftkerzen begannen ihren lieblichen Duft zu verströmen, ging sie zu ihrem Lesestuhl und legte die Beine auf den Hocker. Sie trank einen Schluck Tee, nahm das Buch vom Tisch und legte es auf die Beine. Sie schloss die Augen und lauschte einige Augenblicke lang der Musik. Gerne hätte sie sich selber ans Klavier gesetzt und etwas gespielt, doch dafür war es zu spät. In Gedanken liess sie den Tag nochmals Revue passieren.

      Am Morgen hatte sie zwei Vorlesungen an der Universität über Platons „Der Staat“ gehalten. Danach war sie nach Hause gefahren, um das Mittagessen für die Kinder zu bereiten. Obwohl sie Pizza gebacken hatte, schien es eine Ewigkeit zu dauern bis die Kinder ihre Teller leer gegessen hatten. Marco, der älteste, ass mit viel Appetit und war schnell mit dem Essen fertig. Er beeilte sich immer, damit er seiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen konnte: Computerspiele. Bei den Mädchen dauerte es wie gewöhnlich länger. Neuerdings träumte und plapperte Simone während des Essens mehr als das sie ass. Das hatte sie, wie so vieles, von ihrer grossen Schwester Julia übernommen. Genau wie das „verliebt sein“ in fast alle männlichen Klassenkameraden. Scheinbar fehlte es keiner von beiden an Verehrern. Julia machte sich in der zweiten Klasse sehr gut und Simone war der Einstieg in die erste hervorragend gelungen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten hatten sich bei Marco die Probleme gelegt und er hatte sich gut in die dritte Klasse integriert. Mit den schulischen Leistungen konnte Jessica bei allen zufrieden sein.

      Nach dem Essen brachte sie Julia und Simone zum Ballettunterricht und machte Besorgungen in der Stadt. Marco blieb zu Hause. Da sie in der Altstadt von Bern wohnte, besass Jessica kein Auto. Sie ging fast täglich Einkaufen, damit sie nicht riesige Mengen auf einmal schleppen musste. Als sie die Einkäufe zu Hause abgestellt hatte, musste sie sofort wieder los, um die Mädchen abzuholen. Nach einem versprochenen Abend im Kino kehrten sie nach Hause zurück, wo das übliche Prozedere - wie jeden Tag - ablief. Keines der Kinder wollte zu Bett gehen. Um neun herrschte wohl verdiente Ruhe und sie konnte sich dem Rest der Wäsche zuwenden.

      Nun sass sie endlich in ihrem bequemen Lesestuhl und wollte bei einem guten Buch entspannen. Sie strich sich mit der Hand ihre langen, schwarzen Haare aus dem Gesicht und nahm das Buch zur Hand. „Die Päpstin“, ein Buch, das sie sich schon lange vorgenommen hatte zu lesen, bisher aber noch nicht dazugekommen war. Jetzt konnte sie es kaum mehr aus der Hand legen, denn es hatte sie von der ersten Seite an gepackt. Sie schlug es auf und tauchte mit den ersten Worten sofort wieder in die Welt des 9. Jahrhunderts ein, um mit Johanna die Erlebnisse zu teilen.

      Sie hatte kaum richtig zu lesen begonnen, als sie das Telefon ins Heute zurückriss. Der Blick auf die kleine Standuhr auf dem Sideboard zeigte ihr, dass es bereits 22.00 Uhr war. Wer konnte das um diese Zeit sein? Vielleicht ihr Vater, der heute aus dem Urlaub zurückgekommen war und für den sie das Haus gehütet hatte? Sie hatte schon einige Male versucht ihn anzurufen, aber ihn nie erreichen können. Eigentlich wollte er am frühen Abend zu Hause eintreffen.

      Sorgen machte sie sich keine. Seit ihr Vater nicht mehr arbeitete, änderte er oft spontan seine Pläne und vergass es ihr mitzuteilen.

      Sie stand auf, holte das drahtlose Telefon von der Station und setzte sich wieder in den Sessel.

      „Neumann“, meldete sie sich.

      „Hallo, hier auch.“

      Ihre Stimmung sank schlagartig. Ihr Ex-Ehemann. Sie lebten schon seit drei Jahren getrennt. Da er sich nicht auf eine fixe Besuchsregelung mit den Kindern einlassen wollte, musste sie warten bis die vier Jahre Trennungszeit abgelaufen waren, damit er sich der Scheidung nicht mehr widersetzen konnte.