Gummifisch zum Frühstück. Freddie Torhaus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Freddie Torhaus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847658849
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und fuhren immer wieder die vierhundertdreißig Autobahnkilometer mit dem Finger nach, die beide Familien kurze Zeit später in ihren VW-Käfern zurücklegen sollten. Ihnen war es egal, dass dieser Ort seit ihrem ersten Ferienaufenthalt Dank des boomenden Tourismus imposant am wachsen war und auch in den folgenden Jahren eine Menge des früheren Charme verlieren sollte. Für sie war Steinwiesen von Anbeginn ein riesiger Abenteuerspielplatz. Am Rande des Frankenwaldes gelegen, umgeben von Wäldern, Bächen und Weihern. Seit 1973 gab es nach siebenjähriger Bauzeit mit der Ködeltalsperre nicht nur die erste bayrische Trinkwassertalsperre in unmittelbarer Nähe, mit ihr entstand auch ein exquisites Angelrevier, von dem angelnde Touristen allerdings nur in sehr begrenzten Maße und unter Aufehrbietung sämtlicher einheimischer Kontakte profitieren konnten. Steinwiesen war aber nicht nur ein ehemals nettes, kleines, sich zum Ferienort entwickelndes Örtchen, nein, hier sollte Freddie auch mit dem bis heute für ihn aktuellen Angel-Virus infiziert werden. Seitdem er zum ersten Mal eine einfache Bambusstippe festhielt, an deren Ende eine zweieinhalb Meter lange Drachenschnur hing, an deren Ende wiederum ein kleiner Angelhaken angeknotet war, auf dem wahlweise selbst gebuddelte Würmer oder selbst gefangene Grashüpfer spießten, die von gierigen, weil ausgehungerten, weil drei Tage zuvor zum letzten Mal gefütterten, Regenbogenforellen verschlungen wurden, seit diesem ersten Mal am Forellenteich von Elmar Hubert, ist Freddie Angler, Petrijünger, Fishhunter, Sportfischer, Posenkieker. Das war drei Jahre zuvor, während seiner ersten Ferien in Steinwiesen. Seitdem machte Klein-Freddie die Gewässer unsicher. Soll heißen, eher die Gewässer, statt die dort drin lebenden Fische, aber das sollte sich im Laufe der Jahre langsam ändern.

      In diesem Sommer war es ihm sogar möglich, eine Gastkarte für die Ködeltalsperre zu ergattern. Nicht nur das. Schon während seiner ersten Angelpirsch sollte sich ein weiterer Traum des noch jungen Angelfreundes erfüllen. Freddie fing seinen ersten Hecht. Und das kam zum damaligen Zeitpunkt einer kleinen Sensation gleich. Gebissen hatte Freund Esox auf einen damals schon uralt anmutenden Effzett-Blinker, den ihm Gustav, der Jüngste von drei Söhnen aus dem Hubert-Clan, gegen sein altes Yps-Fernrohr eintauschte. Der Hecht war mit fünfundfünfzig Zentimeter Länge wahrlich kein Kapitaler, aber es war immerhin ein Hecht. Sein erster richtiger Raubfisch, sah er von den unzähligen Fluss- und Kaulbarschen ab, die sich daheim am Ufer der Oberhavel regelmäßig mit seinen Maden den Wams füllten und an seinem Haken hingen. Jedenfalls staunten Robert, Gustav, die älteren Brüder Mario und Gregor sowie natürlich alle Erwachsenen nicht schlecht, als Freddie nicht mit den üblichen Verdächtigen >Bärschlein< und >Plötzlein< und >Hab nüscht!