Dienstag, 7. Oktober
Hauptkommissar Voigt fuhr nach einer schlaflosen Nacht erneut zum Tatort. Der Herbst war nicht mehr aufzuhalten. Es regnete. Die goldroten Blätter der Bäume wurden durch den starken Wind bis zum Waldrand geweht, sodass der Fundort der Leiche durch den nassen Boden und die Blätter nur noch schwer zu erkennen war. Grübelnd lief er hin und her. Er konnte sich den Hintergrund der Tat bisher nicht erklären. Ingrid Engel war eine attraktive Frau um die 50 Jahre. Ein anscheinend alter Bekannter, der zu Besuch in Freiberg ist, freut sich sie zu sehen, geht mit ihr essen und bringt sie danach um. War der Mord geplant? Woher hatte er das Messer? Warum zog er ihr das Engelskostüm an? Welche Bedeutung hatte der Himmels-Engel auf ihrem blutgetränkten Hals, und warum kündigte er an, dass diesem Mord noch ein weiterer folgen sollte? Täter und Opfer schienen sich zu kennen, aber woher? Voigt war klar, dass er noch mehr über das Leben der Toten erfahren musste. Unterbrochen wurde sein Grübeln vom Klingeln des Telefons. Herr Wunder, der Professor der Rechtsmedizin, war in der Leitung.
„Hallo Herr Voigt. Anhand der Einstiche im Hals haben wir nun auch herausgefunden, um welche Art Messer es sich gehandelt haben dürfte. Es muss sich um ein Messer aus dem zweiten Weltkrieg handeln. Die genaue Herkunft konnten wir leider noch nicht bestimmen, aber wir sind dabei, weitere Informationen einzuholen. Man erkennt es an den Einstichformen und den teilweise sich im Hals befindenden Micro-Rostresten.“
„Danke Ihnen. Über weitere Informationen bin ich Ihnen sehr dankbar.“ So richtig viel hatte ihm diese zusätzliche Erkenntnis allerdings nicht gebracht. Im Gegenteil. Ein Messer aus dem 2. Weltkrieg sorgte eher für noch mehr Verwirrung. Auf jeden Fall waren die Kollegen bundesweit durch die bisher zur Verfügung stehenden Informationen alarmiert, was ihm etwas Hoffnung machte. Fest stand, dass sich der Mörder nicht mehr in Freiberg aufhalten dürfte, doch wo könnte er jetzt sein? Die Vermutung lag nah, dass sich der Täter mit dem Zug Richtung Dresden auf die Reise begeben haben könnte, da dieser Bahnhof eine Art Knotenpunkt für die Weiterfahrt in diverse andere Destinationen ist. Indizien wie der weiße Anzug oder der fehlende Bart durften bei der Suche aktuell nicht mehr ausschlaggebend sein, da diese beiden Merkmale schnell geändert werden konnten. Bisher gab es relativ wenig Anhaltpunkte, und die Welt ist leider groß.
Mittwoch, 8. Oktober
Ständige Fragen und fehlende Antworten verkürzten den Schlaf von Hauptkommissar Voigt in dieser Nacht erneut um einige Stunden. Selbst wenn dieser Mann, wie Elisabeth Winkler sagte, hessisch sprechen sollte, so wäre dieses noch lange keine Garantie dafür, dass er sich in einem Zug nach Hessen befinden könnte. Auch dieses Bundesland erweist sich bei Recherchen größer als gedacht. Voigt hoffte nun auf eventuelle Hinweise seiner geschätzten Kollegen in dieser bisher recht aussichtslosen Suche nach Erfolg. Um seine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken, beschloss er sich mittags auf dem Präsidium zunächst mit einem weiteren älteren Fall zu beschäftigen. Vertieft in die ersten Seiten, klingelte plötzlich sein Telefon. Am Apparat war Elisabeth Winkler.
