Neaira schüttelte die Reste des verwirrenden Traumes ab und kam ungelenk auf die Beine. Ehe sie etwas hätte sagen können, zog Idras sie am Ohr und packte ihr Handgelenk. „Die Herrin will dich sehen“, gab sie knapp zu verstehen und zog Neaira mit sich, die schnell das Schmuckband unter das Polster schob, das sie die ganze Nacht in ihrer Faust gehalten hatte.
Ehe Neaira begriffen hatte wie ihr geschah, stand sie im Andron vor Nikarete und starrte auf den mit einem Mosaik ausgelegten Boden. Aus zusammengekniffenen Augen, die wenig Freundlichkeit verhießen, betrachtete Nikarete sie von ihrem Stuhl aus und legte die Wollspindel in den Schoß. Die Göttin und Herrscherin dieses Hauses sagte eine Weile gar nichts und musterte Neaira streng. „Du wirst Metaneira für lange Zeit nicht mehr sehen.“ Sie hatte keine Antwort von Neaira erwartet und fuhr ungerührt fort. „Was sich auf der Agora zugetragen hat, darf sich nicht wiederholen!“ Nikarete beugte sich zu ihr hinunter. „Dabei könntest du es zu Großem bringen, das habe ich gleich gesehen, als deine Mutter dich mir brachte. Du bist hübsch und versprichst schön zu werden. Doch das Wichtigste sind die Augen. Wenn du es nur lernst, deinen Trotz und deinen Willen in eine vorteilhafte Richtung zu lenken, werden sie im Odeion über dich sprechen und Verse vortragen, die deine Schönheit und deinen Zauber loben.“
Neaira wagte nicht, ihr zu widersprechen. Wie sie dort saß, auf ihrem Stuhl - wie eine eine Harpyie, die sie als Opfer auserkoren hatte. Neaira konnte sich nur zu gut vorstellen, wie Nikarete nachts ihre Klauen ausfuhr und ihre Flügel spannte. Sie wollte mehr denn je fort aus diesem Haus voller nächtlicher Albträume – jetzt erst recht, wo Metaneira fort war. Neaira erinnerte sich an die Worte der Freundin und die Eindringlichkeit, mit der Metaneira auf sie eingeredet hatte. Du musst lernen den Männern zu gefallen, damit du nicht wirst wie deine Mutter. Neaira ahnte, dass der Weg in die Freiheit nicht so einfach zu finden war, wie sie geglaubt hatte.
„Was ist nun, träume nicht, wenn ich mit dir rede.“ Nikaretes Geduld schien am Ende. Idras betrat mit watschelnden Schritten das Andron, um die Lampen und Kohlebecken zu entzünden, wobei sie einige junge Sklavinnen und Knaben vor sich hertrieb. Der rote Mund Nikaretes zeigte ein künstliches Lächeln, wobei sie auf die flinken Sklaven wies. „Du kannst sein wie die da oder dich später von ihnen bedienen lassen. Entscheide dich endlich!“
Neaira überlegte eine Weile, dachte an das verschlossene Gesicht des Satyrn, dem sie in der letzten Nacht begegnet war. Könnte sie nicht auch einfach ihre Wünsche verbergen und so tun als würde sie der Herrin gehorchen? Nur so lange, bis es ihr gelang wegzulaufen. Neaira wurde klar, dass sie Nikarete aus tiefstem Herzen verabscheute. Doch sie ahnte auch, dass der Weg in die Freiheit an der verhassten Herrin vorbeiführte. „Ich will alles lernen, was es zu lernen gibt.“
Von Nikaretes Gesicht fiel die Anspannung ab. „Idras ist anderer Meinung, aber ich wusste, dass du ein kluges Mädchen bist – nicht so wie Stratola und Anteia, die nur für die müden, hart arbeitenden Männer taugen. Du bist zwar bockig wie ein thrakisches Fohlen, aber auch jung und formbar.“
Sie war eine Harpyie – boshaft, verlogen und gemein! Neaira verbarg ihre Gedanken, und es gelang ihr so gut, dass Nikarete nichtsahnend grinste. Sollte die Harpyie doch ruhig glauben, dass sie formbar war. „Ich will Lesen und Schreiben lernen“, forderte Neaira. Nie wieder sollte ihr ein so ein dummer Fehler wie mit den Sandalen ihrer Mutter unterlaufen, deren Abdrücke im Sand sie für schöne Muster gehalten hatte.
