»Werde ich dich wiedersehen?« Er sieht zu mir auf. Ich stehe immer noch auf der obersten Stufe der Treppe. Endlich erlöst er mich von meinen Qualen und spricht den von mir lang erhofften Satz aus. Jedoch schaffe ich es nicht zu antworten und den Moment perfekt zu machen. Meine Gedanken überschlagen sich. Mein Onkel würde mich sofort in einen Zug zurück nach Frankfurt setzen, wenn er wüsste was hier vor sich geht. Ich bin eine Dame! Steht mir so eine Verbindung zu? Warum haben meine Eltern mich nicht aufgeklärt?
Ich erinnere mich an die Worte meiner Mutter kurz vor unserer Trennung »Wir werden dich nicht verurteilen. Mach deine Erfahrungen aber überlege dir gut, wem du dich anvertraust.«
Sie wollen, dass ich meine eigenen Erfahrungen mache und ich vertraue Bastian. Er ist ein guter Kerl! Ich lehne mich langsam zu ihm herunter und merke, wie er mir entgegen kommt. Ich glaube er will mich küssen. Oh, Mann! Mein erster Kuss, hier in Paris. Wahnsinn! Jetzt sind es nur noch ein paar Zentimeter zwischen unseren Lippen. Gleich! Mein Herz schälgt mir bis zum Hals. Es scheint schlagartig das Blut in meinem Körper, um ein vielfaches schneller in meine Venen zu pumpen als vor noch ein paar Minuten. Meine Augen schließen sich. Meine Lippen spitzen sich, wie von allein seinen entgegen. Jetzt!
»Das ist er! Dieser Schweinehund!« Eine furchtbar laute Stimme lässt mich zusammen zucken. Bastian blickt nach rechts und sieht die beiden Fahrkartenkontrolleure von vorhin auf uns zu rennen. Oh nein!
»Lauf«, rufe ich ihm zu. Mit wehmütigem Blick sieht er ein letztes Mal zu mir und rennt dann davon. Komm zurück! Mein Innerstes scheint in tausend Stücke zu zerspringen. Bastian! In diesem Moment begreife ich, dass ich ihn wohl nicht mehr wiedersehen werde. Meine Beine verlieren an Standhaftigkeit und ich versuche mich in letzter Sekunde an dem Haltegriff neben mir festzuhalten. Soll es das schon gewesen sein? Das will und kann ich nicht glauben! Als ich mich aufrichte, um nach Bastian Ausschau zu halten, höre ich einen Mann meinen Namen rufen. Bastian? Ich schaue mich um und entdecke einen älteren Mann geradewegs auf mich zu kommen. Onkel Pierre!
»Emilia, was ist los? Geht es dir nicht gut? Du bist ja kreidebleich!« Seine besorgten knopfrunden Augen betrachten mich nervös. »Nein, Onkel Pierre! Mir geht es gut.« Ich schlinge meine Arme um meinen kleinen kugeligen Onkel, der ganz überrascht von meiner überschwänglichen Begrüßung zu sein scheint.
»Bienvenue à Paris, Emilia! Wie war die Zugfahrt?« Er hebt mich von der obersten Stufe auf den Bahnsteig. »Toll«, stoße ich mit einem Schluchzen hervor.
»Ich wusste gar nicht, dass dich Zug fahren so begeistern kann. Vor allem nicht, wenn die Zugfahrt sieben Stunden dauert!« Er beäugt mich skeptisch. Mist! Schöpft er Verdacht?
»Du musst erschöpft sein, wie unhöflich von mir. Ich bringe dich erstmal zu uns nach Hause!« Ein Glück! Er ist nicht so beharrlich wie mein Vater.
Wir fahren in einem sehr schicken Mercedes in westliche Richtung. Onkel Pierre erklärt mir, dass sie in einem Haus im 16. Arrondissement wohnen. Einem sehr bekannten und überaus noblem Viertel in Paris. Es befindet sich auf der rechten Seite des Seineufers. Wir biegen von der Rue Raynouard in der Nähe vom Eiffelturm, in eine ruhige Querstraße ab. Ich hänge wie ein kleines Kind an der Fensterscheibe. All diese neuen Eindrücke sprudeln nur so auf mich ein. Die Seine, der Eiffelturm, die etlichen kleinen Patisserien und natürlich ER! War das meine erste und zugleich letzte Begegnung mit ihm? Ich will ihn wiedersehen, aber in einer Stadt wie Paris? Unmöglich! Mein Blick senkt sich und eine Träne rollt mir über die Wange. Seitdem mein Hund Oskar gestorben ist, habe ich nicht mehr geweint. Warum auch? Ich bin behutsam, ohne Hass oder Zorn aufgewachsen. Manche würden vielleicht behaupten, ich hätte in einem goldenen Käfig gelebt, aber so habe ich es nie empfunden. Natürlich, mir hat es nie an etwas gefehlt. Meine Eltern haben mir immer ihre unglaublich große Liebe entgegen gebracht, mein ganzes Leben lang. Aber ist das wirklich genug? Auf einmal fühle ich mich wieder allein. Ich schaue zu meinem Onkel herüber, der mit mir auf der Rückbank Platz genommen hat. Ein Chauffeur fährt uns. Gleich werde ich Tante Joselin und Marguerite wiedersehen. Wie sie wohl sein werden?