„Ich habe vor lauter Aufregung vergessen, Ihnen zu erzählen, dass Ingrid mit einer Lebensgefährtin, also einer Frau, zusammenlebte. Sie heißt Xenia Uhlig. Keiner wusste es lange Zeit, da diese oft unterwegs und nur selten zu Hause war. Vielleicht war der Mord ein Mord aus Eifersucht, da sie dachte, dass sie ein Verhältnis haben könnte?“
„Danke für den vielleicht sehr wichtigen Hinweis“, antwortete Voigt. Er bedankte sich bei Elisabeth und teilte ihr mit, sich wegen eventuell zusätzlicher Fragen noch einmal zu melden. Die Lebensgefährtin von Ingrid Engel musste unbedingt als Nächstes verhört werden. Vielleicht kannte sie den Tatverdächtigen. Xenia Uhlig war nicht anzutreffen. Eine Nachbarin wies den vor dem Haus stehenden Kommissar auf seine Nachfrage in tiefstem Sächsisch darauf hin, dass sie für ein paar Tage in einem europäischen Kloster wäre. Angeblich ohne jeglichen Kontakt zur Außenwelt. Sie würde in dieser Jahreszeit jedes Jahr kurze Zeit in einem Kloster untertauchen und keiner wüsste, in welchem. Das Ganze nenne sich „Besinnungstage“. Allerdings dürfte sie in den nächsten beiden Tagen wieder da sein. Voigt musste warten, da er wusste, dass eine europaweite Suche nach ihr dieselbe Zeit in Anspruch nehmen würde wie ihre geplante Rückkehr nach Freiberg. Er fühlte auch basierend auf seiner langjährigen Erfahrung, dass der Mord anhand der bisher vorliegenden Indizien durch den Verdächtigen vollzogen worden sein dürfte
-Berlin- Zwei Tage nach Entkommen des Freiberger Mörders wurde eine Frauenleiche am Lietzensee im Bezirk Berlin Charlottenburg Wilmersdorf gefunden. Der See, der die Form einer Sichel hat, ist umgeben von dichten Baumanpflanzungen und von sehr wenigen Häusern. Die umliegenden Parkanlagen des Lietzenseeparks sind weitere mehrere Hektar groß. Die Tote lag versteckt zwischen großen Büschen. Rentner Heinz Bulle, sechsundachtzig Jahre, ein alter Charlottenburger, oder „Lietzenseer“ wie er sich selbst nannte, lief wie jeden frühen Morgen der Gesundheit wegen, langsam mit seinem Stock den gut aufbereiteten Spazierweg am See entlang. Er wollte, wie immer an dem leicht zugänglichen Stück zum Wasser hin die Enten füttern. Allerdings quälte ihn seine Prostata auf dem kurzen Stück zum Wasser hinunter so sehr, dass er bereits kurz davor in die Büsche gehen musste. Beim Hinstellen spürte er plötzlich, dass sein rechter Fuß auf einer Art weicher Wurzel stand. Als er genauer hinsah, traute er seinen Augen nicht. Zunächst vermutete er, dass es an seiner Sehschwäche und der noch vorhandenen Dämmerung liegen könnte. Aber beim zweiten Hinsehen schrie er einen so lauten Ton aus, von dem selbst er als ehemaliger und stimmlich nicht mehr so voluminöser Opernsänger überrascht war. Er trat zurück und sah eine tote Frau mit seitlich ausgestreckten Armen. Der Körper war Richtung Wasser platziert. Ihr wunderhübsches Gesicht schien eine Zigarette im Mund zu haben und auf dem eindeutig blutenden Hals lag seines Erachtens ein Stück Holz. Da er noch nicht lange unterwegs war, ging er so schnell wie überhaupt möglich nach Hause, um die Polizei anzurufen. „Hallo, Hallo, ist dort die Polizei? Ich habe eine Tote am Lietzensee gefunden. Ich bin aus Versehen noch auf ihren Arm getreten. Bitte kommen sie schnell.“
Eine beruhigende, tiefe Stimme eines Beamten klang in sein rechtes Ohr hinein.
„Sagen Sie uns bitte erst einmal Ihren Namen und wo Sie wohnen, und dann gehen wir gemeinsam dort hin.“ Heinz Bulle antwortete hektisch und laut.
„Witzlebenstrasse, aber kommen Sie am besten ans Bootshaus. Sie erkennen mich an meinem silberfarbenen Gehstock. Außerdem sind zurzeit ja noch nicht viele Leute unterwegs.“
Wenige Minuten später trafen Hauptkommissar Holz, die Polizei und die Spurensicherung am Bootshaus ein.
„Guten Tag Herr Bulle. Wir bedauern, dass Sie diese schreckliche Entdeckung machen mussten. So etwas sieht keiner gerne. Glauben Sie uns, wir haben damit trotz unserer langjährigen Erfahrung auch immer noch Probleme. Lassen Sie uns gemeinsam langsam zur Tatstelle gehen.“ Schweigend gingen sie zu der Böschung, in der das Opfer lag.
„Vielen Dank Herr Bulle. Wir müssen jetzt den Tatort leider großräumig abriegeln, damit uns keine wichtigen Spuren verloren gehen. Bleiben Sie bitte zu Hause ganztägig erreichbar, da Sie kein Handy haben. Geben Sie uns bitte auch noch Ihre Hausnummer in der Witzlebenstrasse und Ihre Telefonnummer. Wir melden uns dann heute noch bei Ihnen. Legen Sie sich erst einmal auf Ihr Sofa und ruhen Sie sich nach diesem Schock etwas aus.“
Heinz Bulle trat den Rückweg an und war verwundert, dass ihm so etwas in seinem hohen Alter an diesem schönen See noch passieren musste. Die Spurensicherung hatte den Fall bereits an die Mordkommission übergeben und begann mit ihrer Arbeit. Hauptkommissar Johann Holz begrüßte seine geschätzten Kollegen.
„Guten Tag allerseits. Ich weiß, Sie hatten noch keine Zeit ausführlich Spuren zu finden, aber ich möchte mir, ohne groß Ihre Arbeit zu behindern, nur einen kurzen Eindruck verschaffen.“
Holz sah eine wunderschöne blonde Frau, deren Liegeposition an einen Engel erinnerte. Und sie hatte einen Erzgebirgs-Holzengel als Bäcker mit einem Cup Cake in der Hand auf ihrem blutigen Hals liegen. Dieser wies