< auf den Hof radelte, sondern ein echter >Esox Lucius< am Fahrradrahmen baumelte. Der Hecht war ein Prämierenfisch. Prämierenfische waren und sind etwas besonderes. Ohne Ausnahme. Selbst Freddies erster, 20 Zentimeter langer Brassen wurde mit diesem Etikett ausgestattet. Dabei sind Brassen, auch Blei genannt und zu den Weißfischen gehörend, im Grunde genommen nichts anderes als die größte in der Natur vorkommende Ansammlung von Gräten und Schleim. Viele Angelkollegen sprechen bei größeren Exemplaren von schwimmenden Klodeckeln, eine Bezeichnung, die treffender nicht sein kann. Trotzdem bleibt Premierenfisch immer Premierenfisch, selbst wenn man nach näherem Kennen lernen weitere Exemplare der ein oder anderen Art nie wieder am Haken haben möchte. Nicht so bei Freddies Talsperrenhecht, dem im Laufe der Jahre noch etliche folgen sollten. Noch heute ziert sein Unterkiefer die Ablage seines Schreibtisches. Jedes Mal, wenn Freddie ihn ansieht oder Leonie ihn andächtig in ihre Hände nimmt um ihn einer chirurgisch anmutenden Inspektion zu unterziehen, ist die Erinnerung an ihn taufrisch. Genauso frisch allerdings sind auch seine Erinnerungen an den Riesenstress, den Freddie mit Frau Huber bekam, nachdem er ihr beim Auskochen des Hechtschädels ihren besten Topf versaute.

      Doch nun waren die unschuldigen Tage Vergangenheit. Sechs tolle Wochen lagen hinter ihm, was vor ihm lag, fühlte sich hingegen nach Verstopfung dritten Grades an. Freddie beschloss somit, gute Gründe zu haben, nicht besonders erfreut an diesem Tag zu sein. Das erste Jahr auf der Goethepark-Schule war zwar überstanden, er und seine Mitschüler gehörten nun nicht mehr zu den Kurzhosen, wie im Goetheparkjargon die neuen Schüler der siebten Klassen genannt wurden. Es sollten aber noch drei Jahre der Knechtschaft auf ihn warten. Diese Erkenntnis, gepaart mit den frisch zurückliegenden Ferien bildete in etwa seinen motivationalen Aggregatszustand. Freddie saß auf seinem alten Platz, linke Seite, dritte Reihe, linker Platz. Direkt am Fenster, von wo aus er versuchte, sich trotz des um ihn herumtobenden Bussigehabes seiner neuesten Ausgabe der Angelzeitschrift >Fisch und Fang< zu widmen. Didi, sein Tischnachbar, wurde erst zwei Tage später erwartet. Didis ältere Schwester Siggi, die wegen diverser Abschlussprüfungen nicht mit dem Rest der Familie in die Sonne fliegen konnte, berichtete Freddie am Telefon, das ein Fluglotsenstreik in Spanien Didi nebst Eltern zu einem unfreiwilligen Dauercampen auf dem Flughafen von Menorca zwang. So blieb Freddie nichts anderes übrig, als alleine am Tisch sitzend dem zu harren, was da kommen sollte, da war die Abwechslung, die ihm seine Angelzeitschrift bot, gerade recht. Das Klassenzimmer füllte sich währenddessen zusehends. Dem Anschein nach hatten wohl alle die letzten sechs Wochen gut überstanden. »Schade«, dachte sich Freddie. Gegen den ein oder anderen durch Haiattacken- oder Flugzeugabsturz bedingten leeren Platz hätte er angesichts seiner damaligen Gefühlswelt nichts einzuwenden gehabt. Das Verhältnis zwischen ihm und dem Grossteil seiner Mitschüler war eine recht dünnhäutige Angelegenheit. Er war kein Außenseiter im klassischen Sinn, der Puls der Klasse, allgemein Zugehörigkeitsgefühl genannt, schlug jedoch in beachtlicher Entfernung von ihm. So stellte Freddie auch an diesem besonderen Schultag zum wiederholten Male fest, dass ihm das ganze Getue seiner Mitschüler