Ein Jahr mit Dir. Lisa Karen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lisa Karen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847680499
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Zug fährt um 11:15 Uhr von Gleis 8, das bedeutet ich habe noch gut zwanzig Minuten Zeit. Ich bitte den Fahrer mich zu meinem Zug zu begleiten und meinen Koffer zu verstauen. Als ich meine Kabine betrete, überkommt mich ein Gefühl der Einsamkeit und Stille. Oh, Mann! Es ist so verdammt ruhig hier drin. Wie soll ich das nur ganze sieben Stunden ertragen?

      Ich setze mich auf eine der beiden Sitzbänke, die mit einem sehr edlen, dunkelroten Samtstoff überzogen sind. Die Kabine ist allgemein sehr dunkel eingerichtet und irgendwie fühle ich mich etwas unbehaglich. Mein hellbeiges langes Kleid wirkt wie ein riesiger Farbklecks in der dunklen Kabine. Ich mag dieses Kleid sehr. Mein Vater hatte es mir in unserem Urlaub in Italien gekauft. Es ist an der Taille sehr eng geschnitten und zeigt etwas Ausschnitt. An den Beinen ist es weit ausgestellt, fast so als würde ich einen weiten Unterrock tragen. Da heute eine kalte Brise weht, habe ich mich für eine rosafarbene Jacke entschieden, die mich etwas wärmt. Ich ziehe mir die beigen Spitzenhandschuhe aus, um es mir ein bisschen gemütlicher zu machen. Ich vermisse meine Eltern jetzt schon. Hoffentlich war es die richtige Entscheidung über den Sommer weg zu fahren – allein.

      Ich spüre, wie der Sitz unter mir anfängt zu vibrieren. Es scheint los zu gehen! Auf einmal empfinde ich ein flaues Gefühl in meiner Magengrube. Meine Eingeweide scheinen sich in einander zu verknoten, es ist beinahe unerträglich. In weniger als sieben Stunden werde ich in einer fremden Stadt, in einem fremden Land mit fremden Menschen sein, um dort für vier Monate zu leben. Für jemanden, der sein ganzes Leben kaum einen Fuß vor die Tür gesetzt hat, ist das schon ein sehr großer Schritt. Verdammt! Was hab ich nur getan? Ich muss hier raus, sofort!

      In dem Moment, als ich aufstehen will, gibt der Zug ein lautes Pfeifgeräusch von sich. Oh, nein! Es ist zu spät. Mit einem Ruck setzt der Zug sich in Bewegung und wir fahren langsam aus dem Bahnhof heraus. Ich lasse mich zurück auf die Bank fallen und gebe ein dumpfes Stöhnen von mir. Jetzt ist es wohl endgültig.

      Aus meiner Ledertasche, die einer Art Aktentasche ähnelt, ziehe ich mein Lieblingsbuch heraus „Anna Karenina“ von Leo Tolstoi. Mein Lesezeichen, ein längliches Stück Pergamentpapier, auf dem ein gepresstes Gänseblümchen klebt, liegt zwischen den Seiten an meiner Lieblingsstelle. Vor vielen Jahren, ich war ungefähr elf Jahre alt, entdeckten mein Vater und ich während eines Spazierganges eine wunderschöne Wiese mit abertausenden von Gänseblümchen. Es war einer der schönsten Anblicke, die ich in meinem, bisher kurzem Leben sehen durfte. Mein Vater und ich spielten den ganzen Nachmittag dort. Es war wunderbar.

      Nach einer wilden Verfolgungsjagd quer über die Wiese und den kleinen angrenzenden Bach, pflückte mein Vater ein Gänseblümchen aus dem hohen Gras und steckte es mir hinters Ohr. Jedes Mal, wenn ich dieses Buch öffne, muss ich an diesen herrlich unbeschwerten und absolut vollkommenen Tag denken. Um ihn auf ewig in unserer Erinnerung zu bewahren, schlug mein Vater vor, das Gänseblümchen in einem Buch zu pressen und mir daraus ein Lesezeichen zu basteln. Bis heute habe ich es nicht vergessen.

      An meinem Fenster ziehen grüne Wiesen vorbei. Ich schaue zu der Landschaft und fühle mich einen kurzen Moment wieder, wie zuhause. Der Blick aus meinem Fenster auf die alte Eiche, bis zu den endlosen Feldern, erscheint mir vor meinem geistigen Auge. Ich kann die frische, nach Blumen duftende Luft beinahe riechen. Was würde ich geben, um in diesem Moment wieder dort zu sein und nicht hier allein in einer düsteren Kabine auf dem Weg ins Unbekannte. Etwas reißt mich aus meinen Gedanken.

