»Na, fast. Das heißt, so gesehen eigentlich schon. Ich wohne in der Nähe von Warnemünde, muss jeden Tag rüber nach Rostock. Wenn wir grad was am laufen haben, Untersuchungsreihen und ähnliches heißt das im übrigen wirklich jeden Tag. Ansonsten kann ich genialer Weise auch viel am Computer von zu Hause aus erledigen.«
Jetzt musste Freddie lachen.
»Tja, was tut man nicht alles für den Nobel-Preis.«
Didi hüstelte leicht, was ihn aber nicht daran hinderte, das Gespräch fortzuführen.
»Mein Lieber, wenn es danach geht, habe ich sowieso auf die falsche Karte gesetzt. Soweit ich weiß, wird für Biologie kein Nobel-Preis vergeben. Wahrscheinlich war Herr Nobel unglücklich in eine Biologin verliebt.«
Es herrschte kurzes Schweigen, was beiden Männern aber nicht unangenehm war. Freddie ahnte, dass es Didi ähnlich erging wie ihm. Nach all den Jahren wieder miteinander zu reden, das hatte seine eigene Faszination. Schließlich war es Freddie, der das Gespräch wieder aufnahm.
»Um auf deine Idee zurückzukommen, also, ein Treffen, klar, find ich gut. Hast du schon konkret überlegt, wo, wann und wie?«
Freddie hörte, wie sich am anderen Ende der Leitung etwas tat. Didi schien sich einer anderen Person zuzuwenden.
»Bin gleich fertig,« erklang es leicht abgedämpft. Kurz darauf hatte Freddie wieder seine volle Aufmerksamkeit.
»Nö, so ganz fest habe ich noch nichts geplant. Aber ich hatte mir die Arbeit gemacht, hört, hört, nach Arthur zu fahnden. Ihn konnte ich noch nicht erreichen, aber sein Vater lebt noch, der wohnt sogar noch in der alten Wohnung. Stell dir vor, Arthur lebt in Kanada, die Mail-Adresse habe ich von seinem Vater bekommen, obwohl er auch über facebook zu finden ist, wie ich mittlerweile herausbekommen habe. Das beste nämlich ist«, die kurze Pause ließ Freddies Spannung steigen, »das Arthur im Herbst nach Berlin kommen will um den achtzigsten Geburtstag seines Vaters zu feiern. Da böte sich für uns doch eine super Gelegenheit.«
Arthur. Klar, Arthur. Arthur Pockelewitz. Oder sollte Freddie besser als Pocke an ihn denken? Pocke, so wie Freddie ihn in all den Jahren nannte, nachdem er als neuer Schüler zu ihnen in die Klasse stieß. Warum sollte sich Didi nicht mit Pocke in Verbindung setzen, waren sie früher doch auch miteinander befreundet, wenn auch nicht so eng und fest, wie es Freddie und Pocke über Jahre miteinander waren? Freddie war sich nicht einmal sicher, ob Didi den großen Krach zwischen Pocke und ihm überhaupt noch mitbekommen hatte. Nach dem Abschluss der Realschule gingen die Wege von Freddie und Didi recht schnell auseinander. Didi ging weiter auf das Gymnasium, mit Erfolg, wie man hört. Freddie war mittlerweile vollkommen in den alten Geschichten verfangen. Worüber stritten er und Pocke eigentlich? Bruchstückhaft schoben sich die ersten Erinnerungsfetzen in sein Bewusstsein. So konnte er sich daran erinnern, dass die beiden Anfang der Achtziger zum Angeln auf die Insel Fehmarn gefahren sind. Geplant war ursprünglich ein verlängertes Wochenende, vollgestopft mit angeln, angeln und nochmals angeln. Die jungen Männer hatten sich extra den alten VW-Bully von Arthurs Vater ausgeliehen, um sich bezüglich ihres mitgeschleppten Equipments keine der sonst üblichen Konzessionen hingeben zu müssen, die zwangsläufig bei der Reise mit der Bahn oder dem Bus auf einen Angelfreund warten. Freddie fiel wieder ein, dass die ersten Tage einigermaßen in Ordnung waren, wenngleich er im Nachhinein zugeben musste, dass er Pocke als recht übellaunig in Erinnerung hatte. Noch einsilbiger, als er sonst schon war und leicht reizbar. Schließlich kam es zu einem Krach, wie ihn die beiden bis dahin noch nicht erlebten. So endete dieser gemeinsam begonnene Ausflug damit, dass sie die Sachen packten und jeder für sich die Insel verließ. Freddie machte sich mit seinen Camping- und Angelklamotten per Bus und Bahn auf den Heimweg. Er hatte partout keine Lust, fünf Stunden neben dem in seinen Augen vollkommen überzogen miesepetrigen Pocke zu sitzen. Sicher hätte er anders reagiert, hätte er ahnen können, dass er Pocke daraufhin nie wieder sehen sollte.
Der immer noch aufgeregt klingende Didi holte Freddie aus seinen Erinnerungen zurück.
»Freddie, Mensch, ich will jetzt nicht hetzen, aber meine Liebste ist gerade vom Brötchen holen zurück, du, mir knurrt der Magen, außerdem haben wir nachher noch ein paar Einkäufe zu erledigen. Na, in die Firma muss ich heute auch noch.«
Freddie nickte nur. Er wusste zu gut, wie es ist, am Wochenende arbeiten zu müssen.
