Neairas Mutter verschwendete keine Zeit für weitere Überlegungen. „Gut, fünfzig Obolen.“
Nikarete zog einen Geldbeutel unter den Falten ihres Chitons hervor. Ohne Eile zählte sie der Mutter fünfzig Obolen in die Hand. Dann endlich schien die Mutter zufrieden. Sie beugte sich zu Neaira hinunter, auf den Lippen ein festgefrorenes Lächeln. „Neaira, du wartest hier bei Nikarete. Ich hole dich morgen ab, wenn die Sonne aufgeht. Sei brav, und mache mir keine Schande.“ Sie fuhr Neaira über das Haar und nickte Nikarete zu. Neaira bekam furchtbare Angst. Als ihre Mutter sich umwandte, wollte sie ihr hinterherlaufen, wurde jedoch von Nikarete am Handgelenk gepackt und festgehalten. „Mama! Mama, geh nicht, nimm mich mit, ich werde auch brav sein, ich verspreche es!“, jammerte sie kläglich. Doch die Mutter wandte sich nicht mehr um - vielmehr beschleunigte sie ihre Schritte, je lauter Neaira nach ihr rief. Ihr Chiton verschwand in der Farbenvielfalt der flatternden Tücher. Neaira sah sich gehetzt um. Die Tücher, die gerade noch so freundlich und farbenfroh gewesen waren, erschienen ihr jetzt wie ein Labyrinth, das die Mutter in seinen Tiefen verschluckte. Noch einmal zerrte sie mit aller Kraft an der Hand Nikaretes um freizukommen und hinter der Mutter herzulaufen. Nikarete, deren Geduld schnell erlahmte, zog die schreiende Neaira in das Haus, hinter die rote Tür. Das Herz des Kindes setzte einen Moment aus, als die Tür hinter ihm mit einem dumpfen Laut zufiel. Es war düster und roch nach kalter Asche, die von einem Hauch Blütenduft verdeckt wurde. Neaira meinte, dass es so im Hades riechen musste, wo die Toten als Schatten umherwandelten. Alles lag unter einem Mantel aus Asche, jegliche Empfindungen wären unerreichbar. Neaira aber wusste, dass sie nicht im Hades war, denn sie empfand sehr wohl etwas – Angst.
„Ich will nicht hierbleiben. Ich will zu meiner Mutter“, klagte sie aufgebracht. Nikarete packte sie noch fester am Handgelenk als zuvor, sodass Neaira schmerzvoll das Gesicht verzog. Sie zwang das aufgebrachte Kind, ihr in die funkelnden Augen zu schauen. „Ich bin nun deine Mutter, Kind! Hier wirst du besser leben als bei diesem Weib, das dich zu mir brachte. Ich schicke dich nun zu deinen neuen Schwestern. Morgen werden wir schauen, wozu du zu gebrauchen bist.“
Neaira stand stocksteif. Wollte die Frau sie etwa nicht mehr zu ihrer Mutter lassen? Sie musste sofort weglaufen. Was wäre, wenn ihre Mutter zurückkam und Nikarete sie nicht zu ihr ließ. Im Hinblick auf diese Vorstellung schüttelte Neaira ihre Angst ab. Es gelang ihr, sich von der Hand Nikaretes loszureißen und ihr mit verzweifelter Wut gegen das Schienbein zu treten. Nikarete heulte auf und fasste sich an das schmerzende Bein, während sie immer wieder einen Namen rief. „Idras!“
Neaira stob herum und suchte nach dem Riegel der Tür. So hoch schien er zu sein, und sie streckte sich, doch war einfach zu klein, um ihn zu erreichen. Ihre Hände waren nass vom Schweiß – nur ein kleines Stück weiter recken, den Riegel hochschieben und in die Freiheit laufen. Ihre Mutter konnte noch nicht weit sein, und sie hatte sich den Weg zurück zur Agora gemerkt. Neaira wischte sich über die Augen, die voller Tränen waren, und streckte weiter ihre Hand nach dem Riegel aus, als eine Welle heißen Schmerzes zuerst durch ihren Rücken, dann durch ihren gesamten Körper fuhr. Mit einem Schrei sackte sie zusammen und wurde von zwei groben Händen wieder auf die Beine gezogen. Noch immer halb vom Schmerz gelähmt fuhr sie herum und blickte in das Gesicht einer riesigen vierschrötigen Frau mit dunkler Haut, deren grell gelber Chiton die massige Körperfülle nur vage verhüllte.
„Idras, bring sie zu den anderen, die kleine Mänade. Schlag sie, aber nicht so hart, dass sie nicht mehr zu gebrauchen ist!“ Neaira hörte nicht auf die Worte von Nikarete, die sich langsam vom Schreck des Trittes erholt zu haben schien; sie starrte der dunkelhäutigen Frau in das fleischige Gesicht und die kalten Augen. In ihrer großen Hand hielt sie einen biegsamen Stock, gleich einer Weidenrute. „Wie du befiehlst, Herrin“, antwortete die Schwarze in kehligem Akzent. Dann packte sie Neaira mitleidlos am Arm und schleifte sie mit sich, immer weiter fort von der Freiheit verheißenden roten Tür.
