Der Gesang des Satyrn. Birgit Fiolka. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Birgit Fiolka
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748591832
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nunmehr einem ganzen Jahresumlauf gestoßen worden war. Es war ein angenehmer Tag im Frühsommer, und die bunten Stoffe der Tuchweber flatterten wie Fahnen im Wind, sodass Neaira sich kaum vorstellen konnte, dass sie ihr einmal wie ein undurchdringliches Labyrinth erschienen waren. Kurz hielt sie den Atem an, als sie über die Schwelle trat, denn sie befürchtete, dass etwas oder jemand sie zurückhalten würde; doch es geschah nichts. Es war so einfach, über diese Schwelle zu treten. Neaira konnte ihr Glück kaum fassen.

      Obwohl Idras ihren Stock dabei hatte und wie ein Wachhund darauf achtete, dass keines der Mädchen fortlief, genoss Neaira den Weg zur Agora, der sie hinaus aus der Gasse der Tuchweber und immer hügelaufwärts durch die Straßen Korinths führte. Je weiter sie liefen, desto aufgeregter wurde sie. Auf der Agora wären viele Menschen. Es wäre leicht, Metaneira dort einfach an die Hand zu nehmen und mit ihr fortzulaufen. Idras war dick und würde ihnen in dem Gewimmel nicht so schnell folgen können. Nun bereute Neaira, dass sie der Freundin nicht vorher von ihren Fluchtplänen erzählt hatte. Sie hoffte, dass sie Metaneira nicht lange würde bitten müssen. Doch wer konnte schon widerstehen, an einem solch schönen Tag fortzulaufen?

      Wie schon mit ihrer Mutter wurden sie hier und da angestarrt, während sie zu dritt durch die Straßen liefen. Doch ein Wort von Idras genügte bereits, die Blicke der Männer abzuwehren. Erinnerungen gingen Neaira durch den Kopf, die schnellen Schritte ihrer Mutter, das unbarmherzige Ziehen an ihrem Arm und die Hoffnung auf süße Datteln. Neaira zupfte an ihrem einfachen Chiton und erinnerte sich, dass sie bei ihrer Ankunft in Korinth einen vergleichsweise Schöneren getragen hatte. Doch was machte das schon? Sie fühlte den Sand der Straße zwischen ihren Zehen, der sich in ihre Sandalen setzte, spürte die warme Sonne auf ihr Haar scheinen, und sie vernahm den Lärm der Straße. So frei war sie schon lange nicht mehr gewesen. Metaneira, die den Ausflug ebenfalls genoss, hatte einen Schleier über ihren Kopf gelegt und hielt ihn sich vor das Gesicht, wenn ein vorbeifahrender Karren zu viel Staub aufwirbelte. Ihr Betragen war ganz so, wie es Idras gefiel. Die Freude über den Ausflug trübte sich ein wenig bei Neaira, als Idras an einer breiten Straße zwei gelangweilte Sänftenträger heranwinkte. Ohne große Eile handelten sie den Preis einer Beförderung bis zur Agora aus. „Sie ist eine edle Dame“, ereiferte sich Idras, um den Preis zu drücken.

      Die beiden Träger grinsten und zeigten dabei ihre schlechten Zähne. „Ein edles Pferdchen“, sagte einer und machte eine kreisende Bewegung mit dem Becken. Neaira kramte in ihrer Erinnerung, wo sie dies schon einmal gesehen hatte und erinnerte sich an den Akrobaten, der ihre Mutter mit einer solchen Geste bedacht hatte.

      Der überdachte Tragstuhl war zwar schäbig, trotzdem bestand Idras nach erfolgreicher Verhandlung darauf, dass Metaneira ihn bestieg. „Deine Haut wird sonst zu dunkel“, murrte sie. Für die gezahlten zwei Obolen erlaubten die Männer, dass Neaira sich zu Metaneiras Füßen kauerte. Neaira wäre lieber gelaufen, denn wer konnte schon wissen, wann sie das nächste Mal die Gelegenheit bekam, das Haus Nikaretes zu verlassen. Ach nein, ich werde ja gar nicht dahin zurückkehren, fiel ihr wieder ein. Ein Blick auf Idras Stock ließ sie ihren Unwillen hinunterschlucken. Ihre Weigerung war eine Trachtprügel nicht wert.

      Auf der Agora bezahlte Idras die Träger und schob ihre beiden Mündel mit wachsamen Augen vor sich her, während sie an diesem und jenem Stand mit den Händlern in keifendem Tonfall um die Preise der Waren feilschte. „Für diese einfachen Bänder verlangst du zwei Obolen? Zeus muss dich geblendet haben oder glaubst du, mich für dumm verkaufen zu können?“, waren ihre Argumentationen, denen die Händler immer wieder nachgaben, wenn Idras nur laut genug zeterte. Einem anderen, der ihr zwei Schleier für einen ihr viel zu hoch erscheinenden Preis verkaufen wollte, drohte sie mit dem fleischigen Finger. „Ich warne dich Theodenis, Sohn des Inreneus. Bist du nicht oft genug Gast in Nikaretes Haus, sodass du großzügig sein kannst?“ Sie zog Metaneira zu sich hin und schob sie vor den Händler, der mit verschränkten Armen vor ihr stand. „Soll dieses arme Ding etwa keine neuen Kleider bekommen wegen eines Geizhalses wie dir? Die Götter sollen dich strafen.“

      Das Grinsen des Händlers wurde breit. Er beglotzte Metaneira als wäre sie eine Kuh, die zum Verkauf stand. Neaira fand, dass er ziemlich dumm aussah.

