...an diesem Septembertag, der schon fast zu warm für diese Jahreszeit war. Freddie stand wie so oft auf der Terrasse und rauchte eine Zigarette. Es war einer jener Tage, der wunderbar geeignet schien, Dinge zu erledigen, die den ganzen Sommer zuvor Aufschub erhielten. Endlich die neuen Wobbler ausprobieren oder aber Reparaturen am Boot. Der bescheidene Wohlstand, den sich Freddie und Babs im Laufe ihre Ehe erarbeitet hatten, spiegelte sich neben einer schönen Dachgeschosswohnung sowie der obligatorischen Sommerreise in Freddies Augen vor allem im Besitz eines eigenen Bootes nebst ganzjährigem Liegeplatz an der Oberhavel wieder. Dieses heißgeliebte Boot, Produkt einer ehemals auch mal was Vernünftiges zu Stande bringenden DDR-Werftbaukunst, war Freddies ganzer Stolz. Sein Boot war nicht sehr groß und schon gar nicht komfortabel, es hatte nur eine kleine sogenannte Vorkajüte und mehr als vier Erwachsene konnten Dank einer selbstgebauten Sitzbank und zweier portabler Bootssitze auch nicht auf ihm Platz finden, sofern von Platz finden an dieser Stelle gesprochen werden konnte. Es war Lichtjahre vom Glanz schicker hochpolierter Daycruiser, Bayliner oder gar Yachten entfernt. Und doch verkörperte es in Freddies Augen die Freiheit, die er so liebte. Es bot ihm die Möglichkeit, entlang seines Hausgewässers an fast jeder beliebigen Stelle ankern und angeln zu können, ohne sich von Spaziergängern mit der üblichen Fragerei nach den großen Fängen nerven lassen zu müssen. Im Sommer war es zudem eine wunderbare Alternative zu allen überfüllten Freibädern und Badestellen. Die Formel hierfür war denkbar einfach: Bucht angesteuert, Anker raus, Badeleiter raus, Schwimmreifen raus und schließlich mit lautem Platschen Leonie hinterher. Auf diese Weise konnte die Familie ganze Wochenenden verbringen. Und sollten nicht gerade dicke Rapfen, die fast ausschließlich im Sommer aktiv zu sein scheinen, ausgerechnet vor Freddies Nase rauben, so konnte auch er diese Zeit selbst ohne Rute in der Hand so richtig genießen, ein Umstand, der selten genug vorkam.
Nun gehörte auch Freddies >Baröy<, wie er sein ein und alles nach einer im Süden Norwegens liegenden Insel nannte, trotz seiner überschaubaren Ausmaße und Ausstattungsmerkmale zu jenen Besitztümern, die einer umfassenden Pflege und Wartung bedürfen. Hier tat sich insbesondere der 30 PS starke Außenbordmotor hervor, auf dessen vieltönige Palette an Rattern, Jaulen und Keuchen Freddie seine gesamte Aufmerksamkeit legte. So war es denn wieder einmal soweit. Der sogenannte Impeller, eine Art Gummirotor, der maßgeblich für die Wasserkühlung des Motors verantwortlich ist, hatte seinen Dienst weitestgehend eingestellt, was Freddie auf einer seiner letzten Touren einem recht kläglichen Wasserstrahl nach Anlassen des Motors entnehmen konnte. „Na dufte, so werd ick wohl och mit 80 pinkeln“, dachte er sich zu dem Zeitpunkt noch, während er damals zum Handy griff, um flugs Schwager Winfried anzurufen. Dieser zeigte sich auch sofort bereit, dem Mann seiner kleinen Schwester unter die Arme zu greifen und so kam es Tage später zu dem gemeinsamen Treffen. Letztlich wollten beide ja nur den vermeintlich zerschlissenen Impeller auswechseln. Zumindest entschied Freddie, dass es sich nur um diesen kleinen propellerähnlichen Zehn-Euro-Artikel handeln konnte, dessen Ausfall jedoch in Windeseile zu einem 4000-Euro-Schaden führen kann. Die nicht ganz einfache Aktion, bestehend aus 50 kg-Motor abbauen, Schaft aufschrauben, alten Impeller raus, neuen Impeller rein, Schaft wieder zuschrauben, 50 kg-Motor wieder anbauen, geschah dann auch mit Winfrieds tatkräftiger Unterstützung. Begegnungen mit Schwager Winfried galten für Freddie immer wieder als willkommen Abwechslung, hatte Winfried mit dem schon fast bürgerlichen Leben, das Babs, Freddie und Leonie führten, nur bedingt zu tun. Winfried war schwul. Was in Freddies Augen nicht weiter bemerkenswert war. Jedoch war es Winfried zu verdanken, dass Freddie sein ursprüngliches Schwulenbild komplett restaurieren musste. Jahre zuvor ist ihm auf einer Party ein Comic eines schwulen Zeichners in die Hände gefallen, in dem kartoffelnasige schwule Männer nicht nur diverse Abenteuer erlebten, sondern auch so ziemlich jedes Vorurteil bedienten, dass sich im Laufe der Evolution über die Jungs vom anderen Ufer gebildet hat: immer geil, können einen Volleyball nicht von einem Fußball unterscheiden und auf zwei Finger pfeifen nur die, die fürs Schweineschlachten zu doof sind. Ginge es allein nach solchen Attributen wäre Winfried der heterosexuellste Schwule unter der Sonne gewesen. Aus Fußball machte er sich zwar auch nichts, dafür hatte er eine Jahreskarte der Berliner