Augen wie Gras und Meer. M.T.W. Mayer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: M.T.W. Mayer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738036176
Скачать книгу
und sich tragen zu lassen als selbst zu gehen, aber für eine Dame ihres Standes gehörte es sich nicht, mit dem einfachen Volk auf den Straßen zu spazieren.

      Der Markt war voller Händler, die ihre Waren lauthals anpriesen. Arets Anwesenheit war von großem Vorteil, da er Milia durch die Mengen von Menschen schleuste, ohne dass sie unsittliche Berührungen oder Taschendiebe fürchten musste. Schnell fand sie einen Stand, der Fibeln verkaufte, doch waren die Preise – trotz Verhandlungen – unverschämt hoch. So suchte sie weiter nach einer Gewandnadel, die sowohl ihren Ansprüchen als auch ihrem Budget genügte. Währenddessen traf sie jedoch immer wieder auf Bekannte, wodurch sich ihr Besuch auf dem Markt weiter verlängerte.

      Plötzlich tauchte ein Sklave auf, der mit Peris uns Akis nach Griechenland aufgebrochen war. „Herrin! Seid gegrüßt.“ Noch außer Atem verbeugte er sich vor Milia.

      „Babis, was tust du hier?“ Sie hatte seinen richtigen Namen vergessen, weshalb sie dazu überging, ihn so zu nennen, wie Dora es immer tat.

      „Ihre Schwester, Herrin Theodora, lässt ausrichten, wohlbehalten zurück gekommen zu sein“, antwortete der Sklave ruhig. „Und sie bittet Euch, sie zu begrüßen.“

      Milia lachte auf. Das würde Dora so gefallen! „Geh zurück und sage ihr, dass ich besseres zu tun habe als Kinder zu begrüßen, die den Weg zurück nach Hause gefunden haben.“ Babis sah sie kurz erschrocken an. Ihm war klar, dass Doras Zorn über diese Antwort ihn treffen würde. Doch Milia schickte ihn mit einer Handbewegung weg. Sie würde sich nun erst recht Zeit lassen bei ihren Besorgungen. Sollte Dora doch alleine in dem Haus sitzen, wo sie Vater das Versprechen abgeschwatzt hatte, Fara mitnehmen zu dürfen.

      Als Milias Blick auf Aret fiel, bemerkte sie, wie er angestrengt nachdachte. Eine tiefe Falte hatte sich zwischen seinen dunklen Augenbrauen gebildet. Als ihm jedoch bewusst wurde, dass man ihn beobachtete, senkte er schnell den Blick. Milia zuckte kurz mit den Schultern und ging weiter über den Markt, während ihr Sklave mit jedem Schritt ungeduldiger wurde und nun auch an Orten, wo kaum Menschen standen, sehr nah an sie heranrückte. Gerade als sie in zurechtweisen wollte, dass sich eine solche Nähe nicht gehöre, geschah das Unglück.

      Wie von einem Schlag getroffen fiel Milia zu Boden. Ein Schatten stürzte über sie. Geschrei ertönte.

      Ganz Atlantis war von einem Erdbeben erschüttert worden.

      Kapitel 3

      Das Blut rauschte in Milias Ohren und ihr Kopf fühlte sich an, als wolle er vor Schmerz zerbersten. Etwas lag schwer auf ihr, sodass es ihr nicht möglich war, aufzustehen. Im nächsten Moment begriff sie, dass es nicht etwa Steine waren, die auf ihren Körper niedergeprasselt waren, sondern Aret sich schützend über sie geworfen hatte, während um sie herum ein schier unbegreifliches Chaos ausbrach.

      Überall auf dem Boden lagen Menschen, alle Markstände waren derart erschüttert worden, dass kaum mehr ein Händler unterscheiden konnte, welcher Haufen aus Brettern, Stangen und Tüchern einst sein Verkaufsraum war. Selbst einige Häusermauern wiesen Lücken auf und die Steine waren auf die Unglückseligen geprasselt. Begraben unter Ziegeln, Holz und Schutt schrien sie nach Hilfe oder beteten zu den Göttern – sofern sie dazu noch in der Lage waren.

      Keuchend stand Aret auf, wobei Milia sah, dass sein Einsatz dafür gesorgt hatte, dass sie nur ihren Kopf gestoßen hatte und nicht auch unter Gestein verschüttet wurde. Er dagegen schien Schmerzen zu haben. Milia wurde von ihrem Sklaven recht unsanft gepackt und so schnell auf die Beine gezogen, dass ihr kurz schwarz vor Augen wurde. Aret aber griff nach ihrem Arm und wollte sie hinter sich herziehen, als die ganze Stadt erneut von einem schweren Beben ergriffen wurde. Wieder stürzte Milia, kauerte sich auf den Boden und wurde von Aret an dessen Brust gedrückt. Sein Herz pochte stark und kraftvoll. Das Geschrei und Getöse um sie herum war beinahe unerträglich laut.

      Als sich die Erde beruhigt hatte, sprang Aret wieder auf und zog seine Herrin unbarmherzig hinter sich her. Geschickt umging er dabei andere Menschen, die um Hilfe riefen oder Schutthaufen, unter denen sich womöglich noch weitere Hilflose befanden.