      Mit einem lauten Knall öffnet sich die Tür zu meiner Kabine und ein junger Mann stürmt hinein. Er trägt ein weißes Leinenhemd und eine braune, abgetragene Cordhose dazu. Erst glaube ich, dass er zum Servicepersonal gehört, aber seine zerschlissene Kleidung lässt etwas anderes vermuten. Mein Blick wandert weiter nach oben zu seinem Gesicht. Oh Mann, er sieht verdammt gut aus! Er hat dunkelbraunes, leicht gelocktes Haar und trägt einen Drei-Tage-Bart. Aber seine Augen! Sie scheinen mich zu durchdringen. Ja wirklich, er scheint direkt in mich hineinzusehen. Sie sind weder blau noch grau, sie sind eisig, vollkommen klar. Ich bin wie paralysiert von seiner Erscheinung. Mein Mund öffnet sich und ich schaue ihn mit aufgerissenen Augen an und das erste, was mir entfährt ist ein leises, kaum hörbares »Hallo!«

      Nun scheint auch er mich vollkommen paralysiert anzusehen. Mit einer eleganten Bewegung schiebt er die Tür hinter sich zu und bewegt sich langsam auf mich zu. In diesem Moment komme ich wieder zur Besinnung und es sprudelt nur so aus mir heraus.

      »Was zum Teufel machen sie hier drin? Raus, sofort!« Er scheint erschrocken von meiner Reaktion zu sein, weicht jedoch nicht zurück. Auf einmal bemerke ich seine Nervosität, er schwitzt und zappelt aufgeregt mit den Armen um sich.

      »Excusez-moi! Mademoiselle, aber ich müsste mal unter ihren Rock!« Wie bitte? Habe ich mich gerade verhört? Bin ich etwa immer noch betäubt von seinem vollends perfekten Gesicht? Was ist hier los?

      »Bitte, Mademousille! Ich bin mir der durchaus unkonventionellen Bitte bewusst, aber schnell.« Er sieht mich mit nervösem und zugleich forderndem Blick an, wartend auf eine Antwort.

      »Nein«, quieke ich. »Das ist nicht nur eine überaus unkonventionelle Bitte, sondern eine obszöne noch dazu. Sehe ich etwa so aus als…«, noch bevor ich meinen Satz vollenden kann, kommt der Fremde, verdammt gut aussehende Mann mit einem Satz auf mich zugesprungen und hält mir seine Hand vor den Mund. Gott, riecht der gut! Erst jetzt bemerke ich seinen süßen, beinahe himmlischen Duft. Und seine Hände! Sie sind beharrt und groß, so männlich. Seine Adern treten heraus. Er ist angespannt, blickt mir jedoch direkt in die Augen. Jetzt kann ich seine Augen noch besser sehen. Er sieht direkt in mich hinein.

      »Ich werde jetzt den Saum deines Rockes hochziehen und mich darunter verstecken. Da draußen sind ein paar wirklich wütende Männer, denen ich nicht über den Weg laufen sollte.« Ich versuche seinen Worten zu folgen, doch sein süßer Geruch macht es mir unmöglich.

      »Ich werde mich auch nicht genauer dort unten umschauen, versprochen.« Sein Mund formt sich zu einem verschmitzten Lächeln. Ich bin vollkommen in Trance. Was hat er gesagt?

      Bevor ich auch nur über eine Antwort nachdenken kann, bewege ich meine Hand in Richtung meines Saumes und ziehe meinen Rock bis unterhalb meines Knies hoch. Verflixt nochmal, was tue ich hier? Ich lasse einen wildfremden Kerl sich unter meinem Rock verstecken, nur weil er schöne Augen hat? Seine Augen sind aber auch verflucht schön!

      In weniger als drei Sekunden scheint er komplett unter meinem, zuvor schon opulenten Kleid, verschwunden zu sein. Ich spüre seinen Atem in meiner Kniekehle und zugleich ein fremdartiges Ziehen unterhalb meines Bauchnabels. Nicht zu vergleichen mit dem krampfartigen Gefühl in meiner Magengrube von vorhin. Im Gegensatz dazu fühlt es sich irgendwie gut an. Es klopft an der Tür.

      »Ja, bitte!« Zwei Fahrkartenkontrolleure betreten meine Kabine.

      »Entschuldigen sie, Fräulein…« Fragend und zugleich beschämt sieht mich der Kontrolleur an, weil er meinen Namen nicht weiß.

      »Fräulein Rosenberg.« Ich klinge bestimmt.

      »Entschuldigen sie, Fräulein Rosenberg. Wir sind auf der Suche nach einem jungen Mann.« Mir stockt der Atem »Er ist ungefähr 1,85 m groß und hat dunkles Haar. Er konnte leider kein Fahrticket vorweisen und verschwand in diesem Wagon. Haben sie etwas gesehen?« Mist! Was sag' ich nur? Hilfe!

      »Äh, nein. Niemand. Ich meine, ich habe nichts Auffälliges bemerkt« Na klar, nur den fremden Kerl unter meinem Rock. Ich spüre wieder seinen Atem in meiner empfindlichen Kniekehle.

      »Sind sie sicher?« Die beiden Männer schauen mich verdutzt an. Ich scheine nicht gerade überzeugend zu sein. Lass dir was einfallen, Emilia! Die Gedanken in meinem Kopf überschlagen sich.

      »Meine verehrten Herren, mein Vater Wilhelm Rosenberg hat eine Menge Geld bezahlt, damit ich eine unbeschwerte und vor allem ruhige Reise habe. Würden sie mich also jetzt entschuldigen?« Wow! So einen Ton kenne ich gar nicht von mir. In Gedanken klopfe ich mir auf die Schulter.

      »Aber natürlich, Fräulein Rosenberg. Wir werden sie nicht weiter belästigen! Entschuldigen sie die Störung!« Man sieht ihnen an, dass sie sich ganz schön auf den Schlips