Der Gesang des Satyrn. Birgit Fiolka. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Birgit Fiolka
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748591832
Скачать книгу
Aber sie war alt genug, um ihn schön zu finden, wie er dort vor ihr stand, mit langen weichen Locken, die ihm auf die Schultern fielen. Wegen des heißen Tages trug er außer einer Wachstafel und einem Federkiel nur ein Hüfttuch. Als er sich vor sie setzte und die Beine kreuzte, zog ihr der Duft seines Salböls in die Nase – süß und verführerisch!

      „Der Tag ist zu heiß, als dass ich hier bleibe.“ Nikarete bedachte beide mit einem prüfenden Blick, schien kurz zu überlegen und verschwand dann, während Hylas begann, die Buchstaben des Alphabets in die Wachstafel zu ritzen. Als er aufsah und ihr die Tafel hinschob, schienen Sterne in seinen Augen zu tanzen. Neaira konnte sehen, wie jeder einzelne Muskel seines Armes sich bewegte. Konnte ein Mann, der so schön und freundlich war, einer aus Dionysos Scharen sein? In den folgenden Tagen begrub Neaira ihren Glauben, dass alle Männer lüstern wie die Satyrn waren. Natürlich hatten die letzten Jahre ihr mehr Verständnis für die Dinge gegeben, die zwischen Männern und Frauen geschahen. Obwohl Neaira noch immer an die Schreckgestalten ihrer Kindheit glaubte, waren sie nicht mehr Teil ihrer Welt. Sie lebten in Wäldern, die Neaira nicht kannte, jedoch nicht in Nikaretes Haus.

      „Du träumst ja vor dich hin“, war der erste Satz, den Neaira aus Hylas Mund hörte. Er klang wie Gesang in ihren Ohren.

      Hylas schloss sie ebenso schnell in sein freundliches Herz wie sie ihn, und Neaira hing an seinen Lippen, die sich verschmitzt zu einem Lächeln hoben, wenn sie ihn zu lange ansah. Dann wurde sie rot und starrte auf die Wachstafeln mit den Buchstaben. Er musste längst bemerkt haben, wie sie ihn ansah. Aber Hylas lachte sie nie aus, obwohl Neaira sich in seiner Gegenwart dumm vorkam. Wenn Idras oder Nikarete nicht da waren, erzählte Hylas ihr vom Leben außerhalb dieses Hauses, das Neaira so gut wie nicht kannte. Hylas wusste viel zu erzählen, da er als Sohn eines freien Bürgers geboren war, der durch die Verschuldung des Vaters in die Sklaverei geraten war. Als sein Vater starb und niemand aus seiner Familie die Schulden hatte begleichen können, war Hylas in die Sklaverei verkauft worden. Für Neaira eröffneten sich unvorstellbare Welten aus Hylas Erzählungen, die sie furchtbar gerne selbst erkundet hätte. Nikarete hatte sie beinahe ihr ganzes Leben im Haus gehalten, und Neaira hatte nur noch vage Erinnerungen an das Leben mit ihrer Mutter oder ihre wenigen Ausflüge zur Agora. Hylas jedoch hatte viel gesehen, bevor er zu Nikarete gekommen war, und Neaira bewunderte ihn dafür.

      „Mir geht es gut hier, ich lebe zwar mit den anderen Knaben hinter dem Hof in den Sklavenunterkünften, bediene aber abends auf den Festen und werde gut behandelt“, gab Hylas zu. Sein Gemüt war wie die Sonne – aufrichtig, hell und strahlend. Er brachte Licht in Neairas verschlossenes Herz. Hylas hatte selbst einen Lehrer gehabt, bevor er in die Sklaverei geraten war, und Nikarete hatte ihn wiederum gekauft, weil er Lesen und Schreiben konnte. Gebannt lauschte Neaira Hylas Geschichten über das Theater, das Odeion oder das Gymnasion, wo die Knaben und Männer vollkommen nackt Leibesertüchtigungen nachgingen. Für Neaira war das unvorstellbar – unzählige nackte Männer, die dort herumliefen und ... ja was taten sie eigentlich genau? „Ich wünschte, ich könnte es mir auch einmal ansehen.“

      Hylas zog die Brauen hoch und wunderte sich über ihren seltsamen Wunsch. „Das sind keine Orte für Mädchen und Frauen. Sie würden dich anstarren, und dein Ruf wäre vollkommen ruiniert.“ Als er die Widersprüchlichkeit seiner Worte erkannte, sah Hylas beschämt zu Boden, und sie wandten sich wieder ihren Schriftübungen zu. Neaira verstand nicht, was an diesen Orten so skandalös sein sollte, dass Frauen sie nicht besuchen durften, während Männer dort sogar nackt herumlaufen konnten. „Das ist dumm. Warum ist es für eine Frau nicht angebracht, sich eine Vorführung im Odeion anzusehen?“

      „Das ist halt so“, antwortete Hylas schulterzuckend. „Frauen laufen nicht auf der Straße herum und zeigen sich, wenn sie anständig und ehrbar sind.“

      Neaira verkniff sich eine Bemerkung. Eingesperrt war sie bereits, obwohl Nikaretes Haus alles andere als ehrbare Frauen beherbergte.