„Wenn ich dich für vielversprechend halte vielleicht.“ Obwohl Neaira kaum daran geglaubt hatte, war Nikarete nicht ganz abgeneigt. „Ein gewisses Maß an Bildung und Schlagfertigkeit ist gut für das Geschäft, doch zu viel davon kann alles verderben – nämlich dann, wenn das Mädchen ein Trotzkopf ist.“
Damit war das Gespräch für Nikarete beendet. Sie winkte Idras herbei, die Neaira in einem Zimmer im Hauptteil des Hauses einschloss. Der Raum war klein aber schön, und die Wände waren hellem Blau getüncht worden. Auch ein Bett mit weichen Polstern stand für Neaira bereit, und die Abendmahlzeit, die eine junge Sklavin ihr brachte, war besser als das einfache Essen, das sie auf dem Hof bekommen hatte. Neaira kaute genüsslich auf dem gebratenen Ziegenfleisch und dem noch warmen Brot und grübelte darüber nach, wie sie Nikarete an der Nase herumführen könnte. Die Harpyie wollte sie zähmen und ebenso willenlos machen wie Metaneira. Aber wenn sie hoffte, Neaira mit Bequemlichkeiten einzulullen, hatte sie sich geirrt. Metaneiras Willen hatte sie brechen können. Doch Neaira sie würde sich nur gehorsam zeigen, bis die Götter ihr eine Fluchtmöglichkeit boten.
Neaira war nicht allein, als sie am nächsten Tag das Andron betrat. Aristokleia, Phila und Isthmias, die drei Mädchen, die mit ihr von Nikarete gekauft worden waren, sollten ebenfalls unterrichtet werden. Noch immer waren sie scheu wie Vögel und stellten sich nicht sehr geschickt an. Neaira, die stundenlang neben Metaneira gehockt und sich kaum für Nikaretes ermüdenden Unterricht interessiert hatte, setzte alles daran, sich fleißig und lernwillig zu zeigen. Sie gab sich wenig mit den drei anderen ab und hielt sich vor Augen, dass alles was sie tat nur ihren Fluchtplänen diente. So wurde der erste Jahresumlauf in Nikaretes Haus der schlimmste für Neaira. Ihre Finger waren blutig von den Saiten der Kithara, und ihre Füße schmerzten von den Tanzschritten und den Schlägen, die sie auf die Fußsohlen erhielt, wenn sie die Schritte nicht schnell genug lernte. „Streng dich mehr an“, wies Nikarete sie mitleidlos an, wenn sie auch nur eine Miene verzog. Den anderen Mädchen, die Neaira nun Schwestern nennen musste, erging es nicht viel besser. Vor allem Phila weinte oft und wurde dann von Idras hart bestraft. Neaira weinte nicht und beschwerte sich nie. Sie biss die Zähne zusammen und kühlte abends ihre wunden Finger in einer Wasserschale, umwickelte die vor Blasen schmerzenden Füße mit nassen Tüchern, wenn sie meinte nicht schlafen zu können, und sie war an jedem Morgen das eifrigste der Mädchen, egal wie müde sie der unerfüllbaren Aufgaben auch innerlich war. Ihr schönes, mit blauen Wänden getünchtes Zimmer, die nahrhaften Mahlzeiten und das bequeme Bett, waren ihr nur ein geringer Trost in ihrem ersten Jahr. Oft zwang sie sich durchzuhalten, manchmal holte sie das rote Schmuckband hervor und rief sich das geheimnisvolle Gesicht des Fremden vor Augen. Obwohl die Furcht vor Dionysos Festen sie noch immer plagte, und das schlimmer denn je, seit sie im Haus lebte, dachte sie daran, wie sein Blick sie gefesselt und wie er sie ihm Traum herumgewirbelt hatte. Er sollte ihr eine Mahnung sein, sich niemals von der Harpyie einfangen zu lassen.
Nach dem ersten Jahr besserte sich die Behandlung fast über Nacht. Phila, die alle nur noch die Heulsuse nannten, wurde von Nikarete zurück auf den Hof geschickt, und auch Isthmias kam bald nicht mehr. „Sie taugen höchstens für ein paar einfache Feste im Haus.“ Die Harpyie hielt sich nicht lange mit denen auf, die sich ihrer Meinung nach ungeschickt anstellten. Dafür wurden die Aufgaben für Neaira und Aristokleia weniger anstrengend. Sie mussten lernen sich behände zu bewegen oder mit Anmut die Weinschale zu halten, sich zu schmücken und ihr Haar zu richten. Neaira hatte Metaneira stets helfen müssen sich zu schmücken, deshalb fiel ihr dieser Unterricht leicht. Aristokleia zog hingegen bald Nikaretes Missfallen auf sich. Zwar wurde sie nicht zurück in den Hof geschickt, doch eines Tages teilte die Harpyie Neaira mit, dass Aristokleia von nun an nicht mehr lernen müsse. Ab da musste Neaira den verhassten Unterricht allein ertragen.
Als Hylas in ihr Leben trat, schlug die Tür ihrer kindlichen Gedankenwelten voller Aberglauben, Geistern und Satyrn ein Stück weit zu. Nikarete schob ihn an einem heißen Sommertag ins Andron, wo Neaira im Schneidersitz auf dem bunten Bodenmosaik saß. „Er wird dich im Lesen und Schreiben unterrichten.“
Neaira