ziemlich auf die Nerven ging. Zum Glück gab es Didi. Wenn der nicht gerade irgendwo auf Menorca abhängt. Der war in Ordnung, gab für einen Klassenprimus einen ganz passablen Kumpel ab. Freddie und Didi trafen sich nach der Schule regelmäßig. Im nahe gelegenen Park erkletterten sie Bäume, jagten Mäuse in den Büschen, hoben Wespennester aus, spielten Fußball bei schönem Wetter und Tip-Kick, eine Art Tischfußball, in einer ihrer Buden wenn es der Wettergott nicht gut mit ihnen meinte. Vor allem aber akzeptierte Didi, das sich bei Freddie vieles ums Angeln drehte. Ohne Murren stieg er bei ihm zu Hause zwischen Ruten umher und schaufelte Blinker, Posen und Schrotbleie vom Tisch um Platz für das Tip-Kick-Spielfeld zu schaffen. Es kam auch öfters vor, dass Didi ihn an seine bevorzugten Angelreviere, die sich in einer verschlossenen Stadt wie Berlin auf einige wenige Flussstrecken beschränken mussten, begleitete, um sich in wissenschaftlicher Manier den gefangenen Fischen zu widmen. Auf diese Weise hatte es Didi im Laufe der Zeit auf eine beachtliche Sammlung getrockneter Schwimmblasen gebracht. Kurz, die zwei gammelten in typischer Jungenmanier ab. Damit war im Klassenverband aber weitestgehend Schluss mit der Sympathiedichte. Der Rest der Jungs deckte eine Bandbreite zwischen umherrotzenden Juniorsoziopathen sowie billigen David Cassidy-Kopien ab. Letztere rannten vorzugsweise mit hochgestellten Hemdkragen durch die Gegend, dabei die Zigarettenpackung im T-Shirt-Ärmel steckend und lauthals >We are the sex-boys< grölend. Womit sie ungefähr so sexy wie Zahnschmerzen waren. Dann gab es natürlich noch die Mädchen. Es lebe die Koedukation. Sie kamen entweder vom Stern Zicke oder spielten in dieser Phase ihrer Ontogenese schon in einer anderen, für Jungs wie Freddie unerreichbaren, Liga. Verglichen mit Freddies Phantasien war es die Oberliga, während er tapfer in der Kreisklasse vor sich hin onanierte. Unterste Kreisklasse. Wurde Freddie, was selten genug vorkam, zu einer Geburtstagsfeier eingeladen, konnte man seine mit Stolz getragenen Klocks darauf verwetten, dass er sich spätestens in der dritten Runde des obligatorischen Flaschendrehens mit hochrotem Kopf und etwas von »Durchfallerkrankung« nuschelnd aus dem Staub machte. Und um jene per schicksalhaftem Flaschendreh Auserkorene vier Wochen lang einen großen Bogen. Insofern war seine persönliche Kreisklassenzugehörigkeit Welten von der Liga jener Mädels entfernt. Verglich Freddie seinen eigenen Mikrokosmos Schule mit dem, was heutzutage an Schulen abläuft, käme er zwar schnell zu der Überzeugung, dass sich seine damalige Erlebniswelt zu der heutiger Schüler in etwa wie die »Augsburger Puppenkiste« zu »Kill Bill« verhält, aber für diese Erkenntnis musste er erst ein paar Jahre älter werden.

      Natürlich beruhte die von Freddie bezüglich seiner meisten Mitschüler ausgehende und eher kurz unter der Grasnarbe verlaufende Zuneigung weitestgehend auf Gegenseitigkeit. Kurz und gut, ein Junge von vierzehn Jahren, der leidlich Fußball spielt, dafür im Unterricht aber Zeitungen liest, in denen statt Starschnitte, Bundesligatabellen und Aufklärungsgeschichten große Fische eine Rolle spielen, war den meisten suspekt. Von Didi abgesehen war er für die anderen ein »Exot«,