Wie es sein Vater gewünscht hatte, hatte Jurij eine zweite Route für den Drogen- und Menschenschmuggel nach Mitteleuropa aufgebaut. Diese war weit lukrativer und sicherer als die nördliche Route. Für wen er keine Verwendung im Bestimmungsland hatte, der kam dort nie an. Jurijs Schergen entledigten sich der Illegalen an vorher vereinbarten Orten. Es war ein sicheres Geschäft, denn niemand vermisste sie und niemand stellte Fragen. Das Geschäft blühte auf und Jurij war am Höhepunkt seiner Macht angekommen.
Inzwischen war Josef Iwanowitsch fast siebzig Jahre alt. Natascha hatte er nach Olegs Tod in ein Sanatorium bringen lassen. Wenige Wochen später war sie gestorben.
Zwei
Ich saß am Küchentisch und dachte an die Schreie. Mein Blick war auf den braunschwarzen Kreisel in meiner weißen Kaffeetasse gerichtet während ich abwesend mit einem kleinen zerkratzten Löffel darin umrührte. Neben der schlichten Kaffeetasse lag die aufgeschlagene Tageszeitung auf der grünen Tischfläche. Ich hatte die Schlagzeilen des Tages überflogen und war bei einem Artikel über den Aufgriff von Flüchtlingen im Grenzgebiet hängen geblieben. Ich hatte Schwierigkeiten mich zu konzentrieren. Der Einsatz der vergangenen Nacht hatte deutliche Spuren hinterlassen. Mein Blick glitt in die Ferne meiner Erinnerung und plötzlich hörte ich diese verdammten Schreie wieder.
Wir lebten in einer ruhigen Straße am Stadtrand von Plovdiv in Bulgarien. Ich war noch ein Junge. Mein Vater war ein schwer arbeitender Mann gewesen, ehe sich die Situation in unserer Heimat zugespitzt hatte. Er war bei der Miliz und hätte nur noch vier Jahre bis zu seiner Pensionierung gehabt. Meine Mutter war in einer Metallfabrik am Stadtrand am Fließband beschäftigt. Uns ging es für damalige Verhältnisse gut. Bis die Wirtschaft völlig zusammenbrach.
Meine Mutter verlor ihre Arbeit und wurde krank. Die wohlhabenden Menschen, wie der Direktor der Metallfabrik oder einige Stadträte und der Bankdirektor flohen in einer Nacht- und Nebelaktion und überließen die Stadt ihrem Schicksal. Nicht jedoch ohne sich vorher noch die Taschen mit Geld vollzustopfen. Die Metallfabrik war fast der einzige Arbeitgeber und von den Einnahmen durch die Fabrik bestritt die Stadt den größten Teil ihres Budgets. Damals war mit der Hilfe vom Staat nicht zu rechnen. Viele kleinere Städte gingen in dieser Zeit Bankrott und die Menschen versuchten entweder in der Hauptstadt ihr Glück oder schlossen sich Schleppern an, die sie in den Westen bringen wollten. Verbrecher nahmen das Ruder in die Hand. Banden aus dem Ausland, vor allem aus Russland und der Ukraine, versuchten die Situation für sich zu nutzen und lieferten sich untereinander erbitterte Kämpfe. Es war der junge Jurij Jokov, der am Ende den blutigen Unterweltkrieg für sich entschied. Zuerst mischte sich die Miliz nicht ein, denn es war in ihrem Interesse, dass sich die Banden selbst eliminierten.
Doch als der Bandenkrieg vorüber war, wurden die Bewohner Opfer von Jokovs Verbrechern und immer öfter mussten mein Vater und seine Kollegen eingreifen. Doch auf Dauer hatten sie keine Chance. Die Kriminellen waren der örtlichen Miliz zahlenmäßig überlegen und hatten die besseren Waffen. Die Polizisten mussten klein beigeben, wenn sie und ihre Familien in diesem Kampf nicht sterben wollten. Unterstützung aus der Hauptstadt oder vom Militär war nicht zu erwarten. Die Menschen lebten in Angst. Sie wurden erpresst und bestohlen. Die wenigen übergebliebenen einheimischen Geschäftsleute mussten Schutzgeld zahlen. Einige, wie der Bäcker und der Schneider in unserem Viertel, weigerten sich zu zahlen. Sie verschwanden über Nacht und niemand hat sie je wieder gefunden. Immer mehr Menschen verließen meine Heimatstadt.
Doch die Meisten wussten, dass es in nächster Zeit nirgendwo in Bulgarien genug Arbeit und Frieden für einen Neuanfang geben würde. Immer mehr wollten Bulgarien verlassen und nach Westeuropa oder gar nach Amerika auswandern. Jokovs Schlepperbande nutzte die Not der Menschen aus und nahm Ihnen für die Flucht in den Westen ihr letztes Hab und Gut ab. Terror und Einschüchterung regierten nun vor unserer Haustüre.
