Siebenreich - Die letzten Scherben. Michael Kothe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Kothe
Издательство: Bookwire
Серия: Siebenreich
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752909401
Скачать книгу
als die, die du aus dem Zoo kennst, ungefähr um so viel mehr.«

      Er hob die Hände, sie fuhren auseinander. Julia schluckte trocken, als sie mit mehr als einer Elle Abstand voneinander in der Luft verharrten.

      »Im Übrigen …« Er nahm ihre Hand, führte sie zu einem anderen Baum und zeigte dort auf den Boden. »…haben sie ihre Runden um genau den Baum gedreht, an den ich gestern Abend, naja, du weißt schon.«

      Nun konnte auch Julia die Spuren nicht mehr übersehen. Der Boden um den Baum war von Laub freigescharrt, die Erde aufgewühlt, und am Stamm entdeckte sie Kratzspuren bis über ihre Augenhöhe.

      »Aber komm wieder zu dir, tagsüber verkriechen sie sich im Unterholz. Ich verspreche dir, dass wir keine mehr zu Gesicht bekommen, bis wir wieder auf einem Baum oder in einer Herberge unser Lager aufschlagen.«

      Nervös blickte sich Julia um. Dass sie nicht einen einzigen Wolf entdeckte, nahm ihr nicht die Angst. Sie drückte sich an ihren Gefährten.

      »Und bei Tageslicht tun sie uns wirklich nichts? Und wenn doch?«

      »Dann helfe ich dir auf den nächsten Baum, und mit sieben Wölfen sollte ich wohl fertig werden«, kam die selbstbewusst klingende Antwort. Mike lachte sie an.

      Julia schielte zu seinen Schwertern. Sie wusste, dass er damit umgehen konnte. Trotzdem fand sie, er hätte den Mund ziemlich voll genommen. Ihre Stirn blieb in Sorgenfalten. Nicht zuletzt, weil sie gerade aus dem schützenden Waldrand hervortraten und sie sah, dass sich auf Meilen vor ihnen hügeliges Gelände hinzog. Für den Bewuchs fand sie die Beschreibung »dürftig« am ehesten zutreffend. Alle paar Schritte bemühten sich kniehohe Sträucher und Gräser, die gleichhohen Steine zu überragen. Wo waren die rettenden Bäume, auf denen er ihr für den Fall der Fälle Rettung versprochen hatte? Sie sah sich ängstlich ein letztes Mal zum Waldrand um. Ihr Schlafbaum schien ihr mit seinen höchsten Ästen zum Abschied zuzuwinken. Sie riss ihren Blick von ihm los und beschleunigte ihren Schritt, bis sie zu Mike aufgeschlossen hatte. Sie drängte ihn, schneller zu gehen.

      Ihr Weg führte durch eine Landschaft mit buckligen Erhebungen. Sie waren in niedrigere Gefilde gekommen. Die Vegetation wurde üppiger. Vor Freude über das ständige Gezwitscher einiger Singvögel sah sich Julia intensiv um, entdeckte aber nur einzelne in den Baumkronen und Büschen. Den Grund für das rege Leben konnte sie fast körperlich spüren. Wasser war in der Nähe.

      »Der Lafer«, erklärte ihr Mike. »Wir müssten eine viertel Wegstunde weg sein. Der Fluss macht hier eine Biegung ins Land hinein, bevor er nach einem letzten Kontakt mit den Abendbergen dann einige Meilen nördlich von Königstein wieder nach Süden driftet. Die Abendberge hören dort auf. Bald kommen wir in bewohnte Gegenden. Bauernhöfe, Gasthöfe, Wehrdörfer. Jedenfalls ergibt sich für dich eine Gelegenheit, deine ungeeigneten Sandalen loszuwerden. Jedes Dorf unterhält einen Schuster oder Sattler. Beide können mit Leder umgehen und bringen für dich Schuhe zustande. Vielleicht haben sie sogar passende auf Vorrat. Oder wir finden einen Händler mit dem feineren und gleichzeitig robusten Schuhwerk aus dem Süden.«

      »Das wäre eine Wohltat!« Julia humpelte schon seit Längerem, ihr Tritt war wacklig geworden. »Mit der gebrochenen Schnalle und dem losen Riemen halte ich uns ohnehin nur auf.«

      Barfuß zu laufen wäre bei dem harten, mit Disteln durchsetzten Steppengras keine gute Alternative gewesen.

      9.

      Ihr Lager hatten die drei gut gewählt. Es lag auf dem höchsten Punkt des Weges und bot ihnen freien Blick in alle Richtungen. In der Senke hinter der Wegeböschung schützte es sie wiederum vor einer möglichen Entdeckung. Gerade hatten die beiden Älteren den Jüngeren als Beobachter eingeteilt. Seinen Posten hatte er noch nicht ganz bezogen, als er schon zurückgerannt kam und die Annäherung zweier Wanderer meldete. Nur ein Mann und eine Frau. Leichte Beute. Die drei machten sich fertig für ihr Gewerk. Viel gehörte nicht dazu. Die Messer in den Gürtel und die Stricke zum Fesseln in die Taschen. Fertig. In der Vorfreude auf die Früchte ihres Überfalls rieben sie sich die Hände. Sie verließen ihr Räuberlager und marschierten den Wanderern entgegen.