      „Ich erlasse dir einen Obolus für jeden Schleier“, schlug er vor. „Aber dafür will ich bei meinem nächsten Besuch auch das Mädchen.“

      Idras schob Metaneira wieder ein Stück zur Seite. „Die ist zu teuer für dich. Sie ist eine von Nikaretes Töchtern. Aber die Herrin wird sich dir gegenüber bei den anderen Mädchen großzügig zeigen.“

      Der Mann wurde zornig. „Meine Schleier soll ich dir für weniger Obolen überlassen, und im gleichen Augenblick sagst du, dass das Mädchen da zu teuer für mich ist. Wen wundert es da, du alte Halsabschneiderin!“

      Idras zog ungerührt ihren Geldbeutel hervor und zählte dem verärgerten Mann seine Obolen in die Hand. Dann raffte sie die Schleier und drückte sie Neaira in die Arme. Drohend beugte sie sich so weit zu ihr hinunter, dass Neaira ihre schlechten Zähne riechen konnte. „Wenn du auch nur einen Zipfel des Stoffes im Sand schleifen lässt, schlag ich dich grün und blau.“

      Geistesabwesend nickte Neaira und raffte die Stoffe fest vor ihre Brust, während Idras sie und Metaneira wieder vor sich herschob. „Die Herrin sagt, dass du fleißig bist“, wandte Idras sich mit unfreundlicher Stimme an Metaneira, während sie sich inmitten der Menschen auf der Agora weiter voranschoben. „Sie sagt, dass du dir als Belohnung etwas aussuchen darfst, doch es soll nicht mehr als einen Obolus kosten.“ Wie um ihre Worte zu unterstreichen, schob sie Metaneira auf einen Stand mit hübschen Schmuckstücken und Salbtiegeln zu. Neaira trottete gelangweilt hinter ihnen her und überlegte fieberhaft wie es ihr gelingen sollte Metaneira zur Flucht zu bewegen, wenn Idras sie nicht aus den Augen ließ. Ihre gemeinsame Flucht hatte sie sich einfacher vorgestellt. Unauffällig sah Neaira sich um und verzog ihren Mund zu einem Schmollen. Sie brauchte zuallererst einen guten Fluchtweg - vielleicht die kleine Gasse hinter dem Tempel oder doch lieber die andere in der entgegengesetzten Richtung? Während Neaira sich umsah, blieb ihr Blick plötzlich auf der sandigen Straße haften. Aufgeregt folgte sie mit den Augen den ungewöhnlichen Fußspuren und nahm aus den Augenwinkeln wahr, wie ein roter Mantel hinter der Ecke eines Hauses in der schmalen Gasse verschwand. Vergessen waren Mänaden, Satyrn und ihre schauerlichen Feste. Erinnerungen und längst vergessene Gefühle erfassten Neaira, während sie wie angewurzelt dastand und auf die Fußabdrücke starrte. Hektisch sah sie sich nach Metaneira um, die mit Idras am Stand eines Händlers um eine Haarspange feilschte. Neaira sah unentschlossen von Metaneira zu der kleinen Gasse, in welcher der rote Mantel verschwunden war. Dann vergaß sie Idras und den Stock in ihrer Hand, sie vergaß sogar Metaneira und wurde endgültig von ihren Sehnsüchten gepackt ... von den Mustern in den Sandalen ihrer Mutter, von dem roten Mantel, den sie an kühlen Tagen getragen hatte, von versprochenen Datteln, die sie nie bekommen hatte. Neaira ließ die Stoffe fallen und rannte los. Mutter! Mutter bitte warte doch auf mich, flehte sie stumm. Obwohl sie den erschrockenen Aufschrei Metaneiras hinter sich vernahm und den wütenden Fluch Idras, zwängte Neaira sich furchtlos zwischen den Leibern der Menschen hindurch. Sie verfing sich im Mantel eines Chitons, dessen Besitzer ihr eine Ohrfeige verpassen wollte, entschlüpfte ihm aber und rannte weiter. Sie wusste, dass Idras es mit ihrer Leibesfülle schwer haben würde, ihr zu folgen. Keuchend bog Neaira in die schmale Gasse ein und wusste, dass sie es nicht noch einmal schaffen würde fortzulaufen, falls Idras sie einholte. Wie ein Spürhund folgte Neaira den Fußspuren. Als Nächstes bog sie um eine Häuserecke und lief eine abschüssige Gasse entlang, die von hohen Bäumen gesäumt war. Neaira wunderte sich darüber, dass sie menschenleer war, und konzentrierte sich weiter auf die Fußspuren im sandigen Boden. An einer Gabelung endeten die Fußspuren, da die Gasse ab hier mit Steinen gepflastert war. Als Neaira um die nächste Ecke bog, wäre sie fast auf das nackte Hinterteil eines Mannes geprallt, bevor es ihr gelang sich im letzten Augenblick an der Häuserecke festzuklammern. „Mutter!“ Die Worte kamen Neaira über die Lippen, ehe sie darüber hätte nachdenken können.

      Der Mann vor ihr erschrak und zog fluchend seinen hochgefrafften Kurzchiton über sein nacktes Hinterteil, bevor er seinen Mantel über die linke Schulter warf und sich zu ihr umwandte. Seine Augen hatten etwas Zorniges, das Neaira erschreckte. Ängstlich wich sie vor ihm zurück und erkannte im selben Augenblick,