»Ich rufe dich wieder an, wenn ich wieder was von Arthur gehört habe, oder soll ich dir mailen?«
»Na ja, wenn ich es mir aussuchen darf, dann rufe doch einfach an, find ich irgendwie netter.« Obwohl die technischen Errungenschaften der letzten Jahre auch vor den Torhaus nicht halt machten, zog Freddie ein Telefonat immer noch der Kommunikation über E-Mail vor.
»Klar, machen wir so. Mensch, Freddie, schön, wenn das klappen sollte. Also, ich werde mich melden, sowie ich Arthur erreicht habe. Grüße mir deine Familie unbekannter Weise.«
»Mache ich, Didi, freue mich auch schon drauf. Also, bis die Tage.«
Klick. Stille. Freddie saß da. Legte das Telefon langsam auf den Küchentisch. Das war ein Ding. Denkt man an nichts schlimmes und dann hängt auf einmal ein Teil seiner Jugend in Form vom alten Didi Tischmann am Telefon. Na zumindest war er jetzt hellwach. Wach und aufgewühlt. Didi und...Pocke. Mann, Pocke. Jetzt, wo er weiß, dass Pocke in Kanada lebt, wurde ihm klar, dass sie sich nur schwer hätten über den Weg laufen können. Soll es ausgerechnet jetzt, nach 25 Jahren, noch mal klappen? Daran, wie es wohl wäre, ihn zu treffen, hatte er immer mal gedacht. Es war ihm allerdings nie in den Sinn gekommen, den Versuch zu starten, in Kontakt mit ihm zu treten. Dafür, es nicht getan zu haben, hatte er keine rechte Erklärung, zumal es über all die sich in den letzten Jahren entwickelten social-media-Geschichten im Internet ja geradezu ein leichtes ist, alte, „verschollene“ Kontakte wieder aufzunehmen. Aber, irgendwas hatte ihn davon abgehalten. War es die Sorge, eine Abfuhr zu erhalten, nicht Willkommen zu sein? Er war sich nicht sicher. Fakt war hingegen, dass auf diese Weise über all die Jahre das Gefühl blieb, dass ihm ein Teilchen fehlte, ein Teilchen, dass dieses Puzzle um Pocke und ihn vervollständigt hätte. Sollte er nach so langer Zeit doch noch die Gelegenheit erhalten, dieses letzte Puzzleteil zu erhalten? Pocke. Didi. Freddie gab sich einen Ruck, der ihn in die Gegenwart zurückholte. Schließlich saß nicht weit von ihm auch jemand, die seine volle Aufmerksamkeit benötigt. Das würde heute aber nicht ganz so einfach werden. Wahrscheinlich hat sich Leonie wieder mit einer großen Schale Maisflocken eingedeckt, so wie sie es immer Samstags macht, wenn sie ihre geliebte Fernsehsendung sehen darf. Heute wird sie wohl auch noch in den Genuss der nachfolgenden Sendungen kommen. Ausnahmen müssen auch mal sein, zumal Leonie nicht zu den Kindern gehört, die zum Fernseher Mama sagen und den Vater für den Kleiderständer halten. Was wiederum Babs und Freddies liebevoller und doch klarer Einhaltung von Regeln, Absprachen und Konsequenzen zu verdanken war. »Na, komm«, sprach Freddie zu sich selbst, »Leo wird nicht gleich verblöden, wenn ihr heute Winnieh Puh noch ein paar Geschichten erzählen kann.« Und er, er brauchte jetzt erst mal eine Tasse Tee, dann schnell ein Brötchen und dann die Zigarette. Die muss jetzt sein. Pocke, Didi, Goethepark. Die Schule. Langsam brachen sämtliche Erinnerungsspeicher auf und gaben ihren seit Jahrzehnten verschnürten Inhalt wieder frei. Während Freddie einen frischen Teefilter aus der Packung zog, sah er vor seinem geistigen Auge den vierzehnjährigen Freddie Torhaus, Klasse 8 d, Goethepark-Realschule, Berlin-Reinickendorf…
…1976. Die Sommerferien waren zu Ende. Es war einer dieser heißen Tage, der dort weitermachte, wo die stickige, schwüle Nacht zuvor aufhörte, die wiederum fortführte, was Tags zuvor begann. Genau genommen herrschte seit vier Wochen das Hoch Manfred und ließ alle im Land schwitzen, keuchen, fluchen oder angesichts exorbitanter Eiskugelumsätze Luftsprünge machen. Hinter Freddie lagen, wie er im nachhinein fand, wunderbare Sommerferien. Er war mit seinen Eltern sowie seinem Lieblingscousin Robert und dessen Eltern zu Gast bei der Familie Hubert in Steinwiesen. Es war ihr vierter gemeinsamer Urlaub auf dem selben Bauernhof, so dass sich Freddie und seine Familie durchaus wie Stammgäste fühlen durften. Steinwiesen bestand aus einhundert Häusern, 523 Einwohner, 1200 Kühen, sieben Gasthöfen, einer Trachtenkapelle, einem Schützenverein und keinem Kino und war für Freddie und seinem Cousin der Inbegriff eines Urlaubsparadieses. Ähnlich