„Kurze Frage noch. Können Sie sich eventuell noch an seine Kleidung erinnern?“
„Nichts Besonderes. Weißes Hemd und dunkle Hose. Aber unterhalb seines hellen, eng sitzenden Hemdes guckte ein Streifen eines Tattoos heraus. Komisches Tattoo. Aber Geschmäcker sind verschieden.“ Holz suchte nach etwas in seiner Jackentasche. „Eine Bitte noch. Hier ist meine Karte. Kommen Sie morgen früh um neun Uhr zur Täterbeschreibung zu uns ins Präsidium.“ Holz bestellte seine geliebte „Lietzensee-Platte“ ab, bezahlte und lief zügig zum Restaurant „Aubergine“. Gabi Saft stand bereits auf den Treppen des Eingangsbereichs und wartete auf ihn.
„Hallo sind Sie der Mann, der bei mir soeben angekündigt wurde?“
„Ja. Das bin ich. Mein Name ist Johann Holz. Hört sich zwar Bayrisch an, ick bin aber ein waschechter Berliner und dazu noch Kriminalhauptkommissar.“
„Ich heiße Gabi Saft und habe schon kurz von meiner Bekannten am Telefon gehört, worum es geht. Das ist ja schrecklich. Und so ein Mörder geht dann hier noch essen und läuft einem vielleicht noch mal über den Weg. Echt gruselig.“ Beide gingen in das Restaurant hinein. Holz zeigte ihr behutsam die Fotos des Opfers. Er wusste, dass solche Anblicke schon öfter zu Kreislaufzusammenbrüchen geführt hatten. Gabi Saft stützte sich auf die moderne, schwarz-weiß bemalte Theke und ihre Beine zitterten genauso wie ihre Stimme. „Der Name der Toten ist Ursula Ulme. Ich kenne sie sogar ziemlich gut, da wir bereits vor Jahren zusammen an diversen Koch- und Backkursen teilgenommen haben. Besonders lustig und effektiv war der Cup Cake Kurs. Dieser Kurs hat sie so in den Bann gezogen, dass sie eine kleine Bäckerei nur für Cup Cakes eröffnet hat. Sie redete sehr gerne und aß sehr gerne, was man zum Schluss auch an ihrer Figur sah, aber trotzdem war sie noch eine bildhübsche Frau. Sie hat dieses Jahr ihren vierzigsten Geburtstag gefeiert. Seit zehn Jahren war sie nun in Berlin. Sie liebte diese weltoffene und freie Stadt. Museen, Parks, Theater, Lesungen, Sportveranstaltungen, Cafés und Restaurants aller Art und natürlich viele historische Plätze. Kurz gesagt, Berlin war ihre Stadt.“
„Was hat sie davor beruflich gemacht?“
„Verheiratet war sie nie. Sie wollte immer Freiheit haben, und das hätte man ihrer Meinung nach in einer Beziehung nicht. Ja, so war sie die liebe Ursula. Ich bin zutiefst erschüttert.“
Holz merkte, dass sie durch den Vorfall ziemlich verwirrt war, aber er benötigte jedes kleinste Detail für seine weiteren Ermittlungen.
„Okay, sie war nicht verheiratet, aber sie musste doch Geld verdienen, um dann allein über die Runden zu kommen. Was hat sie beruflich gemacht, bevor sie ihren Laden eröffnet hat?“ Gabi Saft überlegte.
„Ich bin mir nicht ganz sicher, aber sie war irgendwie in der Touristikbranche tätig, da sie viel gesehen hat und auch einige Sprachen sprach. Wir haben uns, wie gesagt, immer bei den Kochkursen gesehen. Da war sie ziemlich lustig, besonders dann, wenn die Weinflaschen geöffnet wurden. Ansonsten war sie ein ziemlich introvertierter Mensch, mit dem außerhalb der Kochkurse eigentlich niemand privat Kontakt hatte.“
„Das heißt sie hatte keine Freunde?“
Gabi Saft nickte mehrmals.
„Nein. Sie war, wie sie es selbst immer gerne betonte, eine typische Einzelgängerin. Man hatte das Gefühl, dass sie darüber geradezu stolz war. Ich bin sehr müde, da ich hier schon wieder viel länger als notwendig gearbeitet habe.“
„Wohnen Sie hier in der Nähe?“ fragte Holz mit verständnisvollem Blick.
„Ja, vier Straßen weiter. Nur drei von Ursulas Bäckerei entfernt.“
Er wusste, dass sie zum jetzigen Zeitpunkt durch weitere Fragen überfordert gewesen wäre, und nahm zunächst ihre Kontaktdaten auf. „Ich begleite Sie noch bis nach Hause, um Gewissheit zu haben, dass Sie dort auch wohl und behütet ankommen werden.“ Holz ahnte, dass in den nächsten Tagen viel Arbeit auf ihn zukommen dürfte, und beschloss deshalb den heutigen Arbeitstag zu beenden.
