Carpaun selber gehörte noch nicht lange dem erlesenen Kreis an. Doch seit er aufgenommen worden war, hatte sein Leben wieder einen Sinn.
Es hatte lange gedauert bis er Zugang zur Gruppe gefunden hatte. Nach den ersten Gerüchten, die er über das Internet aufgeschnappt hatte, war er fast jede freie Minute damit beschäftigt gewesen, einen Weg zu finden um Kontakt mit ihnen herzustellen. In einem Chatraum gelang es ihm schliesslich mit einem Mitglied der Gruppe zu sprechen. Was er dort erfuhr, elektrisierte Carpaun geradezu. Alles was er dachte und woran er immer geglaubt hatte, schien von der Organisation vertreten zu werden. Endlich hatte er Leute gefunden mit denen er über seine Ideen sprechen konnte, ohne gleich als Spinner abgetan zu werden. Carpaun brannte darauf direkt mit den Gruppenmitgliedern in Kontakt treten zu dürfen. Doch von den Chatgesprächen bis zum ersten Treffen dauerte es Monate. Die Organisation legte grössten Wert auf Diskretion. Sie operierte im Verborgenen – noch.
Alles lief geheimnisvoll und anonym ab. Nachdem die Person im Chat offenbar zur Ansicht gelangt war, dass er in die Organisation passt, musste ihm Carpaun alles über sich erzählen. Danach hörte er fast einen Monat nichts mehr. Weder im Chat, noch sonst auf eine Art und Weise konnte er mit der Person in Kontakt treten. Bis er an einem Abend einen roten, unbeschrifteten Umschlag im Briefkasten vorfand. Goldene Lettern prangten auf dem ebenfalls roten Papier im Umschlag. Darauf wurde ihm angekündigt, dass er am selben Tag um 19.00 Uhr zu einer Anhörung abgeholt werde. Es wurde ihm mitgeteilt, wann und wo er zu warten habe. Wie aufgetragen verbrannte er den Brief, nachdem er sich alles eingeprägt hatte.
Carpaun konnte sein Glück kaum fassen. Weil er es kaum erwarten konnte, stand er schon dreissig Minuten früher am vereinbarten Treffpunkt. Pünktlich um 19.00 Uhr fuhr dann ein schwarzer Mercedes mit getönten Scheiben vor. Das Fenster auf der Beifahrerseite öffnete sich einen Spalt und eine Hand deutete auf die Hintertür. Carpaun ging zum Wagen, öffnet die Hintertür und stieg ein. Die Rückbank war leer. Nur ein rotes Tuch und eine Karte lagen auf der hellbeigen Rückbank. Der Fahrerbereich war durch eine undurchsichtige Scheibe abgetrennt, so dass er nicht erkennen konnte, wer vorne sass. Er nahm das Tuch und verband sich damit die Augen, so wie es ihm auf der Karte befohlen wurde. Als er diesen Befehl ausgeführt hatte, setzte sich der Mercedes in Bewegung.
Die Fahrt dauerte lange. So kam es Carpaun jedenfalls vor.
Nachdem der Wagen endlich wieder zum Stehen kam, blieb Carpaun sitzen. Die Tür öffnete sich und eine Hand packte seinen rechten Oberarm. Mit verbunden Augen führten sie ihn in ein Haus und dann zwei Stockwerke nach unten. Sie blieben stehen und sein Begleiter klopfte dreimal kurz hintereinander an die Tür und nach einer kurzen Pause nochmals viermal mit längeren Abständen. Hinter der Tür fragte eine Stimme etwas in einer Sprache, die Carpaun nicht verstand, worauf sein Begleiter eine Antwort murmelte, scheinbar ebenfalls in derselben, fremden Sprache.
Quietschend öffnete sich die Tür. Carpaun wurde hindurch geschoben. Im Raum konnte er Stimmen hören, die alle durcheinander sprachen. Sein Begleiter und auch die Person von der Tür geleiteten ihn in durch den Raum und setzten ihn auf einen Stuhl. Als sie ihm die Augenbinde abgenommen hatten, blickte sich Carpaun um. Er sass in der Mitte eines grossen Gewölbekellers, dessen Decke von Scheinwerfern angestrahlt wurde. An den Wänden ruhten riesige Kerzenständer auf denen viele grosse Kerzen brannten. Es gab keine Fenster und die Tür, durch die er gerade gekommen war, bildete scheinbar den einzigen Zugang zu dem grossen Gewölbe, das wie eine fensterlose Kirch auf ihn wirkte. Die Wände aus nackten, grob behauenen Steinen erhoben sich hinauf zu der gewölbten Decke und trugen keine Verzierungen.
Hinter ihm sassen auf einfachen Holzstühlen ungefähr fünfzig vermummte Personen. Sie trugen alle rot-schwarze Roben und ihre Gesichter steckten in roten Kapuzen, die nur zwei Öffnungen für die Augen enthielten.