      „Aret warte!“ Milia wollte versuchen zu helfen, sich losreißen und irgendetwas tun, doch ihr Sklave hörte nicht auf sie und zog sie erbarmungslos weiter über den Marktplatz.

      Das dritte Beben war stärker und dauerte länger als die beiden vorhergegangen zusammen. Aret konnte Milia gerade noch rechtzeitig in einen sicheren Unterstand ziehen, bevor es Steine auf den Platz zu regnen schien. Milia schrie vor Angst, doch konnte sie es vor lauter Lärm selbst nicht hören. Kaum war das Erdbeben vorbei, zog Aret sie weiter. Die Straßen waren voller Schutt, sodass kaum ein Durchkommen war. Von überall kamen ihnen Menschen entgegen, meist blutüberströmt, die schrien und versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. Dabei spielte es keine Rolle, welche Position in der Gesellschaft jemand noch vor wenigen Minuten innehatte. Es zählte nur noch, wer stärker, fitter oder durch Zufall unverletzt war. Wer sich nicht selbst helfen konnte, wurde zurückgelassen. Im Kampf um das eigene Überleben war das Leben des Nächsten nichts mehr wert.

      Milia war wie erstarrt, als all diese Eindrücke auf sie einströmten. Hätte Aret sie nicht immer weiter hinter sich hergezogen, sie wäre vor Verzweiflung zusammengebrochen. Was war hier passiert? Wie konnte ihr geliebtes Atlantis so zerstört werden, die Bewohner so herzlos sein? Nach einiger Zeit bemerkte sie, dass Aret nach seiner Schwester rief. Sie waren nun kurz vor ihrem Haus. Als Milia es jedoch sah, erkannte sie es im ersten Moment nicht: eine Seitenwand war komplett eingestürzt, das Dach eingebrochen. Nur noch die massive Eingangstür erinnerte an den herrschaftlichen Wohnsitz des Händlers Periandros und seiner Familie.

      Dora! Milias Herz schien für einen Moment still zu stehen. Ihre Schwester war zurückgekommen, in dieses Haus, das nun wie ein verwundetes Tier vor ihr lag. Allein die Vorstellung, sie unter diesen Steinbergen zu wissen, ließ ihr Herz zerspringen und sie nach Atem ringen.

      Milia wollte sich von Aret losreißen und nach Dora suchen, doch seine Hand hielt ihren Arm unbarmherzig fest. „Aret, lass mich los! Du tust mir weh! Hilf mir Dora zu finden! Aret!“ Doch ihr Sklave hörte nicht auf sie und rief nur weiter nach seiner Schwester Fara.

      Auf einmal taumelte Ebo, Milias schwarzer Sklave, den Akis zur Bestrafung in den Keller gesperrt hatte, auf sie zu. Er war schwer verletzt, sein linker Arm hing bewegungslos an seinem Körper herab. Als er Aret sah, lief er sofort auf ihn zu.

      „Sie ist hinten. Komm schnell!“

      Ohne auf Milias Befehle, ihr zu helfen, zu achten, führte Ebo Aret um das Haus herum, wo die Zerstörung noch deutlicher wurde. Kaum ein Stein lag noch auf dem anderen. Flink kletterten sie über das Geröll, Milia noch immer hinter sich her ziehend. Oben auf dem Haufen aus Steinen angekommen, sahen sie sie.

      Fara lag dort, wo früher der Innenhof war. Man sah jedoch nur ihren Oberkörper, die Beine lagen unter dem, was früher ein Seitenflügel des Stadthauses gewesen war. Ihr dunkles Haar verteilte sich fächerartig über das Geröll. Aret ließ Milias Arm los, rief Ebo zu, er solle auf sie aufpassen und rannte sofort zu seiner Schwester. Milia war vor Schreck so erstarrt, dass sie alles vergaß außer dem Geschwisterpaar vor ihr. Faras Anblick war entsetzlich, denn obwohl sie lebte und zu ihrem Bruder sprach, war ihr Schicksal vorherbestimmt: Aus diesem Steinhaufen konnte sie nicht befreit werden, zuvor würde sie sterben, ihre Verletzungen waren gewiss zu stark. Aret hob sanft ihren Oberkörper, legte den Kopf seiner Schwester auf seinen Schoß und strich ihr Sanft einige Haare aus dem schönen Gesicht, das so makellos zwischen der Zerstörung wirkte. Sie flüsterten sich Dinge zu, er, weil er sie beruhigen wollte, sie, weil ihre Kraft nicht für mehr reichte.

      Milia erinnerte sich wieder an Dora und riss sich von der Szene los. Unsicher blickte sie um sich. Überall war nur Schutt, kaum ein Mensch war zu sehen. Sollte ihre Schwester sich im Haus befunden haben als das letzte Beben die Insel erschüttert hatte, was wäre dann mit ihr geschehen?

      „Ebo, wo ist Dora?“

      Der Sklave reagierte nicht.

      „Ich habe dir eine Frage gestellt. Wo ist meine Schwester!“ Milias