Basketballkönige von Alba. Und als Informatiker betrieb er auch nicht gerade eine Tätigkeit, die im Boulevard als schwulentypischer Beruf durchgehen würde. Da passte dann schon eher ins Bild, das Winfried eine beachtliche Sammlung an schweren Lederklamotten sein Eigen nannte, gerne im karierten Flanellhemd rumrannte und einen beachtlichen Schnurrbart, von Freddie nur Pornobalken genannt, im Gesicht trug. Winfried selbst genoss Tage wie diese, wenn er mit seinem Schwager, dem angelverrückten Freddie, ein wenig basteln konnte, noch dazu an der frischen Luft. Winfrieds eigentliches Spielfeld, wenn es darum geht, seinem Schwager behilflich zu sein, und darum geht es relativ häufig - ist – wie soll es bei einem Informatiker sein – das Gebiet der Nullen und Einsen. Was nichts anderes bedeutet, als das Babs Bruder für sämtliche, in der Regel selbstverursachten, Computerprobleme seines Schwagers zuständig ist. Hätte sich Winfried für jede Aktion, die sich darin äußerte, dem vollkommen verzweifelten Freddie die Steuererklärungssoftware dorthin zu laden wo sie nach Ansicht der Festplatte hingehört, einen Euro aufs Sparbuch gepackt, ein Kurzurlaub wäre ihm gewiss gewesen. An diesen Tagen hocken beide Männer in der viel zu engen Arbeitsecke der Dachgeschosswohnung und starren auf Freddies PC, der so alt ist, dass Winfried ihn noch nicht mal mehr seinem Goldhamster als Notunterkunft zumuten würde. In diesem trüben Momenten bringt wenigstens noch die kleine Leonie etwas Licht in das Leben ihres Onkels. So kommt es nicht von ungefähr, dass Winfried, der seinem Schwager Freddie gerne unter die Arme greift, sich immer eher für Aktionen am Boot entscheiden würde, hätte er die Wahl. Und auch Freddie genießt es um so einiges mehr, wenn es etwas am Boot zu machen gibt. Zum einen ist auch er einfach viel lieber draußen am Wasser. Zum anderen freut er sich über die Kompetenz, die er seinem Schwager gegenüber an Bootstagen vorgeben kann. Ist es Freddie nämlich während Winfrieds Versuchen, aus dem fiependen grauen Kasten so etwas wie einen halbwegs funktionierenden PC zu zaubern, lediglich vorbehalten, daneben zu stehen, Geduld zu üben, Schmach über sich ergehen zu lassen, seiner Anerkennung Ausdruck zu verleihen, eine Dankeszigarre anzuschneiden und den Cognac nachzuschenken, so ist es am Bootssteg jedesmal Freddie, der mit seinem in der Praxis erworbenen Wissen über Gleichrichter, Propellernaben und eben Impeller glänzen kann. Und sich bewusst zu werden, dass er seinen Schwager als Dankeschön vor dessen nächsten Reise wohl wieder zum Flughafen fahren sollte. Oder vorab wenigstens noch schnell wieder nach Hause ins schwule Schöneberg. So sollte es denn auch nach der Impeller-Aktion wieder werden. Es kam aber ganz anders…
… Freddie stand auf der Sonnenterrasse, rauchte eine und ließ sich von der spätsommerlichen Sonne wärmen. Leonie war auf ihrem Zimmer und probierte gerade Babs alten Nagellack aus, ohne das Freddie und Babs, die am Telefonieren war, eine Ahnung davon hatten, dass ihre Tochter demnächst wie Alice Coopers kleine Schwester rumlaufen würde. Freddie spürte, wie es ihm in den Fingern juckte. Ein frisch instandgesetzter Motor, ein laues Lüftchen, Raubfische nach langen Sommermonaten in wiedergewonnener Fresslaune. Da muss es jucken. Doch da was zu machen, wird schwer. Nicht nach der letzten Aktion. Während er an seiner Selbstgedrehten zog, machten sich die Erinnerungen über den Ausgang des Impeller-Days immer mehr Platz. Hätte er doch an jenem Tag mit Winfried bloß eine Rute mit am Boot gehabt. Dann hätte dieser gemeinsame Vormittag mit seinem Schwager auf schöne, aber wenig verhängnisvolle Weise enden können. Freddie zwei Stunden beim Angeln zuzuschauen wäre für Winfried sicher kein Problem gewesen. Die Freude über den neuen Impeller war nach der erfolgreichen Reparatur bei beiden Männern nämlich so groß, dass irgend etwas noch passieren sollte. Einfach so nach Hause zu fahren hätte irgendwie nicht gepasst. Wäre doof gewesen. Schließlich waren beide Männer doch nun schon mal draußen. So entschlossen sie sich nach einer kleinen Testrunde mit einem wieder wacker vor sich hintuckernden und einen ordnungsgemäßen Kühlwasserstrahl abliefernden Motor kurzerhand darauf einen trinken zu wollen. Angelrute zu Hause, Kehle durstig und die nette Kneipenlaube gleich um die Ecke am Bootssteg. Passt. Dumm war nur, dass aus einem dann sieben wurden. Böse, böse. Was folgte waren ein Riesenkrach, angebrannte Kohlrouladen und eine bockige Leonie im Abendprogramm. Vom Kater am Sonntag darauf ganz zu schweigen. Nach alledem war Freddie klar, dass er an diesem Tag eine besondere Taktik anwenden musste, um auch nur in die Nähe des Bootes zu kommen,