Es war nicht der Schmerz, der wie Feuer brannte, und auch nicht die Angst vor den weiteren angedrohten Schlägen, die Neaira zittern ließen, während die Schwarze sie vor sich hertrieb. Es war die Gewissheit, sich immer weiter von der Tür zu entfernen, durch die Nikarete sie gezogen hatte – immer weiter fort von ihrer Mutter. Je weiter die Schwarze sie in das Haus trieb, desto schaler wurde der Geruch. Einmal musste sie husten, weil die Trockenheit der Luft ihr im Hals kitzelte. Idras zog ihr Mündel weiter, trieb Neaira zunächst durch einen langen Korridor, dessen Wände rot getüncht waren, ehe sie um eine Ecke bogen, die in einem schmucklosen mit Steinen gepflasterten Hof mündete, von dem aus zur Rechten und zur Linken Zimmerfluchten zu sehen waren. Neaira blieb wie angewurzelt stehen und starrte zur Sonne hinauf. Wenn es ihr gelingen würde über die Zimmerfluchten zu klettern und auf der anderen Seite heil hinunter zu gelangen, wäre sie frei. Idras schien ihre Gedanken zu erraten und grinste boshaft. „Denk nicht einmal daran“, flüsterte sie mit ihrer kehligen Stimme und fuhr sich mit dem Stock über den Hals als würde sie ihn aufschlitzen. Neaira begann zu weinen.
Hier und da spähte ein junges Mädchen aus einer der Türen, das neugierig war, was es wohl mit dem Geheule im Hof auf sich hatte. Einige der Mädchen hielten Spindeln in den Händen oder einen Korb mit Wolle. Nur kurz hoben sie die Brauen als sie das weinende Kind entdeckten. Als sie Idras sahen, verschwanden ihre Köpfe wieder in ihren Zimmern. Idras schubste Neaira zu einem Durchgang im hinteren Teil des Hofes, von wo aus ein kurzer Korridor zu weiteren Zimmerfluchten führte. Hier veränderte sich der Geruch und bekam etwas Beißendes. Wieder sah Neaira sich vorsichtig um, fand jedoch keinen Fluchtweg. Bei einer von außen verriegelten Tür blieb Idras schließlich stehen, um sie zu öffnen und Neaira hineinzustoßen.
Hinter Neaira fiel die Tür mit einem lauten Knall zu, während sie stolperte und mit den Knien auf dem harten Steinboden aufschlug. „Aua“, jammerte sie und rieb sich die aufgeschürften Knie. Beim Fall war ihr Chiton zerrissen, und sie hätte am liebsten vor Wut geschrieen. Was erlaubte sich die Schwarze überhaupt? Sklaven schlugen keine kleinen Mädchen!
Neaira hielt sich die Nase zu, als sie bemerkte, dass der beißende Geruch, den sie bereits auf dem Flur vor der Tür wahrgenommen hatte, jetzt ein ekelerregender Gestank war. Ungelenk stand sie auf und erschrak, da einige Augenpaare auf sie gerichtet waren. Schnell wischte sie sich die Tränen aus den Augen. Große Kinderaugen musterten Neaira wie ein seltsames Tier, einige ältere Mädchen hatten bereits das Interesse verloren. Sie hatten sich auf die Polster eines steinernen Schlafpodestes gedrängt, das kaum genug Platz für sie alle bot. Neaira zog ihre Rotznase hoch und wich einen Schritt zurück Sie stanken ... ihre Chitone waren fleckig und verschwitzt, das Haar klebte ihnen strähnig im Gesicht. Einige der kleineren Kinder hatten sich und ihre Chitone vollgepinkelt. Neaira ging zurück zur Tür und hämmerte dagegen. Wie lange waren sie hier schon eingesperrt, und warum hatte ihre Mutter sie hier gelassen, bei dieser grausamen Idras und der gemeinen Nikarete? Sie wollte raus und schrie nach Leibeskräften, damit die Schwarze zurückkäme. Dieser Raum war zu voll, als dass man einen weiteren Bewohner willkommen geheißen hätte. Als die Schwarze nicht kam, schob Neaira trotzig die Unterlippe vor und erwiderte den Blick der anderen Mädchen. Drei von ihnen schienen in Neairas Alter zu sein, zwei von ihnen waren junge Frauen, eine weitere stand an der Schwelle zur Frau. Es gab keine Fensteröffnung, sondern nur eine Spalte über der Tür, durch die spärliches Licht und viel zu wenig frische Luft einfielen. Was sollte sie jetzt tun?
Eines der Mädchen, es hatte ein hübsches Gesicht mit weichen Zügen und helles Haar in der Farbe reifer Gerste, sprang vom Lager und kam zu ihr. Unter dem Gestank von Schweiß und dem Urin der Kinder duftete sie leicht nach Mhyrre, was Neaira an zu Hause erinnerte. Mit einem Zipfel ihres dreckigen Chitons wischte sie Neaira die letzten Tränen vom Gesicht. „Ich bin Metaneira“, sagte das Mädchen leise und lächelte wie die Statue von Aphrodite zu Hause in Neairas kleinem Zimmer. „Wie ist dein Name?“
Neaira wollte dieser Metaneira antworten, doch aus ihrer Kehle kam nur ein Quietschen. Ohne dass sie es gewollt hätte, rollten wieder dicke Tränen über ihre Wangen.
„Lass sie! Die wird sich schon beruhigen.“ Eines der älteren Mädchen machte sich bereit, den ohnehin knappen Platz auf dem Polster zu verteidigen.
Metaneira