      Während Neaira Buchstaben in die Wachstafeln ritzte, erzählte ihr Hylas die Ilias von Homer sowie die Geschichten anderer Gelehrter, die sich mit der Ilias beschäftigt hatten. Neaira liebte diese Geschichten. In Gedanken und nachts in ihren Träumen erlebte sie die Abenteuer der Helden, reiste in ferne Länder und wünschte sich einmal mehr, frei zu sein. „Ich mag die schöne Helena“, gab sie auf Nachfragen Hylas zu. „Aphrodite hat ihr Macht über die Männer verliehen. Sie ist wie ich, gefangen und allein. Aber dann kommt Paris und rettet sie vor Menelaos.“

      „Aber Troja ist wegen ihr gefallen. Sie brachte den Menschen Leid. Auch deshalb ist es besser, wenn Frauen im Haus bleiben. Die Geschichte lehrt uns, dass sie Männer und ganze Völker ins Verderben stürzen, allein durch ihren Anblick!“

      „Trotzdem erlaubten die Götter Helena ebenso wie den großen Helden nach ihrem Tod auf den elysischen Feldern zu leben, anstatt als Schattengestalt durch den Hades zu wandeln. Das hätten sie sicherlich nicht getan, wenn sie so schlimm gewesen wäre, wie du behauptest.“ Innerlich beglückwünschte Neaira sich für ihre Schlagfertigkeit, vor allem da Hylas ein verdutztes Gesicht machte. Seltsam, so als bemerke er sie überhaupt das erste Mal, sah er Neaira an und suchte verunsichert nach einer Antwort. „Helena ist eine Ausnahme, weil Aphrodite sie liebte. Trotzdem ist es allseits bekannt, dass die Lust der Frauen zehnmal so stark ist wie die der Männer. Was würde aus der Ordnung und der geistigen Disziplin werden, wenn Frauen nicht von Männern gemaßregelt würden?“

      Neaira dachte an ihren Kindheitstraum, in dem Metaneira sich den Satyrn entgegengestreckt hatte - gierig und wild. Sie dachte an die Geräusche ihrer Kindheit auf dem Hof. Waren nicht auch Frauenschreie darunter gewesen? Hatte Hylas recht mit dem, was er sagte?Aber sie war anders, das musste Hylas verstehen. In ihr war keine Triebhaftigkeit, sie war keine Anhängerin von Dionysos. Neaira nahm all ihren Mut zusammen und legte ihre Hand auf die von Hylas. Er zog sie nicht fort, als ihre Hand ihn berührte, sah sie jedoch überrascht an. Etwas in ihm schien sich zu verändern als hätte Neaira sich direkt vor seinen Augen verwandelt. „Du bist schön, weißt du das eigentlich?“ Wie seine Stimme nun klang, so anders als sonst, flüsternd und voller Wärme. Die Worte sickerten in Neairas Herz wie flüssiges Gold und nährten seine verdorrten Adern. Sie wurde mutiger. „Heute Nacht schleiche ich mich aus dem Haus und komme zum Hof neben den Sklavenunterkünften. Wirst du da sein?“ Obwohl Neaira von Nikarete und Idras nicht mehr bewacht wurde, da sie scheinbar fügsam und willig war, wurde ihr klar wie gefährlich es für sie beide werden konnte, wenn sie entdeckt wurden.

      „Sobald die Gäste fort sind, werde ich da sein“, flüsterte er heiser. Hylas sah sie an, ertrank in ihren braunen Augen, und war verloren.

chapter4Image5.jpeg

      Im Haus herrschte Stille und vollkommene Dunkelheit als Neaira sich aus ihrem Zimmer schlich. Die Feuerbecken glimmten noch, doch der vertraute Geruch von Asche hatte sich bereits im ganzen Haus ausgebreitet. Sie musste vorsichtig sein, durfte nirgendwo anstoßen, aber sie kannte den Weg. Auf Sandalen hatte sie verzichtet, ihre Füße huschten über den Steinboden fast ohne ihn zu berühren. Als Neaira den Hof mit den Zimmern der Mädchen erreichte, blieb sie kurz stehen, um zu lauschen, doch auch hier war alles still. In zwei Stunden würde die Sonne aufgehen – zwei Stunden, um nahe bei Hylas zu sein, seine geflüsterten Worte zu hören und sich darüber klar zu werden, was gerade mit ihr geschah.

      Lautlos wie eine Katze schlich Neaira über den Hof und verschwand im Schatten des Flures. Sie ließ das Badehaus hinter sich und konnte am Ende des Ganges den Hof zu den Sklavenunterkünften erkennen. Hylas war gekommen! Er stand im Schatten, seine Gestalt zeichnete sich gegen das fahle Mondlicht ab.

      Im Schutz der Dunkelheit fiel es Neaira leicht, sich in Hylas Arme zu werfen. Die glatte Haut auf seiner Brust war warm, und er duftete nach schweren Blüten. Sein Herz schlug ebenso schnell wie ihres. „Hylas!“

      Hylas Hände fuhren ihren Rücken entlang, suchten einen Weg unter ihr Gewand und schienen Brandmale auf ihrer Haut zu hinterlassen. Neaira hob ihren Kopf. Hylas Lippen schmeckten süß von den Früchten, die er auf Nikaretes Fest gegessen haben musste. Er stöhnte gequält auf und löste sich von ihr. „Was wir tun, ist nicht gut, Neaira.“

      Sie