„Morgen verlasst ihr mein Haus!“ Philostratos Worte waren eindeutig. Dann stand er vom Tisch auf und ging. Neaira sah ihm nach und beobachtete, wie ihre Hoffnungen und Träume ihr den Rücken zuwandten.
„Was für ein fader und freudloser Mann.“ Nikarete konnte nicht verstehen, was gerade geschehen war.
„Er ist nicht fade! Seine Freude gilt anderen Dingen. Er ist ein anständiger Mann!“ Wie um sich selbst zu rechtfertigen, verteidigte Neaira ihn.
„Unsinn! Dieses endlose Geschwafel über diese wundervolle Polis und die ach so große Athene hat mich ermüdet. Soll er zum Tartaros gehen, dieser langweilige Dummkopf. Ich bin froh, dass wir morgen endlich aus diesem Haus verschwinden können. Athen ist mir ein Gräuel – was muss man hier tun, um etwas Geld zu verdienen und sich zu amüsieren?“
Neairas Hass und Abscheu überwältigten sie. Wie oft würde Nikarete ihr noch alles Schöne und Gute, was ihr im Leben widerfuhr, verderben? Obwohl sie es nicht wollte, sprudelten die Worte aus ihr heraus. „Ja, in Athen würdest du arm werden, denn hier legt man Wert auf Feinfühligkeit und Eleganz, was beides nicht zu deinen Stärken zählt.“
Ungläubig riss Nikarete die Augen auf und sah dieses wütende Kind mit offenem Mund an. Noch nie hatte sie etwas anderes als Trotz oder Angst im Gesicht dieses Mädchens gesehen. Sie holte zu einer Ohrfeige aus, die Neairas Wange zum Glühen brachte. „Noch immer hältst du dich also für etwas Besseres, ja? Warte ab, du wirst noch früh genug lernen, wo dein Platz im Leben ist.“
Neaira hatte nicht vor abzuwarten. Nikaretes Ohrfeige brannte noch immer, aber lange nicht so schmerzhaft wie ihr Herz. Sie konnte nicht zulassen, dass etwas, das so schön begonnen hatte, so schlimm endete. Wie damals bei Hylas, dachte sie unglücklich, während sie sich einen leichten Chiton überwarf und dann auf nackten Füßen aus ihrem Raum schlüpfte. Es war spät in der Nacht, die Sklaven schliefen auf ihren Matten, und das Haus lag im tiefen Schlaf. Sogar das laute Schnarchen der Harpyie war zu hören, als Neaira die Zimmertür hinter sich schloss. Es war leicht den Flur entlang zu schleichen und unbemerkt bis zu Philostratos Schlafzimmertür zu gelangen. Als Neaira vor der geschlossenen Tür aus Zedernholz stand, blieb sie stehen. Sie würde es ihm erklären. Sie würde ihm sagen, dass sie alles versucht hatte, sich Nikarete zu widersetzen. Philostratos war ein kluger und mitfühlender Mann ... wie Lysias.
Sie öffnete leise die Tür und trat ein. Im Raum war es dunkel, und sie konnte den Mond durch die Fensteröffnung scheinen sehen. In der Mitte des Raumes stand Philostratos Schlafkline, und unter den Laken sah sie ihn, wie er ruhig dalag und atmete. Wie konnte er so ruhig schlafen, nachdem was heute geschehen war? Wie konnte er schlafen, während sie wachlag? Zweifelnd betrachtete Neaira sein entspanntes Gesicht, das auf einem Kissen ruhte. Lieber hätte sie ihn die ganze Nacht angesehen, jetzt, da sein Gesicht wieder so freundlich und weich war wie an dem Tag, als sie gemeinsam durch Athen gegangen waren. Aber sie musste ihn wecken. Neairas Hand zitterte, als sie ihn leicht an der Schulter berührte. Er murmelte etwas, dann öffnete er die Augen. Neaira zog die Hand zurück als erwarte sie, dass Philostratos sie fortschlug. Als er sich aufsetzte, war sein Gesicht nicht mehr weich und sanft, sondern zornig und abweisend. Er rückte so weit von ihr ab, wie es ihm möglich war. „So verdorben bist du also, dass du dich wagst, halb nackt hier zu erscheinen. Was hat dir die Alte dafür versprochen, dass du dich mir an den Hals wirfst und unschuldig tust?“
Neaira sah verunsichert an sich herunter. Sie war nicht nackt ... sie trug einen Chiton. „Es ist nicht so, wie du denkst ... sie zwingt mich dazu. Sie hat mich gekauft ... ich bin ihre Sklavin.“
Er lachte sie aus. „Sie hat dich gut unterwiesen. Beinahe hätte ich dir das unschuldige Kind abgekauft und geglaubt, dass dein ausgelassener Tanz allein der Göttin gilt. Dabei bist du nichts weiter als eine Mänade, die sich den Lastern verschrieben hat. Es ekelt mich vor dir und deinesgleichen! Jetzt mach, dass du fortkommst. Morgen will ich keinen von euch mehr sehen!“
Neaira spürte Kälte durch ihre Adern kriechen, langsam und stetig rann sie in ihr Herz. Philostratos Augen ruhten auf ihr in einer stummen Endgültigkeit des Bildes, das er sich von ihr angefertigt hatte. Neaira begriff, dass selbst Aphrodite und vielleicht nicht einmal Athene ihn hätten umstimmen können. Gekränkt senkte sie den Blick, wandte sich um und lief davon. Ihr Herz war unschuldig, aber sie alle würden nur das in ihr sehen, was sie sehen wollten. Nun, wenn es denn so war, sollten sie fortan auch bekommen, was sie in ihr sahen. Neaira schwor sich, niemals mehr einen von ihnen in ihr Herz zu lassen. Ab jetzt würde nicht mehr sie für die Männer tanzen – sie würde die Männer für sich tanzen lassen!
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