Vor ihm, an einem langen schweren Holztisch der mit feinen Schnitzereien verziert war, sassen sieben weitere Leute. Sechs trugen leuchtend rote Roben mit einer schwarzen Kapuze, während die Person in der Mitte eine sonnengelbe Robe trug. Als einziger trug er keine Kapuze, sondern eine Maske, die der des Tutanchamun sehr ähnlich sah. Wie Carpaun bald erfahren würde, war er der Oberpriester der Organisation. Er sass auf einem geschnitzten Thron aus dunklem Holz und goldenen Verzierungen.
Das heben seiner Hand liess alle Anwesenden sofort verstummen. Dann sprach er zu Carpaun. Mit deutlichen Worten machte er ihm unmissverständlich klar, dass alles was er hier sehen und hören würde auf keinen Fall nach aussen dringen dürfe. Dies sei das oberste Gebot der Gruppe und wer dagegen verstosse, werde mit dem Tode bestraft.
Nachdem Carpaun geschworen hatte, dass er sich daran halten werde, stellten sie ihm unzählige Fragen. Alle beteiligten sich an dem Verhör, nicht nur der Rat der Priester. Durch die Stimmen konnte Carpaun erkennen, dass es auch Frauen in der Gruppe gab. Eine sass sogar im Priesterrat.
Die Befragung dauerte ungefähr eine Stunde. Er wurden alle Aspekte seines Lebens ausgeleuchtet, von der Kindheit über seine Eltern, den Glauben, seine Haltung zu den Religionen allgemein, bis zu seiner momentanen politischen Einstellung.
Schliesslich verbanden ihm wieder zwei Männer die Augen. Der Oberste erklärte ihm, dass er, falls er aufgenommen werden sollte, wieder von der Gruppe hören werde. Er dürfe bis zur Entscheidung keine Versuche unternehmen mit der Gruppe in Kontakt zu treten. Sollte er dagegen verstossen, hätte dies zur Folge, dass die Aufnahme automatisch abgelehnt werde. Bei einer Ablehnung sei es ihm untersagt, weitere Nachforschungen über die Organisation anzustellen. Solche Aktivitäten würden unter keinen Umständen geduldet.
Carpaun erklärte bereitwillig, dass er die Regeln einhalten werde. Damit endete die erste Sitzung für ihn und sie brachten ihn an die Stelle zurück, wo sie ihn abgeholt hatten. Nachdem er mit verbunden Augen aussteigen musste und die Tür geschlossen hatte, jagte der Wagen sofort davon und verschwand in der Nacht.
Es dauerte zwei lange Monate bis er endlich wieder etwas von der Gruppe hörte. Er hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, als er eines Abends in seine kleine, muffige Zweizimmerwohnung neben den Bahngleisen zurückkehrte und auf dem Sofa im Wohnzimmer ein rotes Paket vorfand. Schnell riss er die Schnur und das Papier herunter. Darin fand er einen Brief und eine rot-schwarze Robe mit einer roten Kapuze.
Vor Freude schrie Carpaun und sprang im Zimmer herum.
Der Brief enthielt lediglich Informationen darüber, wann und wo das nächste Treffen der Organisation stattfinden würde. Die Robe symbolisierte, dass er jetzt dazugehörte. Carpaun hatte eine Familie gefunden, einen Ort an dem er sich selber sein durfte und an dem man ihn achtete.
All das lag nun schon drei Monate zurück und dieser Auftrag war sein erster. Er hatte sich sofort freiwillig gemeldet, als der Rat jemanden dafür suchte. Seine Erfahrungen als Bodyguard sollten ihm helfen auch in schwierigen Situationen auf sich selber aufpassen zu können. Sein Ehrgeiz liess ihn nicht warten bis er an der Reihe war in der Organisation aufzusteigen. Er wollte schneller empor. Auch lohnte es sich finanziell. Die untersten Schichten, in der er sich derzeit befand, erhielten keine Zuwendungen von der Organisation. Dies galt als eine Prüfung der Loyalität. Bei höheren Rängen erhielt man Vergünstigungen und auch einen Lohn. Carpaun wollte seinen momentanen Job als Nachtwächter so schnell wie möglich loswerden und ganz den Zielen der Gruppe dienen.
Carpaun zog das Handy aus der Tasche und wählte die Nummer des Obersten. Nach zweimaligem Klingeln meldete sich eine dunkle, warme Männerstimme.
„Was gibt es Neues?“, fragte der Oberste ohne Umschweife. Es konnte sich nur um Carpaun handeln. Die Nummer, die Carpaun gewählt hatte, war speziell für diese Operation eingerichtet worden, genauso wie das Handy das Carpaun benutze nur dieses eine Mal verwendet wurde. Am Ende der Mission würden beide Handys zerstört werden. Dadurch sollte es Verfolgern unmöglich gemacht werden, die Personen zu identifizieren, welche die Telefone benutzten. Die Gruppe verfügte über genügend Verbindungen sich eine Telefonnummer unter Angaben von falschen Daten einrichten zu lassen.
„Oberhofer ist vor ungefähr zwanzig Minuten zu Hause angekommen, blieb dann eine Weile in der Garage und sitzt nun in einem Turmzimmer“, berichtete Carpaun.
„Und, hat er die Kiste?“