      »Seid gegrüßt«, eröffneten sie das Gespräch, in dem sie die Ankömmlinge auszuhorchen gedachten. Dann wüssten sie, wie ihre Opfer am leichtesten zu überwältigen waren und wo sie ihre Beute zu suchen hatten. Beim Anblick des Tornisters auf dem Schlitten war der letzte Punkt ohnehin klar.

      »Bauern und Handwerker aus Lohfelden sind wir, zwei Wegstunden von hier. Wenn ihr es kennt, dann wisst ihr vielleicht, dass der Name sich auf die Feuersbrunst bezieht, die das alte Dorf vor ein paar Jahren eingeäschert hat. Wir sind Nachbarn, auf dem Weg nach Norden, um seine Verwandten zu besuchen.« Er zeigte auf den Jüngsten, der daraufhin ein dümmlich anmutendes Grinsen aufsetzte. »Heilkräuter wollen wir ihnen bringen, die dort nicht wachsen.«

      Er unterbrach sich. Mit der Fußspitze scharrte er auf dem Boden. Mit seinem gesenkten Haupt schien er die Verlegenheit in Person.

      »Habt ihr vielleicht etwas zu essen für uns? Wir haben unsere Wegzehrung unterwegs ein paar Bettlern gegeben, die nach Süden gezogen sind.«

      Ihre Namen nannten sie nicht.

      Mike und Julia sahen sich an, sie nickte ihm zu. Eine Marschpause konnte sie mit ihrem kaputten Schuhwerk gut gebrauchen, und ein zweites Frühstück wäre auch nicht verkehrt. Außerdem war sie neugierig, was die drei Wanderer zu erzählen hätten. Über das Leben in diesem Land wollte sie möglichst viel aus erster Hand erfahren.

      Mike zuckte mit den Schultern.

      »Warum nicht? Meine Gefährtin humpelt schon eine Weile, und ich habe auch nichts gegen eine kurze Rast und eine kleine Stärkung.«

      Mit einer im Halbkreis zeigenden Geste lud er sie ein, sich zu setzen. Er holte den restlichen Proviant vom Schlitten und teilte ihn in fünf Portionen. Im nächsten Gasthof würden sie sich wieder versorgen. So gab es für jeden ausreichend zu essen. Satt zu werden, war dennoch etwas anderes.

      Im Schneidersitz ließen sie sich auf dem steinigen Boden nieder.

      Unauffällig betrachtete Julia ihre Gäste. Sie sahen sich sehr ähnlich. Die beiden Älteren, wohl Mitte vierzig, könnten sogar Brüder sein. Gleich groß, leicht gebeugt. Alle drei hatten dunkelblondes Haar mit rötlichem Schimmer. Der laue Herbst erlaubte ihnen das Aufrollen ihrer Hemdärmel, so dass ihr die kräftige, ebenfalls rötliche Behaarung der Unterarme ins Auge stach. Der Jüngste, so um die zwanzig, war einem der anderen wie aus dem Gesicht geschnitten. Außerdem hatte sie beobachtet, dass sie den gleichen Gang hatten und die gleiche Gestik. Sie schüttelte sich. Gänsehaut kroch ihr Rückgrat hinauf. Sie war überzeugt: Bloß Nachbarn waren die drei nie und nimmer! Was aber dann? Ihr Argwohn wurde auch dadurch genährt, dass sie ihre Messer griffbereit trugen, ohne Scheide einfach in die Gürtel gesteckt. Allesamt waren es kleine Kunstwerke. Das eine Heft war aus Hirschhorn und wies geschnitzte Jagdszenen auf, das andere hatte einen schillernden Perlmuttgriff, und das dritte war gar mit Silber belegt. Die Klingen glänzten wie poliert, in alle waren Ornamente eingestanzt.

      Die fünf saßen im Kreis, Mike hatte mit den Bauern und Handwerkern ein lebhaftes Gespräch begonnen.

      »Ihr seid auf dem Weg nach Königstein, nicht wahr? Unbedingt müsst ihr dort einen Boten beauftragen, euren Familien die Nachricht von eurem gesunden Eintreffen zu übermitteln. Ihr habt doch Familie, oder? Die werden sich Sorgen machen. So lange Reisen wie eure, und dann noch zu Fuß, sind heutzutage nicht ungefährlich.«

      Eine Frage nach der anderen stellten die drei, besonders interessierten sie sich für den Tornister.

      »Solch ein Gepäckstück haben wir noch nie gesehen. Wozu sind die Riemen und Schnallen?«

      »Ein Tornister, ein Rucksack. Normalerweise trage ich ihn auf dem Rücken, dafür die Riemen. Ich habe ihn von einem Schuster fertigen lassen, hab’ ihm gesagt, wie er es machen muss. Er ist aus einem Stück Leder geschnitten, die Kanten doppelt genäht. Mit Seide, einem teuren, sehr festen Faden. Und über die Kanten noch ein Lederstreifen, der macht sie wasserdicht.«