»Emilia! Wir sind da!« Mein Onkel holt mich aus meinen Gedanken zurück in die Realität. Sein Lächeln ist so unglaublich warmherzig und lieb. Er strahlt mich förmlich an und zeigt mit dem Finger auf das Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Mein Blick wandert zu einem großen schwarzen Eisentor, das in eine helle Steinmauer gefasst ist. Die Mauer muss um die drei Meter hoch sein. Sie besteht aus großen quadratförmigen Sandsteinen, die das Gebäude im Gesamtbild wie eine Festung erscheinen lassen. Da soll ich wohnen? Ich schaue ungläubig zu meinem Onkel.
»Ja ich weiß, im ersten Moment muss es einschüchternd auf dich wirken, aber dahinter ist es einfach nur … magnifique. Vetrau mir! Irgendwann werden diese Mauern uns vor etwas sehr Bösen beschützen. Und dann wirst du dankbar sein darin leben zu dürfen.« Was er wohl damit meint? Ich denke nicht länger darüber nach, sondern versuche mich irgendwie über mein neues Zuhause zu freuen.
Zwei junge, uniformierte Männer treten hinter dem Tor hervor und öffnen es. Wie eine Flügeltür öffnet sie sich und der Chauffeur lenkt den Mercedes gekonnt durch die Einfahrt. Kaum sind wir unter diesen beängstigenden Mauern hindurch gefahren, eröffnet sich mir der Blick auf einen liebevoll angelegten Vorgarten. Auf der rechten Seite befindet sich, ein mit Blumen verzierter Steinbrunnen. Ich glaube sogar kleine tanzende Elfen darauf zu erkennen. Es ist wunderschön! Die mit weißen Kieselsteinen belegte Einfahrt mündet in eine Art Kreis, in dessen Mitte sich zwei miteinander verschlungene Birken befinden. Ich frage mich, wie Bäume so verwachsen können? Ein wenig fühle ich mich wie Alice. Erst letzte Woche habe ich das Buch über die Geschichte von dem weißen Hasen und der bösen Königen in einem verwunschenen Land gelesen.
Der Wagen hält vor dem Eingang. Mein Onkel steigt aus, läuft um den Wagen herum und öffnet mir die Tür. Er ist zu goldig! Als ich aussteige umgibt mich eine herrliche Brise, vermischt mit dem Duft von frisch gemähten Gras und gerade erblühten Rosen. Die große mahagonifarbene Eingangstür öffnet sich und eine Frau in einem langen weißen Spitzenkleid tritt heraus. Sie hat langes braunes Haar und große blaue Augen. Ihre Augen strahlen und ich erkenne sie sofort.
»Tante Joselin!« Mit einem Satz springe ich auf sie zu. Kaum zu glauben, dass ich zwei Stufen mit einmal nehmen kann. Sie kommt mir entgegen und wir fallen uns in die Arme. Auch sie duftet nach frisch erblühten Rosen und ein wenig nach meiner Mutter. Ich fühle mich sofort geborgen. Sie scheint mich gar nicht mehr loslassen zu wollen.
»Qu'est-ce que vous êtes devenu, vous jolie Emilia!« Ich hatte ganz vergessen wie sehr sie meiner Mutter ähnelt.
»Ich bin wirklich ein ganzes Stück gewachsen seit dem letzten Mal, Tante Joselin. Es ist ja auch schon sieben Jahre her. Ravi de vous revoir!« Sie scheint erstaunt über meine gute Aussprache zu sein.
»Ich freue mich auch dich wiederzusehen. Dein Französisch ist ausgezeichnet!« Ihr französischer Akzent scheint sich hingegen in den letzten Jahren noch verstärkt zu haben. Und ich dachte, Onkel Pierre wäre schon schwer zu verstehen. Ich werde mich wohl daran gewöhnen müssen.
»Komm herein! Das Abendessen steht bereits auf dem Tisch. Du musst doch fast am Verhungern sein.« An meinem Arm zieht sie mich herein und führt mich durch eine große, Licht durchflutete Eingangshalle. Mit weit aufgerissen Augen betrachte ich den Boden. Ich traue mich keinen Schritt weiter zu gehen, weil ich Angst habe mit meinen Absätzen dieses wundervolle Kunstwerk zu zerstören. Ich kann mich sogar darin spiegeln!
»Was ist mit