Donnerstag, 9. Oktober
Holz saß bereits seit drei Stunden in Präsidium, als gegen zehn Uhr sein Telefon einen externen Anruf anzeigte.
„Guten Morgen Herr Kommissar Holz. Ich bin Ursula Ulme.“ Holz erschrak und er merkte, wie sein Blutdruck nach oben schoss. „Aber eine andere Ursula Ulme. Keine Angst. Ich bin nicht tot. Ihr Kollege hat mich direkt zu Ihnen durchgestellt, da er wusste, worum es geht.“
Holz war irritiert.
„Woher kannten Sie den Namen des Opfers? In der Presse und den Fahndungsblättern wird dieser nicht erwähnt.“ Ursula Ulme lachte. „Wenn ich Ihnen gleich den Hintergrund erzähle, wissen Sie, woher ich ihn kannte.“ Holz antwortete in typischem Berliner Dialekt. „Na, denn schießen Sie mal los.“
„Ich habe vorhin in der Berliner Morgenpost von dem schrecklichen Mord am Lietzensee gelesen und ich glaube, ich könnte Ihnen vielleicht weiterhelfen. Gestern morgen klingelte ein gut aussehender, etwas muskulöser Mann mit wunderschönen blauen Augen und dicken Lippen bei mir an der Haustüre in Kreuzberg. Er suche seine alte Freundin Ursula Ulme. Es gebe in Berlin laut seinen Recherchen nur drei Stück und eine davon sei ich. Er war ziemlich enttäuscht, als er sah, dass ich nicht seine Ursula war. Aber unabhängig davon fanden wir uns auf Anhieb sehr sympathisch. Obwohl wir uns nicht kannten, ließ ich ihn auch ohne Widerstand seinerseits in meine Wohnung hinein. Wissen Sie, ich habe da noch Erfahrung aus meiner Vergangenheit als Escort Girl und anderen gleichwertigen Berufungen. Diese Männer erzählen einem beim ersten Kennenlernen direkt so viele Dinge, um ihre anfängliche Schüchternheit zu bewältigen, bevor es dann losgehen kann. Wir sind wie Friseusen, oder wie man heute sagt, „Hair-Stylistinnen“. Wir wissen alles, dürfen es aber keinem sagen. Er sagte mir, dass er normal auf blonde Damen stehen würde. Ich bin im Moment eindeutig dunkelhaarig, falle also eigentlich gar nicht in sein Beuteschema. Außerdem wären ihm meine Füße zu groß. Wir verbrachten intensive Stunden zusammen auf meinem Sofa. Danach zog er sich wieder an, bedankte sich und stieg in die Bahn, da er noch nach Charlottenburg musste, um die andere Ursula Ulme zu suchen. Und jetzt ist in Charlottenburg eine Dame ermordet worden, zu der das gesamte Umfeld passt. Für mich kann es sich nur um die von ihm erwähnte Ursula Ulme handeln. Hatte ich selbst da eventuell Glück?“
„Das kann ich Ihnen nicht direkt sagen Frau Ulme, aber es sieht so aus, dass Sie nicht in sein Raster reingepasst haben. Seien Sie froh. Sonst hätte es anders enden können. Teilen Sie mir bitte Ihre Adresse mit. Ich werde sofort einen Durchsuchungsbeschluss anfordern. Die Spurensicherung wird bei Ihnen vorbeikommen. Verlassen Sie am besten Ihre Wohnung und warten vor dem Haus, damit nicht noch mehr Spuren beseitigt werden.“
Frau Ulme zögerte zunächst und zweifelte an, ob dieses wirklich notwendig sei, da sie ja den Überfall mit angenehmen Nebentätigkeiten überlebt habe. Allerdings wusste sie, dass sie nach ihrem Anruf mit so etwas rechnen musste. „Ich fühle mich mit der Polizei zwar nicht sehr positiv verbunden, Herr Hauptkommissar, aber ich bin mir der Wichtigkeit bewusst und werde Sie in meine Wohnung lassen.“ Holz fügte mit deutlich lauterem Tonfall hinzu, dass sie danach noch zum Polizeipräsidium zur Täterbeschreibung und zum Erstellen eines Phantombildes vorbeikommen müsse. Er selbst ließ sich allerdings für diese um zwei Uhr geplante Täterbeschreibung von einem Kollegen vertreten. Die Beschreibung vor Ort, so stellte sich später heraus, stimmte genau mit ihrer damaligen telefonischen überein. Holz fuhr zügig zu Ursulas Adresse, um sich ein eigenes Bild zu machen. Da die Parkplatzsituation in dieser Ecke sehr schlecht war, stellte er seinen Wagen mit Warnblinkern direkt quer auf den Bürgersteig vor den Hauseingang. Die Haustüre zu ihrer Wohnung stand offen und die Spurensicherung war beeindruckt davon, was sie so alles finden konnte. Das Sofa