Ich war zwölf Jahre alt als ich zum ersten Mal diese Schreie hörte. Zuerst waren sie noch weit entfernt. Doch als ich eines Abends nach Hause ging, sah ich einen schwarzen großen Wagen vor einem schmalen dreistöckigen Haus stehen. Vor dem Auto standen zwei Männer in schwarzen Lederjacken an die Motorhaube gelehnt. Sie rauchten und unterhielten sich. Ab und zu lachte einer von Ihnen, als ob sie sich gegenseitig Witze erzählten. Im Erdgeschoß des Hauses befand sich ein Friseursalon. Das Licht brannte und aus der offenen Tür konnte ich laute Stimmen hören. Und diese Schreie! Ich spürte, dass hier etwas vor sich ging, das ich nicht sehen sollte. Bevor mich die beiden Männer am Wagen entdecken konnten, wechselte ich auf die andere Straßenseite. Ich fühlte immer stärker, dass ich einen Bogen um das riesige schwarze Auto und die beiden kräftigen Männer machen sollte. Im Schatten der Hausmauer schlich ich die Straße entlang und lugte immer wieder zum Friseurgeschäft hinüber. Durch die Auslage konnte ich noch zwei Männer in schwarzen Lederjacken erkennen, die mit Stöcken und Fäusten auf einen Mann im Geschäft einschlugen. Ein dritter Mann war von hinten über die Friseurin gebeugt, die immer wieder laut aufschrie. Es schien mir, als würde der Mann die Frau in den Rücken treten. Immer wieder schob er seinen Körper wuchtig vor und zurück. Mit der einen Hand drückte er die hübsche junge Frau nach unten, mit der anderen zog er sie an den Haaren zu sich zurück. Die Frau schrie und weinte, der Mann röchelte nur noch und hustete flach.
Ich erfuhr erst am nächsten Tag von meinem Vater, dass sich der Friseur geweigert hatte, sein Schutzgeld zu bezahlen. Er hatte es diesen Monat nicht geschafft, die verlangte Summe zusammen zu bekommen, denn für einen eleganten Haarschnitt hatte kaum mehr jemand Geld übrig. Sowohl der Friseur als auch sein Frau wurden von den Schlägern vergewaltigt und brutal misshandelt - als Abschreckung für andere, die nicht zahlen wollten oder konnten. An diesem Tag hörte ich auch den Namen Jokov das erste Mal. Jokovs Organisation wurde immer brutaler. Sie erpresste nicht mehr nur die Geschäftsleute, sondern schreckte nun auch vor ganz normalen Menschen, nicht einmal mehr Frauen, Kindern und Alten zurück.
Ich lebte gerne in dem Haus am Stadtrand. Es war aus Holz gebaut und manche Latten waren schon erheblich verwittert. Ich erinnerte mich, dass Vater, mein großer Bruder Plamen und ich schon viele Holzlatten getauscht, die Löcher geflickt und die Außenwände in einem schönen hellen Grün angemalt hatten. Seit dieser Zeit war Grün meine Lieblingsfarbe. Das Grün des Grases hatte ich am liebsten. An der Rückseite des Hauses befand sich eine kleine Terrasse, auf der einige Holzstühle standen, die Vater und ich gebaut hatten. Früher hatten wir im Sommer auf der Terrasse gekocht. Am liebsten aß ich Bob-Tschorba, eine mit Paprika geschärfte Bohnensuppe, Gjuwetsch oder Kavarma, ein Eintopf in vielen Varianten, der in einem Tongefäß zubereitet wird. Dann saßen Mutter, meine Schwester Radka und ich auf den Stühlen und bereiteten gemeinsam das Essen zu. Als Kind war ich selten in der Stadt. Ich hatte im Haus und im Garten alles, was ich mir zum Spielen wünschte. Pflanzen, Holz, Werkzeug - alles, womit Kinder ihrer Phantasie freien Lauf lassen konnten. Ich bastelte mit Vater und Plamen, kochte mit Radka und Mutter und spielte mit meinem besten Freund Simeon Räuber und Gendarm. Wenn Simeon und ich im Haus spielten, versteckten wir oft kleine Steine, die der andere dann mithilfe kleiner Rätsel, die wir auf kleine weiße Zettel kritzelten, finden musste. Simeon neigte dazu, zu schwindeln und wenn ich den Stein fast gefunden hatte, lenkte er mich ab um den Stein erneut zu verstecken.
Ich stand von meinem Stuhl auf und schlurfte in den eleganten Hausschuhen und im Schlafmantel zum Toaster. Ich schob zwei rechteckige Scheiben Roggentoast in die Schlitze und drückte den Schieber nach unten. Mein Blick war auf den Fussboden gerichtet. Ich hatte den Boden am vergangenen Wochenende mit einer Politur eingelassen. Der helle Parkettboden glänzte in der Morgensonne.
Anders als der Boden in dem kleinen grünen Haus damals. Der war dunkelbraun gewesen, fast schwarz, und hatte schon einige Risse. Die Holzdielen waren ganz glatt gehobelt von den tausenden Schritten und Tritten, die in fast siebzig Jahren darauf